Fünf

Als Valeszka seine Erektion sah, wurde sie verlegen. Da müsse er sich noch ein wenig gedulden, sagte sie. Victors Eichel ragte wie der Köder eines Anglerfisches hinaus in das Behandlungszimmer. Das Sexuelle, sagte Valeszka, sei nicht der eigentliche Sinn und Kern der taoistischen Massage. Es handele sich dabei um ein ganzheitliches Ritual, das seine negativen Energien sublimieren solle, um ihm zu ermöglichen, als freier Schöpfer seines eigenen Seins aktiv zu werden. Sein Lingam sei dabei nur als energetischer Fluchtpunkt zu verstehen, sodass die Jadeflöte der Überlieferung zufolge erst am Ende der Entspannungskaskade geblasen werde. Zu Beginn würde es erst einmal darum gehen, seine Chakren zu kanalisieren.

Er könne sich nichts Heilsameres vorstellen, als sich diesem Ritual wirklich zu öffnen, sagte Victor, aber er fühle sich dazu nicht in der Lage. Er habe das Gefühl, dass er ein Schiffbrüchiger sei, Tausende Seemeilen von Land entfernt, der sich am Treibgut eben noch so lange festhalten, bis ihn seine Kraft verlassen würde. Abgesehen davon: Wie solle er sich in diesem Zustand bitte auf den Bauch legen? Victor fragte, ob das Protokoll hier bindend sei oder ob die Möglichkeit bestehe, flexibel zu agieren. Er fragte, ob das Beharren auf Dogmen überhaupt noch als zeitgemäß zu bezeichnen sei, und als er ihren Widerstand ebben spürte, lupfte er seinen Hintern hoch auf die frotteebespannte Massageliege.

Sein steifer Penis wippte nach wie das Sprungbrett über dem Schwimmbecken in seinem Garten. Valeszka seufzte, band sich einen Pferdeschwanz, sie nahm auf einem Hocker Platz, so einem Hocker auf Rollen, wie ihn Zahnärzte verwenden, fuhr an Victor heran und betätigte den Hebel des Luftzylinders, um sich vor ihm hinabsinken zu lassen. Dann ließ sie seine Eichel langsam zwischen ihre warmen Lippen hineingleiten. Schockwellen durchzuckten seinen Körper. Er fühlte sich angenommen, für einen Augenblick nur, akzeptiert, so wie er war, obwohl Valeszka nicht wissen konnte, wie er war, er hatte ja selber keine genaue Vorstellung.

Victor konnte sein Glück kaum fassen, denn das passierte einem ja nicht in Wirklichkeit, zumindest nicht in einem Hotel-Spa. Das war eher eine Fantasie, die man sich ausmalte, wenn man dort heimlich in einer milchverglasten Duschkabine masturbierte. Es konnte in seinem Fall eigentlich nicht mehr mit rechten Dingen zugehen. Allein dieses Meeting heute wieder: Keine Viertelstunde, nachdem er sich verabschiedet hatte, auf seinem Weg über die Wilhelmstraße in Richtung Holocaust-Mahnmal, hatte der Minister ihm per SMS schon die Mandatierung der Birken Bank bestätigt: Der anregende Vormittag habe ihm für seine Woche Auftrieb gegeben. Ombra!, könne er nur sagen. Er habe den Pitch überflogen, die Transaktion mache eminent Sinn, Victor möge ihm eine Honorarvereinbarung zuschicken; nach etwaigen Nachjustierungen könne man gleich loslegen.

Dass man bekam, was man verdient hatte, hielt Victor für eine lachhafte Vorstellung. Wegen irgendeiner Idee, die ihm nach einer Flasche Wein zugeflogen war, würde er jetzt mal wieder in Gold aufgewogen werden. Er hätte auch in einer sterbenden Kleinstadt geboren werden können, in der ehemaligen Zone, irgendwo im Crystal-Meth-Niemandsland an der Grenze zu Tschechien, in einem Waisenhaus neben einer Mülldeponie. Dann wäre er jetzt möglicherweise ein berufsunfähiger Busfahrer, mit einer hässlichen Narbe auf einer Wange und seiner Nase, da ihm vor der Dönerbude ein betrunkener Skinhead ohne Grund einmal eine Flasche Wodka Gorbatschow in sein Gesicht gerammt hätte.

Sein eigenes Glück schmieden – was für ein verlogenes Bild. Man konnte sich unter Druck setzen, sich dazu zwingen, in seinem spezifischen Wettbewerb zu den Siegern zu gehören. Aber es kam immer darauf an, von wo man ins Rennen ging und in welches Rennen. Er selbst zum Beispiel hatte frei wählen können, nach einem Studium an der London School of Economics, das nur möglich gewesen war, da auch sein Vater dort studiert hatte, wie schon dessen Vater vor diesem – was wiederum nur möglich gewesen war, da Victors Urgroßvater, ein Berliner Theaterschauspieler, in einer Nacktbar in der Giesebrechtstraße im Jahr 1928 bei einem ersten Bier am Sonntagvormittag zufällig mit dem damaligen Dekan der LSE ins Gespräch gekommen war, einem gewissen Sir Nigel Twitt, der am Abend zuvor an der Humboldt einen Vortrag über die Implikationen der Weltwirtschaftskrise für die makroökonomische Lehre gehalten hatte.

Herr des eigenen Schicksals zu sein, das war nicht mehr als eine leere Phrase. Denn wer sollte das sein, dieser Herr? Man strebte ja nicht als unbeschriebenes Blatt in sein Erwerbsleben, sondern eher als urzeitliches Intarsienparkett, als mit einem Zufallsgenerator gestaltetes Mosaik. Der Mensch war archaischen Impulsstrukturen unterworfen, unbewussten Verhaltensmustern, obsessiven Zwängen sowie im Falle des Deutschen der epigenetischen Täter- oder Mitläuferprägung infolge des Völkermordes an den Juden, sodass die Idee selbstbestimmten Handelns tatsächlich nur als Wahnvorstellung zu bezeichnen war.

Er hätte auch als Bauernmädchen im Panjshir-Tal geboren werden können, das mit neun Jahren, obwohl es sich auf eigene Faust und nur anhand des Korans Lesen und Schreiben beigebracht gehabt hätte, mit einem hartherzigen 83-jährigen Hammelhirten verheiratet worden wäre. In der Zeit hatte Victor gelesen, dass unser späterer Verdienst zu etwa 50 % durch unser Geburtsland bestimmt werde, unabhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit. Er hätte auch am Ufer des Amazonas geboren werden können, wo der Schamane seines Stammes die Schreie seiner Mutter mit dem schläfrigen Rhythmus einer Trommel unterlegt hätte – wäre er auch in diesem Fall zum Inhaber einer Investmentbank avanciert?

Später in seiner Suite riss er die Fenster auf und ließ sich in den Chefsessel fallen. Der Schreibtisch bot einen Blick über den Tiergarten hinweg bis zum Funkturm im alten Westen, der den Piloten der Rosinenbomber während der Blockade durch die Russen als Leitfeuer gedient hatte.

Er verspürte den Zwang, sein inneres Stimmengewirr festzuhalten. Nicht als Küchenphilosophie, nicht als Versuch über das Glück, oder den Zufall, nein: Das war ihm zu esoterisch. Es reizte ihn vielmehr, seine Eingebung politisch zu umkreisen, in der Form eines Strategiepapiers oder eines Pitches oder einer populistischen Rede, möglicherweise.

Während sein Rechner hochfuhr, trommelte er abwesend auf der ledernen Schreibunterlage. Seine Augen wanderten über die Fassaden des Pariser Platzes, der ihm als preiswerte Neubausiedlung erschien, die ein Immobilienentwickler innerhalb von drei Wochen auf einem historischen Friedhof aus dem Boden gestampft hatte. Auch der Tiergarten war ja ein reines Nachkriegsphänomen. Denn die Bombennächte hatten vom kaiserlichen Lustwäldchen nur eine Kraterwüste übriggelassen, deren verbliebene Bäume im Hungerwinter nach der Kapitulation abgeholzt worden waren, um die Verschläge der Trümmerbürger zu heizen.

Während seiner Schulzeit hatte vor dem Brandenburger Tor dann der Stalinrasen gelegen – stählerne Gitterstrukturen nach dem Schema eines Fakirbrettes, auf dessen Dornen die Republikflüchtlinge an ihren Stichwunden verendet waren, während die Mauerschützen in den Wachtürmen versucht hatten, ihre klammheimliche Freude zu unterdrücken, um jeden Gedanken an ihre innere Abstumpfung zu vermeiden. Aber pro Zwischenfall hatte es nun mal eine attraktive Prämie gegeben, meist eine Zuteilung von Konserven – Schnecken, Dorschleber, solche feinen Dinge.

Beim Anblick der Obstschale auf dem Schreibtisch wurde ihm klar, dass er seit dem Apfel am Morgen nichts mehr gegessen hatte, und er bestellte beim Roomservice eine Pekingente für Zwei für sich allein und eine Flasche Richebourg für 2400 Euro, was natürlich albern war, aber der Preis einer Weinflasche spielte keine Rolle in Victors Leben. Nie zuvor war ihm so präsent gewesen, dass seine Privilegien nicht zu rechtfertigen waren. Dass sie allein darauf basierten, dass als Folge einer Reihe aus Zufällen ein System entstanden war, in dem die Tätigkeit als M&A-Berater höher vergütet wurde als etwa das Blasen oder das Schreiben oder die Unterwasser-Korbflechterei.

Es war ein altes System, das durch zu viele Hände gegangen war, das immer wieder repariert und modifiziert worden war und nach den Tuningmaßnahmen durch den Neoliberalismus nicht mehr als Volkswagen, sondern als Zuhälter-Mercedes mit Diffusor und Flügeltüren daherkam.

Victor bezog sich auf den Neoliberalismus im umgangssprachlichen Sinne, also auf die radikale Heilslehre von der Entsolidarisierung, die in den letzten zwei Jahrzehnten lustvoll einen tiefen Keil in die Gesellschaften des Westens getrieben hatte. Auch in Deutschland konnte vom egalitären Ideal Ludwig Erhards keine Rede mehr sein. Dem Makro-Modell der Birken Bank zufolge hielt das reichste Prozent der Deutschen den größeren Teil des nationalen Vermögens, während die Bürger der ärmeren Hälfte gar nichts besaßen, nur die in Bangladesch hergestellten Kleider auf ihren Rücken.

