Als Victor beschleunigte, erzeugten die Wirbelschleppen hinter seinem elektrischen Porsche ein schauriges Pfeifen. Die Geschwindigkeit, der Wald, der sich als Dach über der Straße schloss, die perfekte Passform seines orthopädischen Schalensitzes – oft fühlte er sich auf dem Weg zur Arbeit, als würde er sterben.
Dabei sah er sich von oben, seine graue Maschine wie ein U-Boot in einem tiefgrünen Meer, ein Schiff der Klasse 212A der ThyssenKrupp Marine Systems zum Beispiel, an der er gerade einen Anteil von 33 % bei der Staatsholding von Katar platziert hatte.
Natürlich war ihm der Porsche peinlich, aber Victor war eine flexible Persönlichkeit. Es handelte sich um einen Firmenwagen, einen Anachronismus im Grunde, auf dem er bei seinem letzten Bankwechsel aber aus Prinzip bestanden hatte – aus Prinzip im umgangssprachlichen Sinne, also nicht einer Überzeugung Folge leistend, sondern da er spontan Lust gehabt hatte, nach einem Porsche zu verlangen, und da in Anbetracht des großen Interesses der Birken Bank an seiner Verpflichtung nur halbherzige Einwände zu erwarten gewesen waren.
Mal abgesehen davon, dass es sich bei seinem Shere Khan, so die Modellbezeichnung, wie bei jedem Porsche mittlerweile, um einen auf Porsche getrimmten Audi handelte, der im Kern wiederum nicht mehr als ein getunter Volkswagen war.
Als einer seiner Kunden, der Chef der Daimler AG, ihm vor kurzem bei einem Lunch die Zielsetzung anvertraut hatte, »Menschen davon träumen zu lassen, sich mit ihrem Auto ausdrücken und ihre Persönlichkeit darstellen zu können«, wäre ihm beinahe ein Bissen Branzino im Hals stecken geblieben. Denn etwas zu wollen mit seinem Auto, erschien Victor als armselig und deprimierend.
Natürlich hätte man ihm seine Wahl der elektrischen Variante als Resultat des Bedürfnisses auslegen können, einen uniformen Individualismus auszuleben – ein Risiko, das Victor durch den Wegfall der schauerlichen Motorsport-Assoziation, den das Fehlen eines brüllenden Triebwerks garantierte, allerdings mehr als aufgewogen sah. Der Shere Khan war in seinen Augen ganz einfach ein Standardprodukt seiner sozioökonomischen Gruppe, das außer seiner Zugehörigkeit zu dieser, die sich ohnehin kaum leugnen ließ, rein gar nichts über ihn aussagte.
Als er beim Fahren in den Wald hineinblickte, musste Victor an die Vergangenheit denken, nicht an seine eigene, sondern an die Vergangenheit im Allgemeinen: Die Stämme an der Fahrbahn verloren im Vorbeifliegen ihre Konturen, während tiefer im Wald stehende als beinahe stationär erschienen, als Angelpunkte, um die sich die Augenblicke der Gegenwart drehten. Es war nicht ungefährlich, hier die Augen von der Straße zu nehmen, in diesen Wäldern hatte es über die Jahre derart viele Unfälle gegeben, dass nun Schilder alle paar Kilometer eine vorsichtige Fahrweise anmahnten. Aber die Jugendlichen der Gegend besiegelten weiterhin ihre Schicksale, indem sie in ihren übermotorisierten Kleinwagen über Kurven hinausschossen, um in der ersten Reihe der kahlen Stämme hängenzubleiben.
Die Beeinträchtigten hausen im Taunus in den Gartengeschossen, in den Einliegerwohnungen. Die Toten liegen auf den idyllischen Friedhöfen begraben, auf denen Mahnmale auf die in Kriegen gefallenen Söhne der Dörfer verweisen und auf denen an Wochenenden Taunusmütter dabei zu beobachten sind, wie sie die Gräber ihrer Kinder gärtnerisch gestalten, in sportlichen Steppjacken, mit einem leichten Zittern in den Fingern.
Victor lebte in Falkenstein, in einem Haus aus Glas aus den 30er Jahren, das in der Nacht wie eine modernistische Lampe wirkte, die am Südhang des Altkönigs auf einem Felsen installiert worden war. Auch im Februar war man darin über dem Nebel. Vom IT-Support der Bank hatte er sich eine App der Apple-Tochter Cribz einrichten lassen, ein Kontrollpaneel für sein Zuhause, sodass er an jedem Ort der Welt Herr über all dessen Systeme war, über die Filteranlage seines Schwimmbeckens wie auch über den Anlasser seines Notstromaggregates.
Wenn ihm in seinem Büro langweilig war, einem Fischtank in Frankfurt im 32. Stockwerk, aus dem der Blick nach Norden bis nach Falkenstein ging, wischte er auf seinem Touchscreen hin und her, um in der Ferne seine große Lampe an- und auszuschalten. Er spielte mit dem Gedanken, das Morsen zu erlernen.
Aus allen Zimmern des Hauses war im Tal die Frankfurter Skyline zu sehen, deren Bohrtürme ihre Meißel in eine Tiefenströmung trieben, in unerschöpfliche, da erfundene Reserven. Der Wohlstand schwappte aus der Stadt, sodass zwischen Frankfurt und Falkenstein die letzten Makel der Nicht-Premiumhaftigkeit verschwanden, die letzten Reste von Armut und Kleinbürgertum, nicht aus den Seelen der Menschen, aber aus dem gesellschaftlichen Gewebe, das man sich am ehesten als eine pastellfarbene Seide hätte vorstellen können.
Er dachte an seine Tochter an diesem Frühlingstag, an die kleine Victoria, die seit der Trennung Victors von ihrer Mutter Antonia jedes zweite Wochenende bei ihm verbrachte. Die beiden hatten begonnen, das Baumhaus einzurichten, das er ihr in seinem Garten hatte bauen lassen, und am Dienstag würde er sie von der Schule abholen und außerplanmäßig mit in den Taunus nehmen, so war es vereinbart, um das Projekt schnell voranzutreiben.
Victor liebte seine Tochter auf die geradezu besessene Weise, auf die Kinder aus den schwindenden bürgerlichen Milieus damals geliebt wurden, und so war sie immer in seinen Gedanken. Während er auf der A66 nun der Innenstadt entgegenraste, dachte er an den langen Aaah-Laut, den Victoria von sich gab, wenn er mit ihr im Shere Khan über Kopfsteinpflaster fuhr, wobei der Laut aufgrund der kurzen Federwege des Sportwagens dann lustig gerüttelt wurde. Er dachte an ihre letzte E-Mail, in der seine Erstklässlerin ihm einen Traum geschildert hatte: Sie sei in »Falschrumland« aufgewacht, wo Nein Ja heiße und Ja Nein, wo die Bösen lieb und die Lieben böse seien.
Wenn Victor sie zurechtwies, aufgrund ihres Widerwillens, sich an die wenigen Regeln zu halten, auf denen er bestand, lenkte Victoria immer scheinheilig ein, um nach effektvoller Pause mit hervorblitzender Zunge ein leises Furzgeräusch zu erzeugen – um eine individuelle Note allgemeinen Disrespekts zu setzen, der ihre Mutter, wie Victor vermutete, geradewegs in den Wahnsinn trieb.
Antonia und er waren vor allem deshalb ein Paar geworden, da Victor sie zum richtigen Zeitpunkt getroffen hatte. Er war in einem Zustand gewesen, in dem er eine Freundin gebraucht hatte, im Sinne einer mit ihm befreundeten Person, einfach irgendeine Form der Nähe, um sich gegen die Depression zur Wehr setzen zu können, die das Resultat seiner damaligen Phase destruktiver Arbeitsbelastung gewesen war – einer finsteren Wolkendecke der Grenzerfahrung, durch die er sich hatte kämpfen müssen, um in das strahlende Licht des Reichtums emporzuschweben.
Sie hatte auf ihn sofort attraktiv, da seltsam unbelastet gewirkt, als ob sie keinen Druck verspürt, als ob sie keine Probleme gehabt hätte. Und sie war interessiert an ihm gewesen, oder zumindest an der Persona, als die er aufgetreten war: Schon in seiner Kindheit hatte er damit begonnen, für die Interaktion mit jedem Gegenüber eine maßgeschneiderte Persona zu entwickeln, die diesem das zeigen sollte, was es erwartete, und das geben, was es wollte, während Victor sich hinter der resultierenden Benutzeroberfläche verborgen halten konnte.