Die niedrigen Bildungsausgaben der Proletarier verhinderten einen fairen Wettbewerb der Kinder untereinander, was zu einer Verschwendung von Talenten und einem Rückgang der allgemeinen Kompetenzen führte, der den Kollegen im Research von JP Morgan zufolge nicht nur fatale Auswirkungen auf das Wachstum der deutschen Wirtschaft haben würde, sondern auch als Hinweis auf die drohende Degeneration einer Bevölkerung zu verstehen sei.

Aber natürlich gab es immer noch Hardliner im neoliberalen Lager, die nicht einmal gelten lassen wollten, dass eine gespaltene Gesellschaft als etwas Negatives zu bewerten sei. Die Strahlkraft des Wohlstandes der wenigen setze vielmehr essentielle Anreize für die Mehrheit, Kampfesmut und Erfindungsgeist zu beweisen, um die Misere der Mittelklasse endlich hinter sich zu lassen und mit ihrer dann ja obszönen Steuerlast die Gesellschaft als Ganzes voranzutreiben.

Anstatt mit Gleichmacherei à la Honecker das Schwache zu idealisieren, wären die Deutschen besser beraten, auf ihre organische Entwicklung zu vertrauen, auf einen Prozess der natürlichen Auslese. Wenn man es wirklich ernst meine mit der Stärkung der sozialen Durchlässigkeit, müsse man aufhören, mit Almosen die Eigeninitiative der Armen zu lähmen, und stattdessen das raue soziale Klima schaffen, in dem der eiserne Siegeswille der Leistungsstarken gedeihe.

Dieser Haltung lag insgeheim die Überzeugung zugrunde, dass die Mehrheit der Deutschen es verdient hatte, arm zu sein. Um gerechte Verhältnisse zu schaffen, müsse man nicht umverteilen, denn Gerechtigkeit entstünde von ganz allein. Das sei der Lauf der Dinge. Man müsse sich nur mal einige der Physiognomien ansehen. Damit es Reiche geben könne, müsse es auch Arme geben. Damit es Gewinner geben könne, müsse es auch Verlierer geben.

Das Ziel jeder konsequenten Deregulierung war ein präzivilisatorischer Urzustand, in dem das Recht des Stärkeren herrschen würde, als der sich ein hedonistischer Geschmacksbürger aber nur so lange würde fühlen können, bis er durch seinen Türspion einen Feldchirurgen der Abteilung organ trading der Goldman Sachs Security Services erblicken würde, dessen variable Vergütung an die Erfüllung einer ambitionierten Augen- und Hodenquote gekoppelt wäre.

Victor war sich immer noch nicht im Klaren darüber, warum soziale Verwerfungen in ihm solche Aggressionen triggerten. Möglicherweise lag seine Haltung darin begründet, dass er das Land seiner Kindheit nicht mehr wiedererkannte. Das begann mit dem, was man auf den Straßen sah, also mit diesen Ludenmobilen, mit denen die Daimler AG seine Heimat geflutet hatte.

In einer Spoiler-Rakete mit brüllendem Rennmotor durch die Innenstadt zu jagen – ein solches Gebaren war in Victors Jugend noch der Halbwelt vorbehalten gewesen. Wenn man sich damals das Spitzenmodell bestellt hatte, einen 560 SEL, der weniger PS hatte als das aktuelle Einstiegsmodell der S-Klasse, hatte man grundsätzlich die kostenlose Option »Wegfall Typenbezeichnung« angekreuzt, um nicht in den Ruch zu geraten, es nötig zu haben, infolge penikulärer Defizite möglicherweise, sich mit etwas so Profanem wie der Motorisierung seines Fahrzeuges zu profilieren.

Aber mittlerweile montierte Mercedes ja in silbernen Großbuchstaben den Begriff BITURBO an die Flanken seiner Bollerwagen, deren Käufer es sich nicht nehmen ließen, an jeder Ampel Vollgas zu geben, bis sich die Strömungsklappen ihrer Auspuffanlagen öffneten und ihre Umgebung unter infernalischem Maschinenlärm erzitterte, den sie infolge ekstatischer Zwischengasschübe ihrer Halbbildung als »symphonischen Klangteppich« wahrnahmen.

Diesen Kick hatten sie sich verdient, verdammt noch mal, mit der Fußballtröten-App, dem Handyschrott-Business, den Windparksubventionen oder der Gründung der Discount-Modemarke »Banglastyle«, die von bengalischen Kindern Hoodies kleben ließ, auf denen debile Claims wie POWER SPIRIT 3000 – COSMIC DESIRE zu lesen waren.

Was sich aber ebenso stark verändert hatte wie die Qualität der Oberschicht, war die Stimmung auf der anderen Seite des Grabens. Der Verlust ihrer Gewissheiten hatte die Deutschen in eine kollektive Angststörung getrieben, so sah es Victor, deren Fokus sich in diesen Jahren unkontrolliert ausweitete.

Sie hatten Angst vor der Steuerprüfung, vor der Schuldenfalle, vor der erektilen Dysfunktion beziehungsweise vor der Scheidentrockenheit. Sie hatten Angst vor den dunklen Augen der Afghanen oder Libyer oder Iraker oder Syrer oder wer all diese Leute eben waren. Sie hatten Angst vor dem betrügerischen Glied in ihrer Lieferkette, das die Kontrollen der Discounter aushebeln würde, um moldawisches Eselhack in ihre Bouletten zu schustern.

Die Deutschen hatten Angst vor dem großen monatlichen Meeting, das sich immer darum drehte, dass die Abteilung sich weiter den Anforderungen des sich wandelnden Marktumfeldes würde anpassen müssen, dass aktuell aber kein Anlass zur Sorge bestünde, da momentan keine Pläne existierten, die Abteilung abzuwickeln oder mit Hilfe von M&A-Beratern an einen Private-Equity-Fonds weiterzureichen.

In den Seelen der Mehrheit der Deutschen kursierte eine finstere Energie, die auf der Suche nach einem Fluchtpunkt von Ventil zu Ventil marodierte. Zu Victors Ehrenrettung ist anzumerken, dass er sich nicht etwa einbildete, einen besonderen Zugang zur Mehrheit zu haben, im Gegenteil: Sein Gefühl basierte allein auf dem Weiterspinnen der Datenmenge, die aus seinem ständigen Zeitungskonsum resultierte.

Es musste ein Jahr oder sogar länger her gewesen sein, dass er mit der Mehrheit überhaupt in Kontakt getreten war: An einem Freitagnachmittag hatte er sich auf den Weg zu Media Markt gemacht, um ein Waffeleisen und ein Rührgerät zu kaufen, da Victoria sich für das Wochenende Waffeln mit Schlagsahne gewünscht hatte. Er war durch die Goethestraße auf die Hauptwache gelaufen, ohne besondere Vorkommnisse, bis er auf der Zeil dann offenbar eine unsichtbare Sphärengrenze durchstoßen hatte, hinein in die Terra incognita mittelalterlicher Seekarten.

Die Menschen dort waren ihm als Fabelwesen erschienen: Sie waren bunt gewesen, sie waren laut gewesen, sie waren tätowiert gewesen, sogar in den Gesichtern. Sie hatten diniert im Gehen, auf dem Weg in die S-Bahnen, in die Trabantenstädte; zwei der Wesen hatten sich einen Pappeimer Fried Chicken geteilt, was erst zu einem Austausch von unverständlichen Gereiztheiten und dann zu einem Handgemenge geführt hatte.

Die Mehrheit hatte Tüten der Firma Banglastyle getragen, deren Erfolgsgeschichte ihm sein Partner Baldur erzählt hatte: Durch den Einsatz von Kindern in Arbeitslagern in Bangladesch sei es den Strategen von Banglastyle möglich, alle Produkte, sogar die flammbaren Polyesterpelzmäntel, für nur einen Euro anzubieten, was in Deutschland zu einer nachhaltigen Demokratisierung des Konsums geführt habe. Die idealistischen Founder von Banglastyle hätten der Mehrheit ermöglichen wollen, trotz Armut regelmäßig shoppen zu gehen, um auf diesem Wege deren gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten.

Das Item der Season war offenbar die Po-lose Hose gewesen, vor allem bei Teenagern, deren Gesäßbacken im Rhythmus der Stresstechno-Beschallung gezuckt hatten. Bei einem Teil der älteren Frauen hingegen war ein Look des falschen Wohlstandes populär gewesen, des imaginären Angekommen-Seins – der Style von Frauen aus der Bunten, die einen adeligen Schmuckdesigner geheiratet hatten und ihr ibizenkisches Dasein daher neben der transzendentalen Meditation vor allem der Planung lässiger Lagerfeuer-Strandpicknicks widmen durften.

Victor war schockiert gewesen. Ihm waren Tränen in die Augen geschossen, was ihn wütend gemacht hatte, da er seine Reaktion nicht verstanden hatte. Ihm war nicht auf Anhieb präsent gewesen, warum ihn das Treiben so berührt, ja, so deprimiert hatte. Und so hatte er sich auf die Bank vor einer Burger-King-Filiale gesetzt, um seine Gefühle zu analysieren. Was genau war deren Auslöser gewesen, welche Eigenschaft dieser Wesen? Es konnte nicht primär die Armut gewesen sein, da sie alle wohlgenährt und in der Mehrzahl ja auch neu eingekleidet gewesen waren.

Er hatte sich erst auf die Gesichter konzentriert, aus ihnen aber keine neuen Erkenntnisse gewinnen können; dann hatte er versucht, in die Schädel hinter den Gesichtern vorzudringen. Er hatte sich immer weiter in den begrenzten Hallraum des ungebildeten Kopfes vorgearbeitet, was sich für ihn wie Folter durch sensorische Deprivation angefühlt hatte: Denn die Gehäuse der Mehrheit enthielten keine digitalisierten Bibliotheken, keine Reflexionstreiber, keine analytischen Prozessoren, keine hochentwickelten Melancholiemodule sowie nur rudimentäre Texterfassungssysteme. All diese Menschen, war ihm klar geworden, obwohl sie dieselbe Luft wie er atmeten, existierten auf einer völlig anderen Wahrnehmungsebene.