Die beiden hatten sich in der Alten Oper kennengelernt, auf der Sommerparty einer Anwaltskanzlei, als er sich von ihrem Tablett für sich allein immer gleich zwei Gläser Wein genommen hatte. Er hatte sie einfach gefragt, ob sie mal mit ihm essen gehen wollte, und sie hatte gleich Ja gesagt.
Antonia sprach fließend Italienisch – ihr Vater hatte Karriere im Mittelbau der Lufthansa gemacht, sodass sie als Kind in Italien und Kenia gelebt hatte –, und beim Italiener hatte sie daher für die beiden nicht nur auf Italienisch bestellt, sondern mit dem Padrone auch noch das in Deutschland beim Italiener obligatorische Bellissima-Tartufo-Porcini-Va-Bene-Parlando getrieben, was Victor insgeheim als enervierend empfunden hatte. Aber sie hatte ihm auch schöne Geschichten aus Afrika erzählt, von einem Äffchen beispielsweise, das am Morgen immer vor ihrem Fenster gesungen hatte.
Nach der Dorade hatten die beiden sich schon ganz vertraut ein Tiramisu geteilt. Mit den langen Dessertgabeln hatten sie sogar einen neckischen Kampf um die Amaretto-durchweichten Löffelbiskuits ausgetragen. Ihre Beziehung hatte acht Jahre lang gehalten, obwohl sie aus Victors Perspektive nicht auf Dauer angelegt gewesen war, was weniger mit Antonia und mehr damit zu tun gehabt hatte, dass eine Konstante in seinem Leben schon immer das Gefühl gewesen war, sich gerade in einer Übergangsphase zu befinden.
Momentan hatte Victor eine noch kaum definierte Affäre mit seiner Nachbarin Maia. Diese war dünn, ausgemergelt beinahe, mit einem asketischen Jil-Sander-Style und so einer Kunst-und-Kultur-Kurzhaarfrisur. Bei ihrem Anblick konnte man an eine schöne Dissidentin nach einem Monat im Hungerstreik denken. An Spitzhacken im Permafrost, an Uranabbau im Baikalgebirge. An den Holodomor in der Ukraine unter Stalin.
Die sowjetischen Assoziationen hatte Victor möglicherweise deshalb, da er Maia zum ersten Mal in Moskau gesehen hatte, auf seinem iPhone, während einer Besprechung. Sie war durch die Lücke in der Hecke in seinen Garten gekommen, wo sie die Bewegungsmelder und somit die Alert-Funktion seiner Cribz-App aktiviert hatte. Auf seinem Touchscreen hatte er sie dabei beobachten können, wie sie durch seine gläsernen Außenwände sein Interieur begutachtet hatte.
Sie hatte nur ein langes T-Shirt getragen, und Victor hatte sich gefragt, was sie wohl darunter angehabt hatte – nichts? Einen String von La Perla? Einen weißen Baumwollslip wie seine Freundinnen in der Schule damals? Bevor er sich im Detail Maias Irokesen hatte ausmalen können, hatte er mehrfach seine große Lampe an- und ausgeschaltet, woraufhin sie panisch geflohen war und Victor manisch aufgelacht hatte – dies war in einem Meeting mit dem Strategiechef der Gazprom gewesen.
Von Beginn an hatte es zwischen ihnen die unausgesprochene Abmachung gegeben, einander nichts über die eigene Situation zu erzählen, sodass sie am Morgen, wenn Maia übernachtet hatte, da ihr Mann auf Reisen war, über das Zeitgeschehen sprachen, über das, was in der Frankfurter Allgemeinen zu lesen war. Maia zeigte eine Vorliebe dafür, mit der Politik zu beginnen, was Victor zupasskam, da er selber lieber über das Feuilleton einstieg – fuck buddies, eingespielt wie ein Ehepaar.
Wenn Victor ihren Ehemann sah, einen jungen Deutschbanker der alten Schule, musste er jedes Mal an die sorgfältigen Pitches denken, von Historikern kürzlich im Keller der Hauptfiliale Hannover entdeckt, mit denen sich die Deutsche Bank Anfang der 40er Jahre um die Finanzierung verschiedener Bauabschnitte des Vernichtungslagers Auschwitz beworben hatte. Aber Maias Gatte war harmlos, ein Sonderling, so sah es Victor, die Art Mann, der Wälder zur Jagd pachtet und sich in einer Art Förster-Outfit in seiner Freizeit darin auf die Lauer legt, um zur Erholung mit einem Präzisionsgewehr Pelztiere zu exekutieren. Der die Kadaver dann ausweidet, häutet, trocken reifen lässt und schließlich fein häckselt, um aus ihnen delikate dünne Wildbratwürste zu drehen.
Maia war zwölf Jahre jünger als er, und Victor war zu Beginn entsetzt darüber gewesen, was das in seinem Alter für einen Unterschied machte. Natürlich gab es den Mythos vom Mann, der immer attraktiver wurde, und tatsächlich ließen Victor seine grauen Strähnen stimmiger erscheinen. Andererseits war er 39, im Rentenalter für Investmentbanker, und wenn er sich nur für ein paar Wochen gehen ließ, also zu viel soff und zu wenig Zeit auf seinen Mountainbikes verbrachte, machte sich sofort das Verbrauchte an ihm bemerkbar, als Vorbote einer verfrühten Greisenhaftigkeit, möglicherweise als Spätfolge der schon erwähnten Phase der systematischen Überarbeitung, die in Victors Fall erst vor sechs oder sieben Jahren in den relativ entspannten Rhythmus einer kaum noch hinterfragbaren Weisungstätigkeit umgeschlagen war.
Maia hingegen war makellos, trotz Unterernährung, sie benutzte kein Make-up, sondern nur diese obszön teure Crème de la Mer, die im Zuge ihrer Herstellung angeblich mit »La Mer« beschallt wurde, dem Zyklus aus drei symphonischen Skizzen von Debussy, um ihre Moleküle optimal auszurichten und somit ihre Effektivität zu maximieren. Ein Tiegel der Crème kostete daher mehr als tausend Euro, obwohl es sich dabei, so Victors Verdacht, wie auch der Konsens unter den Kollegen, mit denen er über das Thema gesprochen hatte, in Wahrheit um Nivea handelte.
Und dann gab es noch Valezska, eine polnische Masseurin im Spa des Adlon, in dem er wohnte, wenn er beruflich in Berlin zu tun hatte. Er verbrachte dort ganze Nachmittage, er ließ sich im Spa zum Beispiel auch die Haare schneiden, da es dort eine Wäscherin gab, die sich einen gepflegten Achselflaum stehen ließ, sodass Victor während des Waschvorganges in eine flauschige Höhle hinaufblicken konnte. Dies verlieh ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Er hatte auch die Wortwechsel mit der Wäscherin zu schätzen gelernt, einen meditativen Floskel-Verkehr à la:
»Ist die Temperatur angenehm so?«
»Ja, danke.«
»Sie haben schönes Haar, so voll und kräftig.«
»Ihre Haare sind auch schön.«
»Aber Sie sind verspannt, gehen Sie noch zur Massage später?«
»Ja, zu Valezska.«
Als Victor ein Jahr lang deren Kunde gewesen war, hatte Valezska ihn gefragt, ob sie ihm nicht auch »Handentspannung« verschaffen sollte, was für ihn eine Erleichterung bedeutet hatte. Denn für einen heterosexuellen Mann unter dem Alter von 70 Jahren ist es unmöglich, im Zuge des Einölens seines nackten Körpers durch eine attraktive Frau nicht schon zu Beginn von einer aufdringlichen Erektion gepeinigt zu werden – die Valezska mit ihrem freundlichen Angebot nun quasi legitimiert hatte: Victors Erektion auf ihrer Massageliege war fortan salonfähig, ja, für die vereinbarte Transaktion sogar notwendig gewesen.
Er war also offiziell Single, was ihn in der Gesellschaft einer Gegend, deren grüne Hänge fast ausschließlich von Paaren bevölkert waren, zur Anomalie machte. Dies war Victor ebenso klar wie gleichgültig, da er sicher nicht in die Natur gezogen war, um in dieser dann an zivilisatorischen Ritualen teilzunehmen. Er kam allerdings nicht umhin, gelegentlich analytische Beobachtungen zu machen.
Zum Beispiel jene, dass hier oben noch entschlossen geheiratet wurde: Nach dem Ja-Wort absolvierte jedes Paar eine 18-monatige Planungsphase, um dann tagelang seiner Übereinkunft zu Teamwork und Monogamie huldigen zu lassen, auf uralten Rieslingweingütern, mit hundert anderen Paaren als Publikum und ohne einen Gedanken daran, ob diese Form der Selbstfeier im Falle von Menschen, die ja nichts Besonderes waren, keine Personen des öffentlichen Lebens, keine Figuren der Zeitgeschichte, nicht anmaßend und auf beinahe tragische Weise lächerlich erscheinen musste.
In den resultierenden Ehen war eine Sollbruchstelle angelegt, die einerseits auf das weibliche Idealbild der finanziellen Unabhängigkeit und andererseits auf die beneidenswerte ökonomische Lage der Partner zurückzuführen war. Diese wiederum war Resultat eines grundlegenden Paradigmenwechsels im Frankfurter Wohlstandsgefüge, der sich in den Jahren um die Jahrtausendwende vollzogen hatte.
Die beherzte Deregulierung der deutschen Kapitalmärkte, die Victor neben der Inkompetenz auch einer kindlichen Lust der politisch Verantwortlichen geschuldet sah, die Talare der sozialen Marktwirtschaft zu lüften, hatte in der Stadt eine neue Klasse von Angestellten geschaffen, die ungefähr ab ihrem 30. Lebensjahr über eine Million Euro im Jahr bezogen. In Victors Fall kam noch eine jährliche Ausschüttung hinzu, die sich, da er einer von nur drei Partnern der Birken Bank war, im letzten, eher durchschnittlichen Geschäftsjahr auf etwa neun Millionen Euro summiert hatte.
Was ihn dennoch verband mit seiner beruflichen Kohorte, war das Gefühl, mit Leichtigkeit zu Reichtum gelangt zu sein, mit einem absurden Übermaß an Arbeit zwar, aber abgesehen davon wie von ganz allein, sodass ihnen das viele Geld als irreal erschien, was ihrem Wirken im Dienste von Investmentbanken wiederum zuträglich war.
Parallel zu dieser Entwicklung hatten Frauen in ihrem Kampf um totale Gleichberechtigung Schlacht um Schlacht um Schlacht gewonnen und dadurch ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem sie nicht ernst genommen wurden, wenn sie nicht beruflich erfolgreich waren. Es war kaum noch ein intelligenter Mann vorstellbar, der Lust auf eine Hausfrau hatte – von Rollenspielen mit Schürze und Nudelholz einmal abgesehen. Wer sich tatsächlich nach derart antiquierten Strukturen sehnte, würde Victors Einschätzung nach nicht in der Lage sein, auf unorthodox-visionäre Weise auf die Herausforderungen eines sich rapide und radikal transformierenden globalen Wettbewerbsumfeldes zu reagieren.
Und so entstanden Fliehkräfte in diesen Ehen, die als Allianzen autonomer Einheiten angelegt waren, da die Abwesenheit aller Erwerbszwänge die Ehefrauen mit der Versuchung konfrontierte, ihre Männerberufe aufzugeben, um fortan ihren Interessen nachzugehen. Um sich zu emanzipieren vom gesellschaftlichen Zwang, eine Führungsfunktion im Risikomanagement oder im Devisencontrolling auszuüben.
Um endlich etwas Kreatives zu machen – ein Bedürfnis, das Victors Einschätzung zufolge im Hochtaunuskreis in den kommenden Jahren zu einem Boom im Bau und der Vermarktung hochwertiger, aber kompakter Bungalows führen würde, klassischer Erstfrauen-Bungalows in bewaldeten B-Lagen, deren Bewohnerinnen im Heilklima gegen das seelenlose Surren ihrer Töpferscheiben würden antrinken können.
Im Büro vertiefte sich Victor in die Süddeutsche Zeitung, um sich in einen Zustand der Konzentration zu manövrieren. Es war früh am Nachmittag, Maia hatte bei ihm übernachtet, sodass der Morgen sich bis in den Vormittag erstreckt hatte. Auf der Titelseite ging es um eine Studie der Wohltätigkeitsorganisation Oxfam, die zum Ergebnis gekommen war, dass die acht reichsten Menschen der Welt ein höheres Vermögen als die gesamte ärmere Hälfte der Erdenbevölkerung akkumuliert hatten.
Auch in Deutschland, wo sich der Megatrend Ungleichheit vor allem in einer immer rigideren sozialen Undurchlässigkeit manifestierte, waren einer Umfrage des Blattes zufolge über 80 % der Befragten mit der Darstellung einverstanden, dass die Gesellschaft sich auf einen Zustand der »ökonomischen Apartheid« zubewegte.
Victor konnte nicht nachvollziehen, dass es diesbezüglich noch zu keiner radikalen Korrektur gekommen war. Natürlich, im vergangenen Jahrzehnt hatte sich das ganze politische Koordinatensystem nach links verschoben. Aber fundamentale Maßnahmen, etwa die Neuordnung der Eigentumsverhältnisse, waren entgegen seiner Erwartung bisher nicht Teil der Debatte gewesen. Woran mochte das liegen? Wo waren die roten Fahnen, wo waren die Mistgabeln? Warum ölte niemand eine Guillotine?
Auch war ihm nicht klar, warum diese Entwicklung eine solche Ablehnung in ihm hervorrief, denn er zählte zu ihren Profiteuren. Dass er es nicht ertragen konnte, wenn seine Prognosen nicht eintrafen, konnte dabei ja nicht die zentrale Rolle spielen. Seit Mitte der Nullerjahre, seit er begonnen hatte, viel Geld zu verdienen, hatte Victor immer wieder ökonometrische Modelle konstruiert, um zu einer belastbaren Einschätzung davon zu kommen, wie lange das gut gehen würde; wann das ewige Pendel von der Vermögenskonzentration wieder in Richtung der Kollektivierung sausen würde.
Er sah auf die Stadt hinab, in der er aufgewachsen war und die wie immer keinen Eindruck außer dem von Sauberkeit hinterließ. Seine Heimatstadt war zu einer Schmerzensgeld-Shoppingmall degeneriert, einem Trostpflaster dafür, sein Dasein der Mitwirkung an der Organisation und Abwicklung einer fortwährenden finanziellen Umschichtung widmen zu müssen.
Frankfurt war eine Stadt des Bürgertums gewesen, der Journalisten, Verleger, Ärzte, Kaufleute, Politiker, Anwälte, Piloten und Professoren, deren Einkommen in einem nachvollziehbaren Verhältnis zueinander gestanden hatten, wie auch zu jenen der Blaumannträger und, nahm Victor an, zu den Transferbezügen der Ausgestiegenen, die an Vormittagen in zerknitterten Anzügen vor den Trinkhallen an der frischen Luft gestanden hatten, die Rundschau vor sich, eine schöne Flasche Römer Pils in der Hand. Das Bürgertum hatte als Ensemble in den Wirtschaften gesessen, im Gemalten, im Operncafé, beim Claudio oder beim ersten Japaner der Stadt, in einem Gewölbekeller in der Nähe des Goethe-Hauses. An dessen Eingang hatte man die Schuhe aus- und Papierschlappen angezogen, die mit der Silhouette des Fuji bedruckt gewesen waren.
Victor konnte sich noch an das Vergnügen seiner Mutter erinnern, als sein Vater einmal spät nach Hause gekommen war und sich mit verwehtem Scheitel bemüht hatte, seiner Frau für die Teilnahme an einem wohl anlasslosen Sake-Gelage an einem Wochentag ein legitim klingendes Alibi aufzutischen – ein langes Konferenztelefonat, ein paar Gläser Sancerre dabei, Probleme mit der Handelstochter in Chicago, etwas in dieser Art. Dummerweise hatte er aber, ohne dies zu merken, die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung durch das Tragen von papiernen Fuji-Schlappen untergraben.
Für Victor als Teenager war Frankfurt ein Abenteuerspielplatz gewesen, eine ungefährliche Stadt mit einem völlig enthemmten Nachtleben. Er hatte viel Zeit im Omen verbracht, wo die Hälfte der Gäste grundsätzlich vor den Waschräumen Schlange gestanden hatte, und im Maxim im Bahnhofsviertel, wo eine ausrangierte Dirne morgens um sechs immer mit einer Platte ekelerregender Brötchen die Runde gemacht hatte, die mit einer grau-violett changierenden Leichenwurst belegt gewesen waren.
Das Schlimmste, was einem hatte passieren können damals, war ein Tritt ins Gesicht durch den No-Name-Turnschuh eines halbstarken Kickboxers gewesen, eines Türken oder Marokkaners. Dieser hatte es in der Regel auf eine Chevignon-Jacke abgesehen, eine der mit Fellbesatz veredelten Bomberjacken, die unter Frankfurter Bürgerkindern damals der Standard gewesen waren und die sich der Nachwuchs-Kriminelle niemals hätte leisten können.