Victor starrte an die Decke, die viel zu niedrig war, da der Architekt des Hotels ein zusätzliches Stockwerk unter die festgeschriebene Traufhöhe gedrängelt hatte, um sich dienstfertig bei seinem Investor anzubiedern. Das Resultat war, dass auch auf höheren Stockwerken ein Gefühl der Beklemmung vorherrschte, wie in einer Grabanlage.

Ein radikales Projekt war vonnöten, so dachte Victor, um das deutsche Volk zu einen. Es würde darum gehen müssen, die nationalen Ressourcen in ein kognitives Upgrade der Mehrheit umzuleiten, um das Land vor seiner drohenden Irrelevanz zu bewahren. Deutschland war ein Land der Dichter und Denker und kein Land der Milliardäre und Jachtbesitzer. Ein zwölf Meter langes Regattaboot aus Mahagoni von Abeking & Rasmussen, so sah es Victor, das musste reichen.

Er wischte über das Touchpad, um sein Laptop zu wecken, und ein leeres Dokument erschien. Im Kern würde er wie immer einen Pitch des Genres »Strategische Optionen« schreiben, mit dem er sich diesmal aber nicht an einen Funktionsträger, sondern direkt an den Souverän richten würde. Victor hatte sich mittlerweile in eine tiefe Konzentration manövriert, und wenn man in seine grauen Augen geschaut hätte, wären die grünen Kontrollleuchten seiner organischen Mainframe-Architektur zu sehen gewesen.

Seine Finger schwebten über der Tastatur. Hinter den Gipsfronten der Renditeneubauten vor den Fenstern konnte er die finstere Schönheit der Verwüstung erahnen. Der Befehlshaber des britischen Bomber Command, der als junger Mann ein passionierter Bildhauer gewesen war, hatte dem Guardian vor seinem Tod seinen ursprünglichen Traum anvertraut, die Berliner Innenstadt durch Bomben und Luftminen zu einem abstrakten Ruinenpark umzugestalten, als Variation über die inneren Trümmerlandschaften der Deutschen. Victor begann zu schreiben:

WO WIR STEHEN

Der Wind fährt über die goldenen Felder, und der Frühling verbreitet eine trügerische Wärme. Denn es herrscht der Winter in der deutschen Seele. Unsere Großmütter zerren Säcke voller Leergut in Richtung unserer Discounter, um ihre Ausbeute in Schweinenacken zu investieren, an guten Tagen noch in ein Tetra Pak »Italienischer Landwein Lieblich« zu 79 Eurocent. Und in den Talkshows sind unsere Erbinnen zu sehen, die über die Schwere der Verantwortung jammern, mit der die braunen Milliarden auf ihnen lasteten, während die Manager ihrer Immobilien-Portfolios von unseren Krankenschwestern sittenwidrige Wuchermieten kassieren.

Unsere Heimat ist mal wieder auf die schiefe Bahn geraten, liebe Freundinnen und Freunde. Unsere letzten paar Regierungen haben sich der irrationalen Heilslehre der Märkte verschrieben, mit der Folge, dass unser geschwächter Staatsapparat nicht einmal mehr seine Basisfunktion der Kontrolle unserer Außengrenzen erfüllen kann.

Seit der Jahrtausendwende hat die Bundesrepublik die gleiche Entwicklung wie die Deutsche Bank durchlaufen, die jahrzehntelang an allen heimischen Konzernen beteiligt war und sich auf ein solides Endkundengeschäft konzentrierte. Heute handelt es sich bei dieser um einen maroden Munitionsfrachter unter chinesischer Flagge, auf dessen Lidodeck sich ein hochnäsiges Grüppchen nihilistischer Kettenraucher zusammengerottet hat.

Der Hinweis auf diese Verwerfungen ist nicht etwa als Kritik an der Globalisierung zu verstehen, im Gegenteil: Denn unsere deutsche Exportwirtschaft muss noch um ein Vielfaches aggressiver und erfolgreicher werden. Von entscheidender Bedeutung für unsere Demokratie aber wird sein, die Renditen und Kosten unserer Vorstöße in die Fremde endlich gerecht unter unseren Bevölkerungsgruppen zu verteilen.

Es kann nicht sein, dass eine abgehobene Minderheit die Profite einkassiert, während für die hart arbeitende Mehrheit nur die Risiken übrigbleiben. Es kann nicht sein, dass Tausende Jugendliche dem deutschen Winter als Obdachlose entgegensehen, während unsere Überschüsse in unangemessene Prunkbauten fließen, in die zehn Millionen Euro teuren Villen, die sich in unseren Wäldern ausbreiten, und auf unseren Nordseeinseln.

DER ETIKETTENSCHWINDEL

Um die soziale Frage vom Tisch zu wischen, haben unsere Regierungsparteien einen ebenso eleganten wie verkommenen Etikettenschwindel ersonnen. Sie haben sich der Pflege seltener Fledermäuse verschrieben, biolumineszenter Eidechsen und opalisierender Amphibientiere. Um ihrer Agenda der Rückschritte einen progressiven Anstrich zu verpassen, haben sie ein Festival der Kulturkämpfe inszeniert, in denen natürlich immer die Toleranz siegreich war, die Solidarität, die Weltoffenheit.

Die Einzigen, an denen unser System kein Interesse zeigt, sind die disziplinierten Arbeitnehmer, die unsere Kinder betreuen, unsere Eltern pflegen, unsere Feuer löschen, unsere Grenzen sichern, unsere Suppen würzen, unsere Beschwerden aufnehmen, unsere Züge fahren, unsere Biere zapfen, unsere Städte bauen, unsere Steuerbetrüger jagen und unsere freie Lebensweise am Hindukusch verteidigen. Nahezu die Hälfte aller Deutschen ist zu lebenslang im Niedriglohnsektor verurteilt worden, ohne die Möglichkeit, sich aus eigener Kraft emporzuarbeiten.

Von einer Leistungsgesellschaft kann in Deutschland somit keine Rede mehr sein. Es geht nicht darum, was man kann, sondern darum, wen die Eltern kennen. Es geht um Privilegien, um Wettbewerbsverzerrung, um Ungerechtigkeit. Unsere Finanzeliten betreiben die strukturelle Prekarisierung unserer Arbeiterklasse, um deren Kindern den Zugang zu höherer Bildung und damit die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstieges zu verweigern.

DAS LEISTUNGSPRINZIP

Ein System, in dem nicht das Talent, sondern die Willkür entscheidet, ist als Mühlstein um den Hals der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft zu verstehen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unsere Berufspolitiker, indem sie ihren ökonomischen Rassismus ausleben, schamlos gegen die Interessen ihres Landes arbeiten.

Denn ob es uns gelingen wird, eine faire Konkurrenz zu gewährleisten, ist eine der Fragen, die unsere Zukunft als Nation bestimmen werden. Unser Ehrgeiz muss sich in einem System manifestieren, in dem alle Kinder als privilegiert behandelt werden, unabhängig von Einkommen und Bildung der Eltern. Nicht die Reichsten sollen gewinnen, sondern unsere Besten, liebe Freundinnen und Freunde.

Zudem müssen wir uns fragen, was wir meinen, wenn wir den Begriff »Leistung« verwenden. Leistung allein in Profit zu messen, ist für eine reife Gesellschaft wie die unsere ein Armutszeugnis. Wir müssen uns fragen: Wer leistet mehr? Die Krankenschwester, die unsere Hand hält, während wir sterben? Oder der Immobilienentwickler, der sie aus der Innenstadt vertreibt? Wollen wir eine Gesellschaft der Ingenieure, der Denker und der Handwerker sein, der Erfinder, der Biertrinker, der Facharbeiter? Oder sollen sich Lobbyisten, Spekulanten und Erben unsere Volkswirtschaft unter den Nagel reißen?

SIEG ODER NIEDERGANG

Um nicht leichtfertig unsere Demokratie zu riskieren, müssen wir von einem obsessiven Ich zu einem entschlossenen Wir zurückgelangen. Wir brauchen eine neue nationale Erzählung, die um Teamwork kreist, um Zusammenhalt – um das konsequente Bündeln unserer ökonomischen Kapazitäten, um uns von der chinesischen und amerikanischen Konkurrenz nicht ins Abseits drängen zu lassen. Es wird darum gehen, unsere Kräfte zu vernetzen und zu fokussieren, um sie dann zu entfesseln, liebe Freundinnen und Freunde.

In China gibt es mittlerweile über 3000 öffentliche Universitäten, die mit einem wahren Jangtse aus frisch gedruckter Billigwährung in Richtung Weltspitze geprügelt werden. Deren Studenten kommen in den Genuss kostenfreier Wohnungen, Kindergärten und Grillpagoden, um sich voll auf ihre rigorosen Curricula konzentrieren zu können, die neben Prozessoptimierung und Lagermanagement zunehmend auch Nietzsche und Heidegger umfassen.

Diesem Nunchaku der Bildungssysteme stehen in Deutschland unbezahlte Lehrbeauftragte gegenüber, bröckelnde Institute, überfüllte Hörsäle, dynamische Budgetkürzungen und paläolithische Informatiksysteme. Wir stehen vor einer Phase der unerbittlichen intellektuellen Kampfhandlungen, an deren Ende ein historischer Sieg stehen wird – oder unser Niedergang, liebe Freundinnen und Freunde.

VIRTUELLE WOLKENBÄNKE

Schon unsere Allerkleinsten müssen in den Genuss maßgeschneiderter Förderprogramme kommen, um etwaige Nachteile im Hinblick auf die Möglichkeiten des Elternhauses auszugleichen. Die einzigen Bodenschätze der Bundesrepublik sind in den Köpfen ihrer Bürger verborgen, und so muss unsere primäre Zielsetzung sein, jedes Kind so zu fördern, als ob es aus einer wohlhabenden Establishment-Familie käme.