»Ey Alter, krasse Jacke«, hatte man also gehört, auf dem Heimweg, im Morgengrauen. »Isch will mal anprobieren.«
»Nee, lass mal gut sein.«
»Ey Alter, bleib stehen, isch will nur anprobieren!«
»Nee, jetzt lass mich mal.«
»Was?«
»Wie bitte?«
»Was hast du gesagt?«
»Was?«
»Du hast meine Mutter gefickt?«
»Wie bitte?«
Dann verlor man eben eine seiner Jacken oder einen seiner Zähne, hatte wegen der Betäubungsmittel aber keine Beschwerden.
Frankfurt war eine Stadt des Widerstandes gewesen, der Sympathisanten, Säufer, Junkies, Hausbesetzer, Stricher, Bombenleger, Schriftsteller, Punks und Jazzkneipengänger, die Befehlsempfängern gewichen waren, lebensängstlichen Untertanen, deren Vorgabe es war, die Wirklichkeit in Zahlen zu übersetzen, um sich mit der daraus resultierenden Finanzkraft von sich selbst ablenken zu können. Um es sich schön zu machen. Der gute Wein. Die Patek Philippe. Das schwere Teakholzmobiliar auf der Dachterrasse. Dior-Duftkerzen. Die Malediven.
Die Birken Bank, die auf M&A spezialisiert war, Mergers & Acquisitions, also Fusionen und Übernahmen, residierte auf den obersten Stockwerken des sogenannten Silberturmes, der jahrzehntelang der Dresdner Bank als Zentrale gedient hatte, bis diese ihren fehlgeleiteten M&A-Strategien zum Opfer gefallen war. Aus seinem schalldichten Glaskasten blickte Victor auf eine offene Etage, deren Layout ihn an ein Straflager erinnerte, als seien die zu versetzten Clustern arrangierten Schreibtische flache Betonbauten oder provisorische Holzbaracken.
Bei seinem Eintritt in die Bank hatte Victor den Entschluss gefasst, keine Empathie für seine Untergebenen zu entwickeln, die als Studenten dem vermessenen Irrtum aufgesessen waren, als Investmentbanker eine gesunde sogenannte Work-Life-Balance erwarten zu können. Einen Arbeitgeber, der ernst nehme, dass der Sinn der Arbeit das Leben sei. Dass Leistung immer mit Erholung und Ausgleich Hand in Hand gehe.
Seit einigen Jahren war in Vorstellungsgesprächen von der Spiritualität die Rede, vom Schwäche-Zeigen, vom Loslassen-Können, was Victor und seine Partner mit verbindlichen Mienen überhörten, bevor sie die Kandidaten ins Surf & Turf ausführten, wo es ein Côte de Boeuf für zwei für 186 Euro gab, ohne Beilagen. Denn beim Recruiting zeigte man den Kandidaten eine Sphäre der Harmonie und der Verfeinerung, von umsichtigen Anführern gesteuert, die man sich auch super als einfühlsame Mentoren vorstellen konnte.
Nach ihrer Unterschrift zeigte man den Rekruten das Straflager. Dies führte in der Regel zu einem Schockzustand, aber nur selten zu einer Kündigung, da die jungen Hoffnungsträger mit ihren makellosen Lebensläufen auf privaten Wirtschaftsakademien dazu konditioniert worden waren, um jeden Preis eine frühe Niederlage zu vermeiden. Es war für sie nicht diskutabel, als Versager dazustehen. Hinzu kam das Vorbild ihrer ein oder zwei Jahre älteren neuen Kollegen, die eine Art Versehrtheit in Würde ausstrahlten, einen von Illusionen befreiten Stoizismus, den viele der Neuzugänge dankbar als vorgefertigtes Lebensgefühl übernahmen. Etwaige Restwiderstände wurden von der Birken Bank identifiziert, analysiert und durch individuell maßgeschneiderte monetäre Anreize neutralisiert – für die Begünstigten oft eine demütigende Erfahrung.
Finanziell wäre ohne weiteres möglich gewesen, die Zahl der Häftlinge zu erhöhen, um ihr Arbeitspensum zu senken, aber Victor war dagegen. Ihm war an einer klaren Rollenverteilung gelegen, und die Rolle des Investmentbankers in den ersten Berufsjahren war es nun mal, und war es seit Erfindung der Branche immer gewesen, sich mit den Grenzen seiner physischen Kapazitäten vertraut zu machen. Der Lebensrhythmus des jungen Investmentbankers war der sogenannte magische Kreisverkehr: Er fuhr bei Sonnenaufgang mit dem Taxi nach Hause, ließ es warten, während er duschte, um sich dann wieder in die Bank fahren zu lassen.
Victor sah keine Notwendigkeit, hier eine Abkehr vom überlieferten Protokoll zu vollziehen. Er hatte immer nur für Investmentbanken gearbeitet und nun, da er seine eigene Investmentbank hatte, wollte er eine nach klassischem Schema. Er war nicht pervers, es machte ihm keine Freude, seine Mitarbeiter zu schinden. Aber er hatte auch kein Interesse daran, sich diesbezüglich kontrovers zu positionieren. Es gab Dinge, die konnte man tun oder lassen, so sah es Victor, aber an denen konnte man nicht nach Belieben herummodifizieren.
Die klare Rollenverteilung erlaubte ihm zudem eine effiziente Kommunikation und Führung, ohne den Unterhalt einer Vielzahl zwischenmenschlicher Beziehungen notwendig zu machen. Die Pflege der persönlichen Ebene mit seinen Partnern Julia und Baldur raubte Victor ohnehin schon einen Teil seiner Kraft. Julia saß in ihrem Glaskasten an der Südflanke der Etage, und während Victor sie nun beim Telefonieren beobachtete, sah er hinter ihr einen der Bussarde hinabstürzen, die auf dem Dach des Silberturmes nisteten.
Er kannte Julia seit 16 Jahren. Sie war zweimal seine direkte Vorgesetzte gewesen, erst bei Credit Suisse First Boston und dann bei UBS Warburg, den angelsächsischen Investmentbanking-Töchtern zweier Schweizer Großbanken, denen es nach ihren Akquisitionen dieser wie einem Bergsee ergangen war, in dem man eine invasive Spezies von paarungsfreudigen Raubfischen ausgesetzt hatte.
So verband die beiden ein gewachsenes Vertrauen ineinander, was im Investmentbanking eher selten war. Ein einziges Mal hatten sie sogar miteinander geschlafen, in einer Nacht im Winter im Dampfbad im Wellnessbereich des Credit Suisse Tower in den damals noch desolaten Londoner Docklands, über den Eisschollen auf den schwarzen Fluten der Themse, was aber nicht zählte, da sie beide zu dem Zeitpunkt fünf Tage lang wach und der Vorfall daher möglicherweise eine telepathische Halluzination gewesen war.
Als Julia bemerkte, dass er in ihre Richtung blickte, lächelte sie einladend. Victor entschloss sich, die Geste zu ignorieren. Aus der Entfernung konnte sie seine Augen nicht sehen, sodass sie nicht sicher sein konnte, ob sein Blick auf sie gerichtet gewesen war. Außerdem dachte sie, dass er kurzsichtig wurde, sich aber noch keine Brille hatte machen lassen – eine Lüge, die er ihr erzählt hatte, um zu einem gemeinsamen Termin in Frankreich nicht den gemieteten Diesel-Citroën steuern zu müssen. Um auf dem Beifahrersitz stattdessen ein Schläfchen halten zu können.
Bei der Birken Bank war Victor für coverage zuständig, Baldur für execution und Julia für operations, was bedeutete: Victor schaffte die Mandate heran, Baldur führte die Transaktionen durch und Julia dirigierte das Zusammenspiel der dazu notwendigen Ressourcen – sie hatte die Bank am Reißbrett entworfen und Freude daran, ihren eleganten Apparat immer weiter zu optimieren.
Victor war zuletzt Head of German Investment Banking bei der UBS gewesen, mit einem Angebot zum Wechsel zu Morgan Stanley und dem geheimen Vorhaben, sich mit 40 Jahren zur Ruhe zu setzen. Er hatte 102 Wohnungen in Berlin erworben, in Gründerzeithäusern am Luisenstädtischen Friedhof, mit einem Blick über Mausoleen auf die Hangarbauten des Flughafens Tempelhof in naher Ferne.
Eine der Wohnungen hatte er sich als Versteck reserviert, als Teil einer alternativen Realität, in der er auf dem Boden auf einer Matratze schlief und sich mit seinem Studienfreund Ali Osman im Bierhaus Urban traf, um Unsinn zu reden und sich in aller Ruhe mit Engelhardt und Jägermeister zu betrinken. Er hatte sich auf dieser parallelen Ebene sogar schon eine letzte Ruhestätte gesichert, vis-à-vis dem Ehrengrabe von Reichskanzler Stresemann.