Wir werden unsere Reserven mobilisieren, um neue Gymnasien zu bauen, in urbanen Zentren wie in strukturschwachen ländlichen Gegenden, mit Coding-Laboren, Robotik-Werkstätten, philosophischen Bibliotheken, Schüler-Newsrooms, Llamaherden, symphonischen Orchestern sowie, wo Topographie und Terroir es hergeben: eigenen Weinbergen. Auf den Menüplänen der kostenfreien Schulkantinen werden neben regionalen Hülsenfrüchten auch saftige Braten zu finden sein, pikante Sülzen, herzhafte Frikadellen, nach alter Väter Sitte, liebe Freundinnen und Freunde.

Denn wir wollen eine Gesellschaft der virtuellen Wolkenbänke sein, aber auch der seit Jahrhunderten unveränderten Weihnachtspyramiden, über denen sich thermodynamisch optimierte, in Hinterhofwerkstätten von Hand geschliffene Kevlar-Flügelräder drehen.

DIE VOGTLÄNDISCHE PAMPELMUSE

Unsere neuen Bildungsangebote werden natürlich auch Bürgern unserer älteren Jahrgänge offenstehen – wobei wir aber keinen Zwang ausüben werden. Wem nach harten Jahrzehnten im Berufsleben die Energien fehlen, um sich neu zu erfinden, ja, um seine geschundenen Knochen noch mal aufzurappeln, den werden wir nicht sanktionieren oder gar fallenlassen, liebe Freundinnen und Freunde. Das verbietet uns der Respekt vor der gewaltigen Lebensleistung unserer Brückengenerationen.

Für deren Mitglieder werden wir vielmehr einen Sektor der traditionellen Handwerks- und Gartenbaudisziplinen schaffen, der Kleinkunst, des Liedgutes, der Renaissance ausgestorbener Rübenarten, um der märkischen Ananas endlich wieder die vogtländische Pampelmuse zur Seite zu stellen.

Wir wollen eine Gesellschaft sein, die dem Maschinenbauschlosser noch im hohen Alter seine Umschulung zum urzeitlichen Aalfischer möglich macht, sodass er seine alten Tage auf den mäandrierenden Seitenarmen unserer klaren Gewässer verbringen kann – in der Gewissheit, dass seinen Kindern alle erdenklichen Optionen offenstehen.

In sparsamen Mittelklassewagen werden wir über die makellosen Oberflächen kurviger Landstraßen durch rauschende Mischwälder fahren, um dann auf fugenlosen Autobahnen unseren sinnstiftenden Arbeitsplätzen entgegenzustreben.

WAS WIR VORHABEN

Um unsere Heimat für die Zukunft zu wappnen, werden wir in Deutschland nicht umhinkommen, die sinnlose Ballung unvorstellbarer Privatvermögen zu beenden. Nur mit einer effizienten Allokation nationaler Ressourcen wird die Politik ihre zentrale Aufgabe erfüllen können, nämlich die Verbesserung der Lebensumstände aller deutschen Bürger zu gewährleisten. Und so wird es in unserer Erzählung nun auch um Verteilungsgerechtigkeit gehen, ohne die eine kompromisslose Chancengerechtigkeit nicht seriös zu finanzieren sein wird.

Als geeignete Maßnahme erscheint eine harte Vermögensobergrenze, die wir auf der Höhe eines Nettobetrages von 25 Millionen Euro pro Bürger ziehen werden und oberhalb derer etwaige Vermögenswerte an das Gemeinwesen abzuführen sind. Denn mal ehrlich, liebe Leute: Es bricht niemandem einen Zacken aus der Krone, als Einzelperson mit nur 25 Millionen Euro auskommen zu müssen. Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass private Vermögen in Milliardenhöhe durch eine Arbeitsleistung nicht zu rechtfertigen und dass obszöne Konzentrationen von Reichtum einer hochentwickelten Zivilisation wie der deutschen unangemessen sind.

Mal abgesehen davon, dass die Fundamente unserer Industrievermögen nahezu durchweg in Kollaboration mit den Nazis und somit auf den Massengräbern unserer Zwangsarbeiter errichtet wurden. Ein Vorfahre der Inhaberfamilie der Bayerischen Motorenwerke zum Beispiel schreckte noch nicht einmal davor zurück, seine Ehefrau mit Goebbels zu verkuppeln, um seine Geschäfte mit dem Regime voranzutreiben. Für die Nachkommen unserer Elendsprofiteure wird die Obergrenze daher eine Erlösung bedeuten – nämlich die Möglichkeit, die Schande ihres Blutes hinter sich zu lassen, um fortan ihren eigenen Weg zu gehen.

Gegen die Obergrenze spricht somit allein, dass unsere Oligarchen sich beim Jachtencheck vor Saint-Tropez ab nun ihren russischen Artgenossen werden beugen müssen; aber wir werden lernen, mit dieser Schmach zu leben. Wer als Deutscher in Zukunft auf einem Schiff der Kieler Germaniawerft in See stechen möchte, ist vielmehr dazu eingeladen, sich für eine herausfordernde Tätigkeit bei unserer hervorragenden Bundesmarine zu bewerben.

DER AMERIKABOMBER

Das Argument der Reichenlobby, dass Vermögenssteuern Unternehmenserben überfordern und somit Arbeitsplätze gefährden können, wird hier nicht greifen, da Abgaben von Reichtümern oberhalb der individuellen Grenze natürlich auch in Form von Kapitalbeteiligungen erfolgen werden.

So wird die weltgrößte staatliche Fondsgesellschaft entstehen, die German Investment Authority (»GINA«), die uns erlauben wird, auf globaler Ebene Zukunftstechnologien zu akquirieren und Schlüsselindustrien zu kontrollieren, um die ökonomischen Interessen unserer Bürger zu sichern. Einen gewaltigen nationalen Fonds aufzurichten, als Bollwerk gegen die Sturmfluten der Globalisierung, ist als unsere volkswirtschaftliche Generationenaufgabe zu verstehen.

Zumal wir uns skrupellosen Konkurrenten gegenübersehen: finsteren Wüstendiktaturen wie Katar oder Saudi-Arabien, deren Investmentgesellschaften sich nach und nach unsere industriellen Ikonen einverleiben, während sie zu Hause der strategischen Maßgabe genügen, mit Mercedessen für die Untertanen die Gewaltherrschaft degenerierender Kleptokratenklans zu stabilisieren.

Und natürlich den Chinesen, die offenbar von der Vision getrieben sind, sich mit selbstgedruckter Staatsknete systematisch die gesamte deutsche Wirtschaft unter den Nagel zu reißen. Wenn wir unsere Vorzeigebetriebe weiter verhökern wie auf einem orientalischen Basar, dann wird das hier bald nicht mehr unser Land sein, liebe Freundinnen und Freunde. Wenn wir dem Ausverkauf unserer Wirtschaft nicht kaltblütig einen Riegel vorschieben, dann werden wir unser Schicksal asiatischen Autokraten überlassen oder den Investoren amerikanischer Reichenfonds – also Reitern goldener Toiletten oder Silikonwitwen aus Florida.

Mit der Gründung der GINA wird Deutschland zur finanziellen Supermacht aufsteigen, und dies keinen Augenblick zu früh, liebe Freundinnen und Freunde: Denn unsere volatilen Zeiten erfordern eine robuste Exekutive, die auf disruptive Verwerfungen nicht nur iterativ reagieren, sondern die Globalisierung in unserem Sinne proaktiv gestalten kann.

Für uns als Volk wird beispielsweise von entscheidender Bedeutung sein, ein strategisches Portfolio im Bereich der künstlichen Intelligenz aufzubauen – denn nicht einmal unsere Regierungsparteien würden ernsthaft in Abrede stellen, dass wir auf die drohende Unterwerfung des Menschen durch den Roboter vorbereitet sein sollten. Unseren finanziellen Jagdwagen für diese Akquisitionen, unseren Amerikabomber quasi, werden wir Schwarzwald nennen, nicht Blackforest, nein: Schwarzwald – da sollen sich unsere kalifornischen Wettbewerber ruhig mal ihre veganen Zünglein verdrehen.

EHRUNG ODER FAHNDUNG

Der Gefahr sogenannter Ausweichbewegungen, also dem Bestreben unserer Superreichen, sich ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung zu entziehen, wird ein hartes und gerechtes System der Ahndung entgegenzusetzen sein. Die Steuerpflicht auf Vermögen wird mit der deutschen Staatsbürgerschaft zu verknüpfen sein, wirksam bis zehn Jahre nach Steuerflucht oder Selbstausbürgerung; und die Zuständigkeit für das Aufspüren und Rückführen von Steuerbetrügern wird beim Direktorat Verdeckte Operationen unseres hervorragenden Auslandsgeheimdienstes angesiedelt sein.

Unsere Oligarchen werden die Wahl haben: Ehrung oder Fahndung. Denn zwei Dinge sind sicher im Leben, liebe Freundinnen und Freunde: Wir alle müssen irgendwann sterben. Und wir alle müssen unsere Steuern zahlen.

Die Obergrenze würde als radikal begriffen werden, obwohl sie natürlich als rational zu verstehen war. Bei objektiver Betrachtungsweise war es ein logischer Schritt, übertriebene Vermögen in den Dienst nationaler Interessen zu stellen. Mehr als mit Exzessen auf Superjachten würde den Menschen schließlich mit öffentlichen Waldschwimmbädern gedient sein, bezahlbaren Wohnungen, flüsterleisen Unterseebooten und idyllisch gelegenen Landschulheimen.

Die Frage war die folgende: Würden die Ausschüttungen aus milliardenschweren Industriebeteiligungen auf panamaischen Nummernkonten oder, nur zum Beispiel, im Dienste einer interdisziplinären Initiative zum Besiegen bisher unheilbarer Krankheiten einen größeren Beitrag zum Wohlergehen der Deutschen leisten?

Nicht etwa, dass Victor grundsätzliche Vorbehalte gegen reiche Menschen gehabt hätte, im Gegenteil – schließlich hatte er in seinem Berufsleben sicher schon 100 Millionen Euro verdient oder eher, hätte er hier korrigiert, eingenommen. Ein Fetisch für Geld hatte in seinen Augen allerdings schon immer auf eine metaphysisch unergiebige Krämerseele hingewiesen.

Er selber hatte es nie darauf angelegt, reich zu werden, noch nicht einmal darauf, Banker zu werden; all das hatte er allein der Rekrutierungsmaschinerie der Credit Suisse First Boston zu verdanken. Er war auf dem Campus seiner Universität in London zufällig einmal in eine Informationsveranstaltung der Bank geraten und erst Monate später unter Neonlicht in einem gläsernen Turm inmitten desolater Dockanlagen wieder zu sich gekommen.

In irgendeinem Kontext also, in dem er sich dann, einem Automatismus gehorchend, darauf konzentriert hatte, alle Konkurrenten hinter sich zu lassen. Rein zufällig war es ein Kontext gewesen, in dem man zu Geld hatte kommen können, aber als Entwicklungsökonom oder Reporter hätte Victor genauso hart gearbeitet.

Aus dem verkrampften Zwang der deutschen Milliardärsfamilien, ihr Vermögen durch die Jahrhunderte zu retten, sprach für ihn die verschämte Erkenntnis, dass nicht mehr viel nachkommen würde; dass mit dem einen Opportunisten, der während des Dritten Reiches den Grundstein für das spätere Tiefkühlpizza-Imperium gelegt hatte, nicht zuletzt dank hin und wieder einem Teechen mit dem Führer, das gesamte Potential der Reihe bereits ausgelöffelt war.

Ganz zu schweigen von den deutschen Adelsfamilien, deren Vermögen auf mittelalterlichen Angriffskriegen und somit auf bestialischen, geradezu IS-artigen Verbrechen basierten, infolge derer die windschiefen Nachkommen der Folterer und Vergewaltiger bis zum heutigen Tage hochmütig ihre seidenen Stecktücher spazieren tragen.

Nein, Victor hatte nichts gegen die deutsche Geldelite, der er sich aber niemals zugeordnet hätte. Denn er sah sich als Teil einer ewigen Elite, deren Status von Geld vollkommen unabhängig war. Für Victor waren das Familien, deren Mitglieder über Jahrhunderte hinweg immer wieder interessante Beiträge zum Fortschritt der Zivilisation geleistet hatten, in möglichst disparaten Bereichen; ob der jeweilige Leistungsträger dabei zufällig ein Vermögen akkumuliert hatte, schien Victor von allenfalls nachrangiger Bedeutung zu sein.

Einer seiner Ahnen väterlicherseits hatte, nur zum Beispiel, während der Kaiserzeit mit einer Narkosemaske die moderne Anästhesie aus der Taufe gehoben, bevor er ein Faible für die Wirkung seiner Erfindung entwickelt hatte und mit Anfang 30, allein in einer schäbigen Mietwohnung hausend, auf seinen Wölkchen aus Diethylether davongesegelt war.

Ein weiterer hatte als Solinger Rüstungsunternehmer während der Befreiungskriege nicht nur die schlesischen Heere, sondern mit Hilfe einer französischen Tarnmarke auch die napoleonischen Armeen ausgestattet, mit exakt gleichwertigen Waffen, um das revolutionäre Konzept der Égalité bis auf die Schlachtfelder zu treiben. Als Napoleon durch das Brandenburger Tor geritten war, gleich hier unter den Fenstern der Petra-Kelly-Suite, hatte der eitle Korse einen Kavalleriesäbel aus der Produktion von Victors Ahnen in seiner eisernen Scheide getragen.

In der Linie seiner Mutter, die aus Lemberg stammte, fand sich sogar ein Vorfahre, der das Abendland im Alleingang vor der Auslöschung durch osmanische Horden bewahrt hatte. Jerzy, so sein Name, Spross eines ruthenischen Adelsgeschlechtes, war 1679 nach Wien gezogen, um eine Startup-Finanzierung für sein orientalisches Import-Export-Business zu akquirieren. In jungen Jahren hatte er dem österreichischen Gesandten in Konstantinopel als Übersetzer gedient, wonach er nicht nur die türkische Sprache beherrscht, sondern auch den osmanischen Habitus hatte persiflieren können – ähnlich wie Victor Jahrhunderte später das Auftreten jenes halbstarken Kickboxers, der ihm in seiner Jugend auf dem Frankfurter Opernplatz eine Chevignon-Bomberjacke entwendet hatte.

Als der kaiserliche Geheimdienst während der zweiten Türkenbelagerung in ganz Wien auf der Suche nach einem getürkten Osmanen gewesen war, hatte daher Jerzys große Stunde geschlagen: Aladin-Style als orientalischer Händler verkleidet, war es ihm gelungen, die Belagerungsringe zu überwinden, um die verbündeten Heere jenseits der Donau von der akuten Gefahrenlage in Kenntnis zu setzen – osmanische Mineure gruben bereits tiefe Stollen unter die Hauptstadt des Habsburger Imperiums. Gerade noch rechtzeitig hatten die Polen und Bayern ihre Bierkrüge sinken lassen, um die Aggressoren in einem Zangengriff zu zermalmen.

Jerzy wurde als Retter des Abendlandes gefeiert – nicht zuletzt, da bald ein Flugblatt kursierte, das er unter Pseudonym selber verfasst hatte, um sich der Öffentlichkeit in einem schmeichelhaften Licht zu präsentieren: Er habe die Donau durchschwommen, er habe türkische Lieder gesungen, mit osmanischen Schildwachen habe er sich listig über die niederträchtigen Christen lustig gemacht et cetera. Bis heute wird Jerzy herangezogen, wenn es darum geht, die österreichische Identität zu definieren – ein fescher Patriot, charmanter Schwindler und innovativer Gastwirt, der sich entschieden der Gefahr aus dem Morgenlande entgegengestellt habe.

Er wurde mit Belohnungen überhäuft, einer Besoldung, einem Weinberg, einem Hofquartier, einer Befreiung von der Steuer für 20 Jahre sowie, auf seine beharrliche Nachfrage hin, mit den 300 Säcken »Kamelfutter« aus dem verlassenen Türkenlager, mit denen er 1684 das erste Wiener Kaffeehaus aufmachte, mit zu Beginn mäßigem Erfolg – zu bitter war Jerzys kleiner Schwarzer für die abgebrühten Innenstadtwiener, die sich auch während der Belagerung primär von Nockerln und Strudeln ernährt hatten.

Nachdem er aber die Inspiration empfangen hatte, seinen Kaffee mit heißer Milch zu strecken, schwoll sein Cashflow rapide an – eine Entwicklung, die Jerzy mit der Erfindung eines zweiten Produktes befeuerte, eines halbmondförmigen Blätterteigkipferls, um den insgeheim verunsicherten Wienern die therapeutische Experience zu ermöglichen, den osmanischen Aggressor zum Frühstück zu verspeisen.

WER WIR SIND

Unsere Bewegung heißt Deutschland AG und unsere Farbe ist Weiß, aber nicht etwa, da es sich bei uns vornehmlich um weiße Menschen handelt, sondern da wir für einen kompromisslosen Neuanfang stehen. Für die kreative Zerstörung überkommener Strukturen, ohne Rücksicht auf Privilegien, auf Partikularinteressen oder auf weinerliche Anspruchshaltungen.

Unser Name ist als Rückgriff auf eine Zeit zu verstehen, in der die Einkommen der deutschen Bundesbürger in einem nachvollziehbaren Verhältnis zueinander standen. Und bei aller Zukunftsfreude: Da wollen wir wieder hin, liebe Freundinnen und Freunde. Denn dieser erhabene Teamgeist ist als der romantische Kern unserer Erfolgsgeschichte zu verstehen.

Unser Schattenkabinett rekrutiert sich aus der wirtschaftlichen Funktionselite unseres Landes, was einigen als unappetitlich erscheinen wird, im Jahr 2017 aber unabdingbar ist: Denn nur, wer unser verworrenes System von innen kennt, wird in der Lage sein, es durch ein faires, transparentes und wettbewerbsfähiges System zu ersetzen.

Wir wollen nicht in die Politik, um uns ein Pöstchen zu sichern, um uns in den warmen Filz der Vorteilsnahme zu wickeln, im Gegenteil: Wir wollen finanzielle Opfer bringen, auf rituelle Weise, und diesen Vorgang als Befreiung empfinden. Konkret bedeutet das: Wir wollen Vermögenssteuern zahlen, um die Institutionen unseres Gemeinwesens zu stabilisieren. Wir sind der Weiße Ritter, liebe Freundinnen und Freunde, der uns alle davor bewahren soll, eine gramvolle Verlegenheitsehe mit einer unattraktiven Altpartei einzugehen.

Unser Ziel ist es, die politische Konkurrenz erst hinter uns zu lassen und dann hinter uns zu vereinen. Wir bewerben uns um die Führungsrolle bei der Neuerfindung Deutschlands, da wir als einzige Gruppierung die fachliche Expertise für diesen Vorgang mitbringen. Wohlstand für wenige zu schaffen, das gelingt auch dem Berufspolitiker, wie wir in den letzten Jahren gesehen haben. Wir von der Deutschland AG aber verfolgen die Zielsetzung, Wohlstand für alle zu schaffen.

DER SENATOR SERVICE

Denn wir sind Kinder der Mittelklasse, liebe Freundinnen und Freunde. Unsere Eltern haben uns zu fröhlicher Bescheidenheit erzogen. Wir haben es nicht nötig, uns einen Biturbo-Mercedes zu kaufen und damit an jeder grünen Ampel Vollgas zu geben. Unsere alten Väter hatten schließlich einen zuverlässigen, unauffälligen und perfekt verarbeiteten 230E als letzten Dienstwagen.

In den Ferien sind wir nach Mallorca gefahren, aber nicht in irgendwelche Designdomizile oder Fincaresidenzen, sondern in ordentliche Betonkästen an demokratischen Stränden, auf denen wir uns am Büdchen erst mal ein paar Albóndigas reingezogen haben. Unsere Eltern hatten nicht das Bedürfnis, mit einem gefönten Hündchen an der Champagnerbar einen Dicken zu schieben. Stattdessen liefen sie noch mal angeheitert zum Büffet, um sich zur Feier des Abends eine zweite Portion von der gefüllten Paprika zu genehmigen.