Einen weiteren Vermögenssprung hatte Victor demnach nicht zwingend nötig gehabt, sodass Julia ihn nur mit Mühe davon hatte überzeugen können, zu glänzenden Konditionen nicht nur Partner und Gesellschafter, sondern auch der »intellektuelle Motor« der Birken Bank zu werden.
Baldur hingegen hatte lange bei Goldman Sachs gearbeitet, sodass er nach außen hin Arroganz und intern soldatische Loyalität ausstrahlte. Er hatte Victor konsequent als Orientierungspunkt verinnerlicht, sodass zwischen den beiden eine reibungslose Zusammenarbeit möglich war. In Baldurs Augen war Victors Part der Kundenakquise und -hypnose der genialisch-kreative, und solange Victor die Bank weiterhin mit so vielen Aufträgen flutete, dass die Kapazitätsnadeln der execution teams in den roten Bereich hineinflimmerten, solange Victor also diese erfreulich hohen Ausschüttungen garantierte, war Baldur dazu bereit, sich ihm klaglos unterzuordnen – etwaige eigene Herrschaftsfantasien konnte er ja nach Belieben anhand seiner Bataillone aus Rechensklaven durchexerzieren.
Für den folgenden Mittwoch war ein vierteljährliches Partners’ Meeting angesetzt, in dem Victor seinen Kollegen die strategische Pitch-Offensive präsentieren würde, mit der er plante, den deal flow der Bank vor dem Hintergrund rückläufiger M&A-Volumina nachhaltig zu stabilisieren. Was aber ohne Zweifel ebenfalls zur Sprache kommen würde, war Julias Unzufriedenheit mit seiner Verweigerung jeder Mitwirkung an administrativen Belangen, über die sie sich schon mehrfach in Rage geredet hatte. Das mit dem Recruiting hatte er eingesehen, das konnte er gut, da brachte er sich jetzt ein. Aber damit sah Victor seine Schuldigkeit als getan. Warum sollte er sich involvieren? Musste Julia wirklich »immer alles« machen, wie sie lamentierte? Wozu beschäftigten sie dann einen ausgelagerten Schwarm an anonymen Backoffice-Arbeitsbienen?
Tatsache war: Das Administrative fiel direkt in Julias Zuständigkeitsbereich. Wenn fortan sie die Mandate einholen wollte: bitte. Dann hätte er auch Kapazitäten, um sich in die Feinjustierung der neuen Reisekostendirektive zu vertiefen. Victor hatte die Vermutung, dass ihr Problem mit ihm im Kern von etwas anderem, etwas Emotionalem lebte. Obwohl sie ihm stets mit einem Lächeln begegnete, hatte er den Verdacht, dass Julia im Grunde immer, also ununterbrochen, sauer auf ihn war.
Auf Victors Schreibtisch lag seit Tagen ein Stapel gebundener Dokumente, in denen alle für seinen Pitch am Montag im Berliner Finanzministerium relevanten Informationen enthalten waren: Analysen aller Akteure inklusive psychologischer Profile, Dossiers zu Konflikten und Kompetenzrangeleien, juristische Machbarkeitsstudien, Daten zur momentan erbaulichen Kassenlage des deutschen Staates sowie zu Rentabilität und Auslastung der riesigen Pumpspeicherkraftwerke in Baden-Württemberg, die im Zentrum seiner strategischen Überlegungen standen.
Natürlich schrieben Partner keine Pitches, das erledigten kleine Teams aus Galeerensklaven nach monologischer Anweisung in 48-Stunden-Schichten, aber dieser spezifische war ein potentiell transformativer für die Birken Bank, wie auch für die Bundesrepublik, sodass Victor die Notwendigkeit sah, hier persönlich eine gewisse Perfektion zu garantieren. Zudem pflegte er seine Eigenheiten in dieser Hinsicht, da er den schnellen Aufstieg zu Beginn seiner Laufbahn vor allem dem Schreiben zu verdanken gehabt hatte.
Schon in seinem ersten Jahr bei Credit Suisse in London war es mehrfach vorgekommen, dass ein Managing Director auf das Galeerendeck getreten war, um dem Autor der fulminanten Präsentation, mit der er einen Kunden gerade regelrecht weggeblasen hatte, einen dessen furioser Performance angemessenen Bonus in Aussicht zu stellen. Der Vice Chairman der Bank, ein schnöseliger Brite, hatte in einer Rundmail sogar einmal die Frage gestellt, warum das schönste Englisch in der Global M&A Group ausgerechnet aus der Tastatur eines Deutschen hervorgehe.
Die Inspiration zu seinem aktuellen Pitch war Victor beim Verspeisen einer Maultasche gekommen. Am Rande des Hotzenwaldes, im Schatten des Feldberges, am Ufer des Schluchsees, bei dem es sich nicht um einen herkömmlichen See, sondern um das Staubecken eines Pumpspeicherkraftwerkes handelte, das über gewaltige Druckstollen mit dem 600 Meter tiefer fließenden Rhein verbunden war.
In Phasen geringer Stromnachfrage, also in der Nacht oder am Wochenende, verwendet die Anlage überschüssige und daher billige Energie, etwa den Output konstant unter Volllast laufender Atom- oder Kohlekraftwerke, um Wasser aus dem Rhein durch die Stollen in den Schluchsee hinaufzupumpen und dort zu speichern. In Phasen starker Nachfrage lässt die Anlage das Wasser dann durch andere Stollen auf Turbinen hinabströmen, die Generatoren antreiben, die Strom erzeugen, der zu hohen Preisen in das Netz eingespeist wird, um die Spitzenlast zu decken und der Industrie in Deutschland Versorgungssicherheit zu garantieren.
Die Bissen der Maultasche hatte Victor mit Schlucken der örtlichen Scheurebe hinuntergespült, auf der Terrasse einer Wirtschaft unweit des Jagdhofes des Vorstandes der Energie Baden-Württemberg, in dem er zuvor einen Pitch des klassischen Genres »Strategische Optionen« gehalten hatte. Dessen Funktion ist es, die kindlichen Eroberungsfantasien, die durch die Wachträume von Unternehmenslenkern geistern, wie Schemen goldener Fische unter gefrorenen Oberflächen, zu erspüren, einer Analyse zu unterziehen und ihren Urhebern dann als strategisch sinnvoll zu präsentieren.
Im Normalfall handelt es sich bei Pitches des Genres demnach um eher fröhliche Dokumente, die den Vorstandsvorsitzenden mit ausgefeilten Einsatzplänen für unprovozierte Attacken gegen Wettbewerber auf dumme Gedanken bringen sollen. Da die Energie Baden-Württemberg seit dem spontanen Entschluss der Kanzlerin zum Atomausstieg jedoch in einer Abwärtsspirale rotierte, hatte Victor die strategischen Optionen des drittgrößten deutschen Energieversorgers auf diverse Modi der Zerschlagung oder der radikalen Verkleinerung reduziert gesehen.
Der Nachmittag am Ufer des Staubeckens hatte Victor die Einsicht um die Ähnlichkeit der Funktionsweise dieser Anlagen mit jener der M&A-Branche zugetragen, die ihre heutige Gestalt im Laufe der 80er Jahre angenommen hatte. Der Unterschied war im Grunde nur, dass Victor und seine Artgenossen nicht erst beim Leeren, sondern schon beim Anfüllen des Beckens Kasse machten.
Dies hatte sich folgendermaßen ergeben: In den 80er Jahren hatte der Glaube an das Konglomerat geherrscht, sodass Konzerne aus Gründen der Risikostreuung auf einer Vielzahl von disparaten Geschäftsfeldern tätig gewesen waren. Die aufstrebenden M&A-Sparten der Investmentbanken hatten diese Entwicklung befeuert und ihre Kunden zu einer immer größeren Anzahl an Übernahmen animiert, bis die Konzerne zu überfrachteten und kaum noch steuerbaren Gemischtwarenläden geworden waren – bis das Staubecken demnach bis zum Rande mit potentiellen Veräußerungserlösen gefüllt gewesen war.
Um die Druckstollen zu öffnen, hatten Investmentbanken dann die neue Glaubenslehre vom »Fokus auf das Kerngeschäft« erfunden. Nur die Besinnung auf das Wesentliche, die Konzentration auf das stärkste Geschäftsfeld, so deren zentrale These, erlaube es Unternehmen, auf diesem auch im globalen Kontext die kritische Masse zu erreichen und somit längerfristig überlebensfähig zu sein. Die Voraussetzung für einen hohen Börsenwert war fortan daher gewesen, alle anderen Geschäftsfelder abzustoßen und mit dem Erlös dieser Transaktionen Zukäufe zu tätigen, von M&A-Beratern bei jedem Schritt honorarpflichtig begleitet, um auf dem erklärten Kerngeschäftsfeld rapides Wachstum zu forcieren.