Wir wollen in einer Gesellschaft leben, die keine drei Klassen mehr kennt, keine First und keine Economy, sondern nur noch die Business, den Senator Service – die deutsche Mittelklasse, liebe Freundinnen und Freunde, der man, wenn man ein Mindestmaß an Selbstbewusstsein besitzt, auch noch mit einem Vermögen von 25 Millionen Euro angehören kann.

Der Geldadel würde schreien, wie von einer Spinne gebissen, während Victor mit gutem Beispiel vorangehen würde; denn sein Vermögen überstieg die ja aus der Luft gegriffene Obergrenze sicher um das Dreifache. Allein mit den Häusern in der Luisenstadt würde er sie schon reißen – nach der irrationalen Wertsteigerung der letzten Jahre wohl auch abzüglich der ausstehenden Fremdkapitalbeträge.

Dazu noch sein Haus in Falkenstein, für das man ungefähr sieben Millionen Euro bekäme, und seine Anteile an der Birken Bank, deren Wert bei einem Verkauf in der Nähe von 100 Millionen Euro läge, sodass sie im Falle einer Regierungsbeteiligung der Deutschland AG direkt in den Besitz der GINA übergehen würden.

An Gebunkertem war da nur sein Schließfach in Delaware, auf eine Scheinfirma aus Road Town auf Tortola registriert, in dem exakt 500 Ein-Kilo-Goldbarren lagerten – alte Degussa-Goldbarren aus der Wirtschaftswunderzeit, denen damals noch keine Seriennummern eingeprägt worden waren. Es ging hier aber nicht um Schwarzgeld, denn Steuern zu hinterziehen, das war Victor immer zu billig gewesen. Es ging eher darum, dass er sich an der digitalen Gegenwart störte, in der er nicht mehr die Möglichkeit hatte, spurlos zu verschwinden.

Bevor er Vater geworden war, hatte er den Traum gehabt, alles zu verkaufen, sein Vermögen in Offshorekonten zu verbergen und sich in Luft aufzulösen, nach Amerika zu fliegen, sich einen Lincoln zu kaufen, jahrelang herumzufahren, hin und wieder Wurzeln zu schlagen, neue Leben zu beginnen, als life coach in Sonoma beispielsweise, in einer storefront in einer strip mall neben einer kleinen Weinbar, und dann bei Nacht und Nebel einfach wieder zu verschwinden, ohne dass ihn jemand hätte erreichen können.

Vielleicht sollte er ja proaktiv mit seiner Läuterung beginnen. Vielleicht sollte er ein paar Wohnungen verschenken, an Victoria, Maia, Antonia, an die mit den grauen Haaren möglicherweise. Vielleicht sollte er Valeszka eine Wohnung schenken, oder lieber gleich zwei, damit sie eine davon würde verkaufen können, um die Schenkungssteuer zu bezahlen.

Im Hinblick auf den Geldadel aber würde zweifellos notwendig sein, die Vermögensentnahme symbolisch aufzuladen, mit Ruhm und Ehre und Heimatliebe, um dem Vorgang der erzwungenen Spende einen heroischen Deutungsrahmen zu verleihen. Es würde darum gehen, die Zahlung mit einer protokollarischen Festlichkeit zu verbinden, der Aufnahme der Helden und Heldinnen in den Geheimorden »Himmlischer Wind« möglicherweise, aus strategischen wie aus psychologischen Erwägungen: Wie die Opferbereitschaft der Luftsamurai in den letzten Kriegsmonaten Zweifel in die Herzen der Amerikaner, so würden die finanziellen Selbstopferattacken deutscher Schlachthoferben die Angst vor der Niederlage in die Seelen unserer chinesischen Wettbewerber treiben.

Als Märtyrer der Chancengerechtigkeit würden unsere Oligarchen fortan mit dem höchsten deutschen Orden ausgezeichnet werden, dem ehernen Kirschblütenkreuz am Bande oder dem Ritterkreuz des ehernen Kirschblütenkreuzes am schwarz-roten Bande mit dem goldenen Bundesadler oder was auch immer – die genauen Details der Gestaltung würde der Vorstand der GINA von einer hochkarätigen Expertenkommission ausarbeiten lassen.

Wichtig war allein das Eisen als Material, denn ein Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, und natürlich die Kirschblüte, Symbol des Lebens, der Liebe, der Gruppe, des Rausches, des nahenden Todes sowie der patriotischen Opferbereitschaft. Um vor der finalen Mission ihrer lähmenden Angst Herr zu werden, hatten die Tokkōtai-Spezialtruppen der Marineluftwaffe sich gegenseitig eingeredet, dass sie nicht in einem Feuerball verglühen, sondern wie Kirschblüten im Frühlingswinde verloren gehen würden.

DIE GEDANKENPOLIZEI

Natürlich ist vom Geldadel brutaler Widerstand zu erwarten, denn für kollektive Interessen eintreten, das darf man nicht mehr, das ist ja verboten in unserem Land. Wenn man es wagt, für mehr bürgerliche Kontrolle über die Volkswirtschaft zu argumentieren, wird man sofort einem neoliberalen Schauprozess zugeführt, dessen Richter an die zentrale Vorgabe gebunden ist, den Störenfried für immer aus der Debatte zu katapultieren.

Wenn man es wagt, die Friedhofsruhe des Spätkapitalismus zu stören, springt sofort ein hedonistischer Gedankenpolizist aus dem nächsten Villenvorgarten, um eine Atmosphäre der Einschüchterung zu schaffen und auf diesem Wege unseren demokratischen Prozess zu sabotieren. Man muss sich mittlerweile ernsthaft Sorgen darüber machen, ob man überhaupt noch seine Meinung äußern kann.

Wenn man es wagt, den Sieg im Team zu propagieren, kann man unser Establishment ein Loblied auf die Freiheit der Märkte anstimmen hören, auf deren Funktion der Selbstreinigung, die ja nicht mal bei unseren neuesten Öfen von Miele richtig funktioniert. Hierzu wird folgende Anmerkung gestattet bleiben: Wenn die amerikanische Regierung sich 2008 auf die »Funktion der Selbstreinigung« verlassen hätte, anstatt in letzter Sekunde 700 Milliarden Dollar in den kollabierenden Markt zu pumpen, wäre in Deutschland ein ohrenbetäubendes Schlürfen zu hören gewesen, ein apokalyptischer Strudel, in dessen gurgelndem Rachen unsere Volkswirtschaft einfach verschwunden wäre.

Wenn die Amerikaner damals den Visionen der Reichenlobby gefolgt wären, würden wir Deutsche in unseren Edelstahlküchen heute wässrige Lagersuppen aus einzelnen Kohlblättern zubereiten. Dann würden die Kinder unserer Apotheker und Steuerberater an unseren Autobahnen für eine Handvoll faulender Kartoffelschalen anschaffen gehen.

DAS BUDDENBROOK-SYNDROM

Wenn man den Fehler macht, den Fernseher einzuschalten, hört man unsere Politiker den Erben der Unternehmerfamilien nach dem Munde reden, die angeblich sorgfältiger wirtschafteten, da sie nicht den kurzfristigen Gewinnen, sondern den langfristigen Strategien verpflichtet seien. Hier liegt der Gedanke an die Volkswagen AG nahe, das größte deutsche Familienunternehmen, das in diesem Jahr Strafzahlungen in Höhe von 30 Milliarden Euro an ausländische Regierungen abführen wird – also in etwa den gleichen Betrag, mit dem die Chinesen im selben Zeitraum Zigtausende Arbeitsplätze in der Elektromobilität schaffen werden.

Um das hier mal kurz auszuführen: Die chinesische Regierung befeuert ihren Automobilsektor mit einem revolutionären System aus Kaskaden von ineinandergreifenden Förder- und Strukturmaßnahmen, mit dem langfristigen Ziel, wie nun auf Wikileaks zu lesen war, die deutschen Konkurrenten »zu demütigen und in ihre Auslöschung zu treiben«. Diesem industriepolitischen Taifun haben wir nur marktradikale Denkverbote, illegale Kartellabsprachen und improvisierte Schummel-Module entgegenzusetzen. So werden wir nicht gewinnen, liebe Freundinnen und Freunde.

Im Falle erfolgreicher Unternehmen wird die familiäre Führung natürlich am Ruder bleiben können, sogar die dynastische Nachfolge wird bei entsprechender Eignung möglich bleiben. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass im Blute unternehmerischer Familien oftmals die Erreger des sogenannten Buddenbrook-Syndroms nachzuweisen sind: Die erste Generation baut auf und die zweite erhält, bis die dritte Generation das Bedürfnis entwickelt, sich selbst zu finden, sich zum Musiktherapeuten ausbilden zu lassen, ja, ihren inneren Schmetterling zu befreien.

DIE NATIONALMANNSCHAFT

Wie alle ernsthaften jungen Bürger werden die Kinder unserer Unternehmenserben aber natürlich dazu eingeladen sein, sich um Aufnahme in die Führungsnachwuchsprogramme der GINA zu bemühen, in einem harten und gerechten Prozess, dessen einzige Funktion sein wird, einen fairen Wettbewerb der Tribute untereinander zu gewährleisten. Denn was die Auslese unserer Funktionsträger betrifft, werden wir uns an Ludwig Erhard halten, unseren auch nach drei Litern Lemberger meist noch luziden Gründervater, der dafür plädierte, »alle Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen«.

Wer sich diesem Druck nicht gewachsen fühlt oder aus Überzeugung Altenpfleger werden will, wessen Traum es schon immer war, in seinem Kiez einen Blumenladen aufzumachen, ja, wen die technoide Kälte unserer Exportwirtschaft erschaudern lässt, der wird sich nicht ausgeschlossen fühlen, der wird sich nicht sorgen müssen, liebe Freundinnen und Freunde – da das Führungsteam der GINA, also gleichsam die Mitglieder unserer finanziellen Nationalmannschaft, nicht nur für sich selber oder für irgendwelche Superreichen, sondern für uns alle spielen werden.