Nun war der Zyklus an seinem Ende angekommen, und da der M&A-Bereich im internen Relevanzgefüge großer Investmentbanken gegenüber den Bereichen Finanzprodukte und Handel ins Hintertreffen geraten war, hatte ihm die kollektive Energie gefehlt, um abermals eine Glaubenslehre zu erfinden und durchzusetzen. Wie generell in westlichen Gesellschaften herrschte auch auf dem M&A-Markt eine Art postideologische Leere. Anders als für Gesellschaften war dies für Investmentbanken allerdings kein philosophisches Problem, da sich für deren bisherige Glaubenslehren, deren Thesen nicht bewiesen werden konnten, exakt gleichermaßen überzeugend argumentieren ließ, sodass alle auf diese zurückgehenden Vorgänge fundamental sinnlos gewesen waren.
Das Problem war ein konkretes: Ebenso wie Pumpspeicher in Kombination mit nicht regelbaren Energiequellen – dem Wind oder der Sonne etwa – eine gleichmäßigere Auslastung der Stromnetze garantieren, hatte die Abfolge der Glaubenslehren einen stabilisierenden Effekt auf den Flow von M&A-Honoraren gehabt, deren Höhe und Frequenz ansonsten von diversen Faktoren abhängen, die sich außerhalb der unmittelbaren Kontrollsphäre der M&A-Branche befinden.
Sicher würde ab und zu noch ein weißer Wal vorbeischwimmen, sicher würde es M&A-Bankern gelegentlich noch gelingen, Vorstände großer Konzerne zu Angriffen auf die Konkurrenz anzustiften, doch Schwärme aus Bücklingen, die ihnen automatisch in ihre Schleppnetze schwimmen, also einen berechenbaren Fluss aus willkürlichen Veränderungen industrieller Eigentumsverhältnisse, so Victors Analyse, das würde es nicht mehr geben.
Die Flasche der Scheurebe war zur Neige gegangen, auch der Pegel des Schluchsees war dabei gesunken, möglicherweise, da beim Daimler nach der Mittagspause wieder die Bänder angeworfen worden waren. Die Kreuze der Kirchtürme der beim Anstauen des Beckens versunkenen Dörfer waren zum Vorschein gekommen. Auf der Terrasse am Ufer hatte in Victors Kopf die Idee einer strategischen Pitch-Offensive Form angenommen, die er in seinem Büro nun, nachdem er die Süddeutsche beiseite- und die Füße auf seinen Barwagen hochgelegt hatte, noch einmal Revue passieren ließ.
Die Zielsetzung musste also sein, den Zyklus wieder in Gang zu bringen. Sich ohne strukturelle Wettbewerbsvorteile einfach dem gegebenen Umfeld zu stellen, erschien Victor als unattraktiv. Es würde darum gehen müssen, einen neuen Pumpspeicher zum Anfüllen zu finden – idealerweise einen spezialisierten kleineren, über den die Birken Bank aber ein größeres Maß an Kontrolle würde ausüben können.
An diesem Punkt war der Gedanke hilfreich, dass kein Mensch nachvollziehen konnte, weshalb sich deutsche Pumpspeicherkraftwerke, also sicherheitsrelevante Infrastrukturanlagen, in den spekulativen Portfolios irrlichternder Texaner befanden. Gut, da Victor die Energie Baden-Württemberg im vergangenen Jahr bei der Veräußerung des Schluchseewerkes an die Cojones Capital aus Dallas beraten hatte. Aber es war ja nicht so, dass dies als zweckdienlich erschien.
Wenn man sich mal einen Standpunkt erlaubte, sollte sich eine solche Anlage, wenn sie in Deutschland arbeitete und somit der deutschen Bevölkerung zu dienen hatte, auch im Besitz der Bundesrepublik befinden. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die Energiewende die volkswirtschaftliche Relevanz der Pumpspeicher stetig erhöhte, während sie gleichzeitig deren betriebswirtschaftliche Tragfähigkeit dahinschmelzen ließ.
Dies lag daran, dass die Abschaltung der Atomkraftwerke, denen der hohe nächtliche Überschuss zu verdanken gewesen war, und das steigende Volumen der subventionierten Sonnenenergie am Tage die Fluktuationen in den Strompreisen nivellierten, deren Spanne wiederum Basis der Marge der Pumpspeicher gewesen war. Bei objektiver Betrachtung lag hier eine geradezu klassische Situation vor, so Victors Analyse, in der die ausgleichende Hand des Staates gefordert war.
Es würde darum gehen, die halluzinogene Kraft aufzubringen, um sich ein Staubecken auf dem Dach des Bundesfinanzministeriums vorstellen zu können. Platz war dort genug, da Göring den Bau als Reichsluftfahrtministerium in Auftrag gegeben hatte, mit der Vorgabe, auf dessen Dach seine Junkers G38 starten und landen zu können.
Natürlich konnte Victor schon das übliche FDP-Gelaber hören, dem zufolge Verstaatlichungen geradewegs in den Gulag führten, die larmoyante Klage über die staatsgläubige Dekadenz einer Vollkasko-Gesellschaft, deren soziale Wärme jeden Impuls zum hedonistischen Individualismus narkotisiere. Als intelligentem Menschen fiel es ihm jedoch schwer, aus einem Mindestmaß an demokratischer Kontrolle über die Volkswirtschaft die Diagnose abzuleiten, dass der Ehrgeiz des Unternehmers drohte, vom Schlendrian einer neidzerfressenen Bürokratie erstickt zu werden, was zwangsläufig zu einer DDR light führen würde.
Ließ ein derartiges Misstrauen in das Gemeinwesen nicht eine undemokratische, ja, asoziale Gesinnung erahnen? Wenn man den liberalen Traum von der Erlösung des Einzelnen durch die Schwächung des Staates tatsächlich ernst nähme, so sah es Victor, müsste man konsequenterweise zum Beispiel auch für die Privatisierung aller deutschen Haftanstalten agitieren, für eine freie Auktion, in der sich dann ein chinesischer Staatsfonds durchsetzen würde, nicht nur aufgrund dessen grenzenloser Finanzkraft, sondern vor allem aufgrund der operativen Expertise der chinesischen Regierung im Betrieb von Internierungs-, Umerziehungs-, Gefangenen-, Sammel-, Straf-, Todes-, Organernte- und Vernichtungslagern.
Anstatt also das Lamento von Deutschland als marodem Umverteilungs-Streichelzoo anzustimmen, würde es darum gehen müssen, die Bundesrepublik, deren Steuereinnahmen immer noch sprudelten, als Unternehmerin zu positionieren, in einer ganzen Reihe von Sektoren, vor allem aber in der Strombranche, in Anbetracht der paradigmatischen Verwerfungen infolge der Energiewende, um die Neuordnung der Infrastruktur des weltführenden Industriestandortes Deutschland nicht dem ungeordneten Konflikt finanzieller Einzelinteressen zu überlassen.
In Victors Pitch am Montag würde es allerdings nur um einen ersten Schritt in diese Richtung gehen, nämlich darum, eine risikolose Teaser-Transaktion durchzuführen, um mit dieser Signalwirkung zu entfalten. Den Minister davon zu überzeugen, einen politischen Präzedenzfall zu schaffen, mit dem er sich nicht nur als im Sinne der Sicherheit und des Wohlstandes der deutschen Bürger handelnd würde profilieren, sondern auch dem zuständigen Bundeswirtschaftsministerium die Federführung bei der Energiewende würde aus der Hand nehmen können.
Hierzu empfahl sich natürlich die Verstaatlichung der Pumpspeicher aus dem Portfolio der bereits erwähnten Cojones, zumal diese offenbar in eine Schieflage geraten waren: Erst vor kurzem hatte deren 26-jähriger Seniorpartner in einer Mail an Victor sein Interesse daran bekräftigt, das in Gestalt der Anlagen im Hotzenwalde gebundene Kapital des Fonds so schnell wie möglich wieder flüssig zu machen.
Den neuen Finanzminister, einen ehemaligen Staatssekretär, kannte Victor seit vielen Jahren, von wiederholten gescheiterten Versuchen im Dienste verschiedener Banken, die Deutsche Bahn zu privatisieren. Obwohl schlank und sportlich, war der Minister ein weicher Mann, weiches Gesicht, weiche Hände, der in seinem Inneren nun aber einen harten und entschlossenen Kern entdeckt zu haben glaubte. Wenn er in einem seiner insgesamt drei Zegna-Anzüge steckte, wenn er sich in seinem A8-Panzer durch den Metropolenverkehr und vor seinen persönlichen Aufzug in der Tiefgarage seines gewaltigen Ministeriums chauffieren ließ, dann sah er sich als die Art Mann, der Resultate sehen will – welche Resultate, so vermutete Victor, war dabei allerdings weitgehend egal.
Es handelte sich um einen Politiker, der sich neu erfunden hatte, der sich von Spezi und Bifi zu Pinot grigio und Vitello tonnato aufgeschwungen hatte, von der groben Mettwurst zur feinen Salsiccia, der den Bürstenhaarschnitt, die Eintopfwampe, praktische Mehrzweckjacken mit zahllosen Klettverschluss-Taschen sowie die deprimierende Heimatregion hinter sich gelassen hatte, um den Schritt zum polyglotten Kosmopoliten zu wagen und sich auf diesem Wege für eine tragende Rolle zu empfehlen.
Um seine immer noch Bratensaft schwitzende Union an das urbane Geschmacksbürgertum anschlussfähig zu machen. Um durch eine Punktlandung in Sachen personal branding pointiert die Positionen seiner Partei zu präzisieren. Um das Konservative auch für Nicht-Konservative attraktiv zu machen, um sich prinzipientreu und flexibel an die pluralistische Dynamik der digitalisierten Gegenwart anzupassen. Um mit seinem frischen Style eine Brücke zu Frauen zu schlagen, zu modebewussten Migranten und Homosexuellen, um also ein Stück weit in Terra incognita vorzudringen und dabei eine proaktive Wertedebatte zu entfachen.
Und nicht zuletzt, um auf dem gesellschaftlichen Parkett mit den charismatischen Kindern aus privilegierten Elternhäusern gleichzuziehen, die ihn auf dem Gymnasium, obwohl er doch stellvertretender Vorsitzender der Schüler-Union gewesen war, nie auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt hatten.
Im Meeting am Montag würde es daher weniger um inhaltliche Fragen, sondern vor allem darum gehen, die Komplexe und Neurosen des Ministers schnell zu durchdringen, um mit diesem Herrschaftswissen dann in einem Irrgarten aus Statusfragen zu navigieren. Die Kunst würde sein, dem Beamten den Sieg zu lassen, den seine Ernennung zum Minister bedeutete, anlässlich derer eine herablassende Presse ihn im Vorbeigehen als »Verlegenheitslösung« gebrandmarkt hatte.
Als Staatssekretär war er Victor mit serviler Bewunderung begegnet, die dem Strudel aus Assoziationen geschuldet gewesen war, die eine herkömmliche Verwaltungskraft in Anwesenheit einer gewissen Kategorie von Investmentbankern übermannten, deren individuelle Entfaltung nicht durch eine karge Besoldungsgruppe eingehegt, sondern durch einen atlantischen Bonus-Pool befeuert wurde.
Am Montag würde daher von entscheidender Bedeutung sein, seinen Bewunderer nicht mehr zu übertrumpfen, sich ihm natürlich auch nicht unterzuordnen, was selbst Victor nicht glaubhaft hätte darstellen können, sondern ihm scheinbar respektvoll auf Augenhöhe zu begegnen. Ihm mit komplizenhaftem Habitus – wenn auch ohne jedes offizielle Mandat hierzu – seine Ankunft auf der deutschen Alpha-Ebene zu beglaubigen.
Auch diese Geste würde der Minister durchschauen, seinem durch unzählige Demütigungen geschärften sozialen Sensorium sei Dank, einer paranoiden Cleverness, die der rattengleichen Resilienz des kleinwüchsigen Beamten zugrunde lag. Aber ihn würde mit Rührung erfüllen, mit Dankbarkeit wohl sogar, dass Victor die Größe zeigen würde, ihn nicht als Minister noch spüren zu lassen, dass sich am Delta zwischen ihnen auf fundamentaler, animalischer Ebene in Wahrheit gar nichts geändert hatte.
Der Pitch würde in diesem Kontext nur eine Nebensache sein, eine unaufdringliche Selbstverständlichkeit, da wenn zwei Männer ihres Kalibers aufeinandertrafen, nebenher natürlich auch ein schnelles Geschäft gemacht werden musste. Es würde darum gehen, die Transaktion mit der Cojones bei objektiver Betrachtung als so eindeutig sinnvoll erscheinen zu lassen, dass dem Minister ein Absehen von der Mandatierung der Birken Bank vor Victor peinlich wäre.
Er wusste genau, wie er das machen würde, aber auch, dass wieder nicht der Tag war, um seine Argumentation endlich niederzuschreiben. Natürlich wäre Victor zu jedem Zeitpunkt in der Lage gewesen, ein Pflichtprogramm zu absolvieren, aber er spürte, dass ihm gerade das innere Momentum fehlte, um seine Sprache mit Überzeugungskraft aufzuladen. Er spürte einen Zweifel, eine Arrhythmie. Er blickte mit einer leichten Depression hinaus auf seine Galeerensklaven.
All das war natürlich auf die drei Flaschen Brauneberger Juffer Sonnenuhr zurückzuführen, die er am Vorabend mit Maia geleert hatte, ebenso wie die Gier nach Sättigung, die ihn nun am Kragen packte: In ihn fuhr das Verlangen nach einer Schüssel Pasta alla Carbonara, aber nicht nach deren authentischer Version, in der Puristen nur Eigelb, Backenspeck, Pecorino romano und schwarzen Pfeffer duldeten, nein: Wenn er ehrlich war, dann gelüstete ihn nach einer triefenden Sahnepasta nach der Art, wie man sie in der Frankfurter Innenstadt nur noch bei Vapiano vorgesetzt bekam – nach einer Einheit dampfender Kohlehydrate, die von geschmolzenem Industrieflockenkäse zusammengehalten wurde.
Natürlich schämte sich Victor dafür, dass er Lust auf die Proletenversion einer Speise hatte, die ja als Destillat eines Augenblickes der Weltgeschichte zu sehen war – nämlich der alchemistischen Verbindung der Eipulver- und Bacon-Rationen der GIs mit den Kochkünsten der Italienerinnen im Rom der ersten Nachkriegsjahre. Andererseits, so sah es Victor, war der Fetisch der Gegenwart für Authentizität auch nicht mehr als eine Modeerscheinung.
Auf seinem Weg zu den Aufzugbänken blickte er hinab in die Gesichter seiner Mitarbeiter, die so fokussiert auf ihre Zielerfüllung waren, dass sie nicht zu ihm aufblickten. Es waren bleiche Gesichter, meist unter schütterem Haar, was auf die ununterbrochene Bestrahlung mit Neonlicht zurückzuführen war, das jungen Männern schnell eine Glatze brannte, während es dem Haar junger Frauen Lebendigkeit und Volumen nahm, sodass sich seine Mitarbeiterinnen in der Regel für eine unambitionierte und pflegeleichte Frisur entschieden. In seinem Büro hatte Victor die Röhren herausdrehen lassen, aber hier, auf der offenen Etage, kam es ihm vor, als ob das Straflager in einer Wüste gelegen wäre, über der auch in der Nacht eine toxische Sonne die Lufthoheit hatte.
Niemand war gezwungen, bei der Birken Bank zu arbeiten, und doch konnte sich auch nach dem Schock der ersten Phase nur selten jemand zu einer Kündigung durchringen. Die nahezu hundertprozentige Loyalitätsrate unter den Rekruten lag deutlich über jenen in den von Baldur vor Beginn des Projekts entwickelten Szenarien. Dies war für Victor nicht vollends nachvollziehbar. OK, das Geld. Auch Sozialprestige spielte eine Rolle, aber keine entscheidende. Natürlich gab es im Investmentbanking, wie in jeder anderen Branche, einen gewissen Prozentsatz an fanatischen Überzeugungstätern, aber die Partner waren geschult darin, diese schon an ihren Anschreiben zu erkennen und auszusortieren.
Julia zufolge war der kuriose Kadavergehorsam auf eine Spielart des Stockholm-Syndroms zurückzuführen: Die traumatisierten Lagerinsassen projizierten positive und sogar bewundernswerte Eigenschaften auf ihre Peiniger, um ihre Einwilligung in den eigenen maximalen Kontrollverlust vor sich selbst rechtfertigen und das willkürliche Reglement als legitim akzeptieren zu können.
Victor lief in die Taunusanlage hinein, den kleinen Park am Fuße der Zwillingstürme der Deutschen Bank, der zu seinen Schulzeiten eine unabhängige Junkie-Republik gewesen war, der die Jugendberatung, die Fixerstuben, die Methadonvergabestellen und die therapeutischen Wohnangebote Anfang der 90er das Wasser abgegraben hatten.