DER ZENTRALE INKUBATOR

Unsere Obergrenze für Vermögen bedeutet nicht etwa, dass wir gründerfeindlich wären, im Gegenteil. Denn es wäre eine dumpfe Beleidigung dieser vielschichtigen Persönlichkeiten, ihnen eine vornehmlich finanzielle Motivation zu unterstellen. Aus einem derart irdischen Antrieb werden kein ewiges Leben und auch keine Kolonie im Weltraum resultieren. Die Zielsetzung der Urheber von Revolutionen ist nicht primär, auf Jachten Partys zu feiern, sondern »eine Delle in das Universum zu hauen«, wie es der Gründer von Apple formulierte.

Gerade ein nationaler Investor wird über den Spielraum verfügen, um unseren jungen Pionieren optimale Rahmenbedingungen zu bieten: Schlafsäle, Dampfbäder, Kletterwände, Sonnenterrassen, Lego-Räume, Gewächshäuser, Eisdielen, Malkurse, spirituelle Betreuung, strategische Beratung, einen gewissen Ambientefaktor, eine großzügige Risikokapital- und eine unbürokratische Kreditvergabe, Dojos, Darkrooms, DJs, tantrische Massagen und natürlich kilometerlange Serverbänke unter den Hangars und Schalterhallen des ehemaligen Flughafens Tempelhof, in dem wir unseren Zentralen Inkubator unterbringen werden.

Auch das Silicon Valley ist ja als gelenkter Wirtschaftsraum zu verstehen, als mit einer libertären Tarnidentität versehener militärisch-nachrichtendienstlicher Komplex, dessen Entwicklung maßgeblich vom sogenannten schwarzen Budget der amerikanischen Sicherheitsorgane befeuert wird. Nicht der Urheber der nächsten App ist der Treiber der kalifornischen Digitalwirtschaft, sondern die staatliche Fondsgesellschaft In-Q-Tel, der Investmentarm des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes, dessen Zielsetzung mit seinem Projekt »Silicon Valley« von Beginn an gewesen ist, die Geschichte des amerikanischen Imperiums weiterzuschreiben.

MADE IN GERMANY 2030

In gefährlichen Zeiten einen strategischen Masterplan implementieren, um unsere Zukunft zu sichern, ja, um rücksichtslosen Wettbewerbern gegenüber die ökonomischen Interessen unserer Bevölkerung zu wahren – wer soll das leisten? Unsere Milliardenerben, von ihren Jachten aus vielleicht? Die »freien Märkte«? Unsere müden Regierungsparteien? Das Investorensyndikat Blackrock, dessen deutsche Strukturen von bezahlten Unionspolitikern gesteuert werden?

Die Wahrheit ist: Ohne eine unternehmerische Regierung wird unsere Heimat in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Ohne eine kollektive Anstrengung wird Deutschland als Agrarwirtschaft enden, als Grimm’sche Märchenzone mit Flatrate-Bordellen auf den Waldeslichtungen, in die Mittelklasse-Chinesen reisen werden, um sich unseren schmackhaften Sülzen und herben Bieren hinzugeben.

Jetzt fehlte nur noch das Flüchtlingsthema, bei dem sich nach Jahren der erbitterten Auseinandersetzungen auf einmal alle einig zu sein schienen. Um hier noch die Ränder abzufischen, ohne dabei die Mehrheit zu verlieren, würde es darum gehen, unstrittige Positionen – etwa die Verurteilung extremistischer Gewalt – rhetorisch anzuschärfen, um in den Hirnen der insgeheim Fremdenfeindlichen einen Placebo-Effekt zu erzielen.

Und er würde dabei nicht mal übertreiben müssen, da er ja schon im Wirtschaftsteil des Traktats darauf geachtet hatte, seine Sprache mit Folklore aufzuladen: Volk, Heimat, Leergut, Braten, Leistung, Autobahnen, der goldene Bundesadler, sogar die Weihnachtspyramiden hatte Victor erwähnt, die im Harz produziert wurden, wo ja die Walpurgisnacht stattfand – mehr deutsche Identität war kaum vorstellbar.

Es würde darum gehen, mit dieser Motivik unbemerkt an die Antagonismus-Rezeptoren in den aufgebrachten Hirnen anzudocken, um wie Methadon ein Verlangen zu befriedigen, ohne den betreffenden Wirkstoff zu verabreichen – ohne sich inhaltlich also jemals von einer moderaten Mainstream-Meinung zu entfernen.

CORPORATE IDENTITY

In der Debatte über Zuwanderung hat sich unsere Demokratie allen Befürchtungen zum Trotze als lebendig und widerstandsfähig erwiesen. In unserer Bevölkerung hat sich ein ausgewogener Konsens durchgesetzt, der den Ansprüchen genügt, denen wir als Kulturnation gerecht werden müssen, um vor uns selber bestehen zu können.

Natürlich werden wir Menschen, in deren Heimatländern blutige Konflikte wüten, weiterhin unseren Schutz zuteilwerden lassen, wobei ein Bleiberecht über den Wegfall des Asylgrundes hinaus von der individuellen Integrationsperspektive abhängen wird. Um im Bilde des unternehmerischen Staates zu bleiben: Wie ein Konzern bei Neueinstellungen werden wir genau darauf achten, ob Bewerber und Bewerberinnen zu uns passen, ja, ob sie bereit dazu sind, unsere über Generationen gewachsene corporate identity zu vertreten.

Die illegale Einwanderung hingegen werden wir konsequent unterbinden, durch eine lückenlose Sicherung der europäischen Außengrenzen sowie durch Abkommen mit Ägypten, Tunesien, Algerien, Libyen, Marokko, Niger, Mali und dem Sudan, die mit der Entsendung von deutschen Sicherheitsexperten einhergehen werden, von Mitarbeitern unserer Anbieter von Radarsystemen, Splitterschutzwesten, Panzerwagen, Nachtsichtgeräten, Schutzbarrieren, Drohnentechnik und Überwachungselektronik.

Unsere Werften werden keine Oligarchenjachten mehr konstruieren, sondern eine Armada aus Seenotrettungskreuzern, deren Mission sein wird, auf dem Mittelmeer die Seelenverkäufer der Schlepper abzufangen, um deren Passagiere in die einzurichtenden Sammellager der Europäischen Union entlang der Küsten Nordafrikas zu bringen.

Anstatt sich auf morschen Kähnen dem Tode zu weihen, werden sich Reisende in diesen Lagern bei Deutschland bewerben können, in fairen und transparenten Verfahren, die sie mit Hilfe ebenso höflicher wie kapabler deutscher Verwaltungskräfte navigieren werden. Das resultierende Kontingent der Integrationsfähigen werden wir dann durch ein humanitäres abrunden, aus allein reisenden Kindern, um der Welt ein freundliches Gesicht zu zeigen.

NAKED YOGA

Was uns hingegen sehr unfreundlich stimmen wird, sind extremistische Umtriebe, ganz egal, ob sich ihre Urheber ein Hakenkreuz oder einen Krummsäbel auf die Fahnen schreiben. Wer in seinem Partykeller in Wurzelroda einen Brandsatz konstruiert, um diesen in ein Asylbewerberheim zu feuern, wird fortan mit keiner Milde rechnen können, ebenso wenig wie ein Asylbewerber, den die souveräne Ausstrahlung berufstätiger Frauen zu blindwütigen Übergriffen verleitet.

Wer sich einbildet, einen jüdischen Friedhof schänden zu können oder in unseren Wäldern debile Nazi-Spielchen auszurichten, wird in Zukunft die harte Hand unserer Strafverfolger in seinem Nacken spüren, deren Budget wir erhöhen, deren Kompetenzen wir ausweiten und deren Personaldecke wir stärken werden.

Und wer meint, er habe das Recht, seine Frau mit einem Za’atar-Mörser zu bearbeiten, da sie sich ohne die schwarze Kutte in die Fußgängerzone vorgewagt hat, für den werden wir einen schönen Platz in einem libyschen Flüchtlingslager finden, liebe Freundinnen und Freunde. Hierzu wird notwendig sein, unsere Abschiebepraxis konsequent zu flexibilisieren.

Es geht uns nicht um politisch korrekte Phantomdebatten, sondern zum Beispiel darum, dass die grüne Multikulturalistin nach Einbruch der Dunkelheit auf ihrem Einrad weiterhin vom Naked Yoga zum Ayahuasca-Happening fahren kann, ohne von radikalisierten Kleinkriminellen rituell ermordet zu werden.

DIE KNUTE

Wer als Imam den Boden unseres Grundgesetzes verlässt, den werden wir vom Boden unseres Staatsgebietes entfernen, liebe Freundinnen und Freunde. Und auch der Finanzierung von deutschen Moscheen durch arabische Diktaturen werden wir in Zukunft enge Grenzen ziehen: Für jede Genehmigung werden wir von unseren Partnern in ihrem eigenen Lande ein gewichtiges Signal der Toleranz für unsere Zivilreligion der individuellen Freiheit erwarten, bei dem es sich etwa um das Ausrichten einer opulenten Parade aus Anlass des Christopher Street Day wird handeln können.

Gerade in einer Gesellschaft wie Saudi-Arabien, in der Schwule gekreuzigt werden, obwohl einer aktuellen Studie des Militärkrankenhauses in Dschidda zufolge die Mehrzahl aller saudischen Männer zur homosexuellen Liebe tendiert, könnte eine solche Parade eine heilsame Katharsis einleiten.

Wenn über Riad die Sonne zu sinken beginnt, steigen die Beduinen paarweise in babyblaue Biturbo-Mercedesse, um auf glühenden Asphaltbändern in Richtung entlegener Wüstentäler zu beschleunigen. In Zelten aus Brokat treffen dann ihre wolkengleichen Leiber aufeinander, die Verzückung lässt ihre Fettpolster wogen wie die Arabische See, während ihre deutschen Maschinen draußen auf dem Sande in jeder Millisekunde Tausende von operativen Parametern an die Zentrale in Untertürkheim funken.

Wer mit Aggressionen gegen unsere schwulen Brüder danach trachtet, seine innere Zerrissenheit zu kurieren, den werden wir Deutschen nicht mehr mit einer verständnisvollen Therapeutin, sondern mit einem Knebel aus Latex bekannt machen, mit einer geflochtenen Knute, mit einer Haselnussrute, liebe Freundinnen und Freunde.