Wie die Zutaten für die Carbonara war auch der Junkie-Lifestyle mit dem amerikanischen Soldaten nach Europa gekommen, der seine Einsätze in Asien nur mit Hilfsmitteln zur seelischen Abstumpfung überstanden und in Deutschland schnell Anschluss an die indigene Gammlerszene gefunden hatte. Von diesem Brückenkopf aus hatte das Heroin die bürgerlichen Milieus der BRD durchdrungen, sodass man als Schüler eines humanistischen Gymnasiums Pferdeledersohlen hatte tragen müssen, um sich auf dem Pausenhof nicht an einer gebrauchten Spritze mit HIV zu infizieren.
Victor konnte sich an die unzähligen Babystrich-Reportagen erinnern, die er als Schüler gelesen hatte, typischerweise über einen musischen Lehrersohn aus dem beschaulichen Seligenstadt, der unter Strichern die Kameraderie gefunden, die er unter Bürgern immer vermisst hatte. In der Taunusanlage, auf dem goldenen Herbstlaub, hatte dieser dem Stern dann erzählt, habe sich das Heroin wie ein heilendes Pflaster auf seine seelischen Wunden gelegt. Dem Bürgerkind in der BRD der 80er war es demnach als durchaus naheliegendes Szenario erschienen, ein paar Jahre mit Französisch und Verkehr zu verbringen, um dann wieder zum Drill aus Altgriechisch und Violine zurückzukehren.
In der Fastfood-Luft bei Vapiano im Westend nahm Victor zur Kenntnis, dass ihm ein Fehler unterlaufen war: Er hatte nicht bedacht, dass es Samstag war und er bei Vapiano daher nicht auf Menschen treffen würde, die eine preiswerte Stärkung vertilgen und wieder an ihre Bildschirme eilen wollten, was unerfreulich genug, aber noch erträglich gewesen wäre. Nein, beim Publikum in Vapiano-Filialen handelte es sich an Samstagen um Menschen, die das Bedürfnis verspürt hatten, in ihrer Freizeit durch die City in Richtung Vapiano zu schlendern, um dort im Loungebereich ihre Seelen baumeln zu lassen.
Victor hatte Erben von Erben eines Hamburger Kaffeemagnaten, nachdem er ihnen abgeraten hatte, beim Erwerb einer Beteiligung an Vapiano beraten und sich im Zuge der Transaktion mit dem Unternehmen rudimentär vertraut gemacht. Dessen Mission war es, die in Deutschland seit den Tagen der ersten Gastarbeiterwelle flächendeckend etablierte inhabergeführte Pizzeria durch ihren systemgastronomisch standardisierten Wiedergänger zu ersetzen, um einer urbanen Kundschaft in lifestyligen Selbstbedienungskantinen Italo-Food made in Germany zu servieren.
Er hatte nicht etwa deshalb abgeraten, da er Vapiano als schlechtes Investment betrachtete, im Gegenteil: Nachdem er im Zuge der Kaufpreisverhandlungen diverse abwegige Risiken für das Unternehmen anschaulich in Worte gefasst und somit als annähernd real hatte erscheinen lassen, war der Einstieg der Erben zu ausgesprochen günstigen Konditionen möglich gewesen. Aber über den Ambientefaktor den zeitgeistigen Konsumenten anzulocken, der langes Anstehen vor dem Front-Cooking-System als Teil des kommunikativen Erlebnisses und dynamischen Spirits des Fresh-casual-Konzepts begriff – dieser Ansatz war Victor einfach zu menschenverachtend.
Der Nihilismus, der darin zum Ausdruck kam, war jener von Matteo Thun, einem verschlagenen Agentur-Scharlatan mit ledrigem Oberkellnergesicht, dessen Erfolg darauf fußte, dass er als junger Designer den Eminenzen seiner Zunft öffentlichkeitswirksam »Gestaltungsimpotenz« attestiert hatte, und der nun für Branding und Corporate Design von Vapiano verantwortlich war. Für seine Auftraggeber bündelte Thun das Mittelmaß der Gegenwart zu einem konzentrierten Strahl, mit dem der Impuls des Menschen zum Widerstand gegen seine Degradierung zum berechenbaren Umsatzfaktor pulverisiert werden konnte.
Sein erklärtes Ziel war es, in puncto Nachhaltigkeit an die Grenzen des Machbaren zu gehen. Thun verfolgte einen holistischen Ansatz, der verschiedenen Aspekten des interaktiven Wohlfühlens gerecht wurde. Seine Gedanken kreisten um die Tatsache, dass jede Schüssel Pasta ihre eigene Geschichte hatte und somit einzigartig wie eine Schneeflocke war.
So war wohl auch der über 100-jährige Olivenbaum zu erklären, der jede Vapiano-Filiale zierte und der im Falle der Filiale im Westend wirklich so aussah, als ob er seine Wurzeln ein Jahrhundert lang in kargen Felsengrund gekrallt hatte, um seine Zweige über einer mediterranen Steilküste gegen die Meereswinde zu stemmen. Nun steckten seine Wurzeln in einem Design-Kübel voll der braunen und löchrigen Kiesel, aus denen in den bundesdeutschen 70ern in Ämtern und Krankenhäusern Palmen emporgewachsen waren und mit denen Victor das Aroma von Urin assoziierte.
Mit »Vapiano« hatte Thun einen Markennamen geliefert, der den getriebenen Genießer dazu aufforderte, zwischendurch mal schnell der Entschleunigung zu frönen. Das italienische »va piano« bedeutet in etwa, man solle sein Leben langsam angehen lassen, was aber keine Anspielung auf die bei Vapiano üblichen langen Wartezeiten sein sollte. Vielmehr sollte hier ein ironischer Bruch mit der Tatsache erzeugt werden, dass Vapiano ja ein Fastfood-Angebot bezeichnete, um die in den Schlangen wartenden Kunden zum Schmunzeln zu animieren. Denn solange ordentlich geschmunzelt wurde, war Deutschland mit sich im Reinen.
Victor reihte sich vor einem Pasta-Schalter ein, hinter dem ein »Vapianisto« Dienst schob, mit dem vorgeschriebenen verschworenen Lächeln, das jeden Kunden darin bekräftigen sollte, etwas über mediterrane Lebensart verstanden zu haben. Die Unterarme des Mannes waren violett vernarbt, vom Öl in den Hunderten von Wok-Pfannen, die er an jedem Tag über die Flamme zu halten hatte.
Links und rechts des Kochfeldes warteten portionierte Zutaten, die er im Wok zu einem der Pastagerichte kombinierte, die in Kreide-Optik auf einer Tafel in Schiefer-Optik aufgelistet waren, wobei jeder Kunde die Möglichkeit hatte, seine Pasta nach Gusto zu individualisieren, sich zum Beispiel eine Portion Antibiotika-Zuchtlachs in seine Puttanesca hineinrühren zu lassen.
Zu »Vapianisto« hatte Thun ohne Zweifel der Siegeszug des Begriffes »Barista« inspiriert, den Starbucks global durchgesetzt hatte, um einer miserabel bezahlten, im Stehen verrichteten Fließbandtätigkeit irreführenderweise einen Bohème-haften Kunsthandwerksanspruch zu verleihen.
Victor beschlich das Gefühl, einer Erniedrigung beizuwohnen, das dadurch verstärkt wurde, dass der Vapianisto offenbar noch nicht aufgegeben hatte. Er schien das Angebot annehmen zu wollen, sich mit der Marke zu identifizieren, an die Werte zu glauben, für die Vapiano stand, und wenn es sich dabei nur um Kosteneffizienz sowie um den Ambientefaktor handelte.
Was mochte er verdienen, 3000 Euro? Konnte man davon in Frankfurt überhaupt eine Wohnung mieten? Vielleicht irgendwo an einer Bahnlinie, an einer Chemiebrache, in Höchst oder Unterliederbach möglicherweise, in einer Gastarbeiterbaracke aus den 50ern, die ihre intendierte Nutzungsdauer aufgrund ihrer soliden Konstruktion schon um ein Vielfaches überschritten hatte.
Victor dachte an den Text der Stellenausschreibung, die er während der Vapiano-Transaktion auf bild.de entdeckt hatte: »Schüchternheit ist over, Dynamik ist angesagt! Im Front-Cooking-System zählen Charakter und Kommunikationsstärke. Bist Du gut drauf? Warst Du beliebt auf der Hauptschule? Bist Du flexibel, bist Du belastbar? Bist Du Kosmopolit? ’Ne Rampensau? Also einfach ’ne Type? Glaubst Du an die Vapiano-Werte Frische, Design und Nachhaltigkeit? Dann ab auf die Bühne! Arrabbiata!«