Was wir allerdings nicht brauchen, um den puritanischen Gefahren zu begegnen, sind die lachhaften Playmobil-Nazis aus den Reihen unserer Rechtspopulisten, verkrachte Existenzen, die gegen die deutsche Erbsünde anmosern, um sich auf billige Weise als »unbequem« zu profilieren. Wir brauchen keine naseweisen Vollidioten, die sich mit Holocaust-Provokationen in die Presse mogeln, um sich auf Kosten der Steuerzahler dann an irgendeinen Sessel zu kleben. So werden wir nicht gewinnen, liebe Freundinnen und Freunde.

DER KOLIBRI

Wem der Klang einer Frauenstimme als dämonische Verführung gilt, der kann uns Deutschen gestohlen bleiben. Wer sich einbildet, seine minderjährige Tochter verheiraten zu können, um sich von der Mitgift einen vierflutigen Sportauspuff zu leisten, wird umgehend mit der Holzklasse der Ariana Afghan Airways Bekanntschaft machen. Wer die Annahme trifft, seine Gattin verprügeln zu können, da sie zum Hammel das falsche Ziegenjoghurt gereicht hat, den werden wir in seine Wüste zurücktreiben.

Diese Maßnahmen mögen als politisch inkorrekt erscheinen, aber: Wie politisch korrekt ist bitte der mittelalterliche Islam? Wie politisch korrekt ist es, junge Mädchen wegen Verstößen gegen die Schminkverordnung auf öffentlichen Plätzen lustvoll mit Tausenden von Peitschenhieben zu fleddern, während in den Mündern der Gaffer die Dattelkerne von Backe zu Backe wandern?

Wer sich erlaubt, unseren Frauen auch nur die Laune zu verderben, den werden wir unseres Landes verweisen. Ja, wer beim Anblick einer Klitoris an Beschneidungswerkzeuge denkt und nicht an den eigenen verwöhnenden, Kolibri-gleichen Zungenschlag, für den werden wir in unserer Gesellschaft keine Verwendung haben. Der soll bleiben, wo der Pfeffer wächst, liebe Freundinnen und Freunde.

DIE WÖLFE

Denn wir deutschen Männer verehren unsere Gefährtinnen, unsere Mütter und Töchter, unsere Freundinnen und Kolleginnen. Unsere Frauen haben uns zu modernen Männern erzogen, die sich nicht nur durch ihre Leistungsbereitschaft, sondern auch durch ihre Frustrationstoleranz auszeichnen. Die im Konfliktfall nicht reflexartig zur Peitsche, sondern kontrolliert zur Flasche greifen.

Wenn unsere Frauen uns die kalte Schulter zeigen, um sich ihre Optionen offenzuhalten, dann können wir das ertragen, liebe Freundinnen und Freunde. Dann führen wir sie nicht in ein verlassenes Fußballstadion, um sie vor den Kameraden mit einer Kalaschnikow zu durchsieben. Dann buddeln wir sie nicht bis zum Halse ein, um ihnen bis zum Eintritt des Todes tennisballgroße Steine an den Kopf zu werfen.

Wenn unsere Frauen den Entschluss getroffen haben, uns ihre Karrieren vorzuziehen, dann müssen wir sie darin bekräftigen. Dann müssen wir ihnen gratulieren. Ohne zu klagen. Ohne zu weinen. Dann müssen wir uns an unseren großartigen Bieren festhalten, an unseren famosen Bränden, an unseren furiosen Steilterrassenweinen. Wir Deutsche haben keine Angst vor der Schwermut, liebe Habibis und Habibtis.

Wenn unsere Frauen uns seelische Wunden schlagen, dann schließen wir die Augen, dann sind wir frei. Dann verschwinden wir. Dann sind wir junge Zweige, die sich im Morgenwinde wiegen. Dann sind wir Brunnen, die rauschen. Dann sind wir silberne Wölfe, liebe Freundinnen und Freunde, die mit entblößten Eckzähnen auf den Gipfellinien unserer Hügelketten patrouillieren.

Victor hatte die Eingebung, das Manifest an Ali Osman zu schicken, seinen alten Freund, mit dem er während ihrer Jahre an der LSE in einer Beletage in der Ledbury Road zusammengewohnt hatte. Mit schiefen Böden und Mäusen und ohne Wasserdruck, der typische Londoner Drittweltstandard, aber für zwei 19-Jährige war das schon eine ziemlich feudale Wohnung gewesen, eine Altbauetage in der Nähe der Pharmacy, einer Bar, die Damien Hirst wie eine Apotheke eingerichtet und die sich ein Schlupfloch in der britischen Drogengesetzgebung zunutze gemacht hatte, um sich auf halluzinogene Absinth-Cocktails zu spezialisieren.

Ohne dies zu planen, ja, ohne irgendetwas zu wissen, hatten sich die beiden Studenten im Epizentrum des seltsamen kulturellen Höhenfluges angesiedelt, den England damals erlebte. Gegenüber wohnte Stella McCartney, aber ein paar Häuser weiter ragte ein Sozialwohnblock empor, in dem man sich bei jamaikanischen Großfamilien mit Marihuana eindecken konnte. Und überall wurden Spielfilme gedreht, vor verrauchten Pubs, in denen man noch mit echten Arbeitern saufen konnte, Klempnern und Rohrlegern mit jeweils zwei, maximal aber drei Zähnen.

Für die Miete hatte Victor sein bescheidenes Erbe verbraten, anders als Ali, der einer wohlhabenden Familie entstammte. Sein Großvater Kadir war im Jahr 1964 aus Vezirköprü nach West-Berlin gekommen, mit einer groben Pferdedecke über seinen kräftigen Schultern, mit einem deutschen Vokabular, das nur aus »Achtung«, »Hitler«, »Bratwurst« und »Scheiße« bestanden hatte, mit seiner Frau und sieben Kindern, um als Löter bei Siemens in die deutsche Wirtschaft einzusteigen.

Seine Söhne machten sich später in der Gastronomie selbstständig, mit einem – wie sich herausstellen sollte – disruptiven Konzept, das sie zu Hause mit ihrer Mama entwickelt hatten: Die Sehnsucht nach bewusster Ernährung sowie die Megatrends Beschleunigung und Prekarisierung vorausahnend, hatte die Küchenrunde eine preiswerte Grillmahlzeit im Fladenbrot ersonnen, die nicht nur alle relevanten Lebensmittelgruppen in sich vereinte, sondern auch ideal zum hektischen Verzehr etwa in der U-Bahn geeignet war.

Natürlich ist hier vom Döner die Rede, der nach seiner Lancierung durch den Osman-Klan zum stärksten Umsatzbringer im deutschen Fastfood-Bereich aufsteigen und dabei die imperialistischen Klopse-Kraken auf die Plätze verweisen würde, trotz der höheren kulturellen Legitimität des Cheeseburgers, die sich ja immerhin aus dem Sieg der Alliierten über das Nazi-Regime speiste.

Die Osman-Brüder brannten dafür, die kulinarische Einöde ihrer neuen Heimatstadt mit Oasen der kühlenden Joghurtcrème zu bereichern, der erdigen Grillnoten und der provokativen Knoblaucharomen. Dem in Berlin vorherrschenden Kantinenfraß à la Hackbraten in brauner Soße wollten die Gründer einen Akkord aus sinnlicher Paprika und pikantem Mutterkümmel entgegenstellen sowie der Frische der knackigen Weißkohlkomponente, die mit ihrer anregenden Wirkung auf die Verdauung den entscheidenden Beitrag zur erstaunlichen Bekömmlichkeit dieser doch ziemlich deftigen Kombination leistete.

Mit Gründlichkeit, Höflichkeit, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Vorfreude und Gelassenheit trieben die Osman-Brüder dabei die vertikale Integration ihrer Unternehmensgruppe voran, um ihre Fahne in immer weitere Stufen der Wertschöpfungskette zu pflanzen, von Bäckereien und Fleischverarbeitungsbetrieben bis hin zur Entwicklung fortschrittlicher Drehspießproduktlinien, die sie nicht etwa in Guangzhou fertigen ließen, sondern in der alten Schokoladenfabrik in der Urbanstraße, auf deren Dach als Menetekel ein überdimensionaler Neon-Dönerspieß in den Kreuzberger Himmel ragte.

Alis Vater hatte dessen Hälfte der Miete daher einfach direkt überwiesen, und wenn Victor am Ende des Monats mal wieder pleite gewesen war, hatten die beiden am Notting Hill Gate immer feierlich ein Shawarma gegessen, um auf Alis Osman-Group-Firmenkreditkarte dann wie auf einem fliegenden Teppich in die Pharmacy einzusegeln.

Die beiden waren schon am orientation day ins Gespräch gekommen, in der Schlange zur Anmeldung bei der debate society, in der Ali durch einen finsteren Auftritt Wochen später zur Legende geworden war, durch eine Debatte, die er mit sich selber geführt hatte; an das genaue Thema konnte sich Victor nicht mehr erinnern. Auf jede seiner unstrittigen Thesen hatte Ali deren einleuchtendes Negativ folgen lassen, auf jeden gerechtfertigten Standpunkt dessen über jeden Zweifel erhabenes Gegenteil, bis sich mitten in der Realität ein schwarzes Loch gebildet hatte.

An seinem Mitbewohner hatte Victor auch dessen Naturtalent zum Milieuwechsel beeindruckt, denn mit 14 hatte Ali nach der Schule ja wirklich am Drehspieß gestanden, und nun saß er neben Victor zum Beispiel in Chelsea bei einer ihrer Professorinnen zu Hause, die mit dem Chef von Cazenove & Company verheiratet war. Im Cheyne Walk, auf bronzenem Chintz, in dem chinaroten Cocktailzimmer, in dem sie ihre Vorlesungen über comparative economic systems zu näseln pflegte und in das der Türkenjunge vom Kottbusser Tor so gut hineinpasste, als ob er der achte Earl von Irgendwas gewesen wäre.

Nach seinem Abschluss hatte Ali in London für den Economist und in New York für den Spiegel gearbeitet, um sich für die Grünen im Berliner Wahlkreis 83 dann um ein Direktmandat für den Bundestag zu bewerben, das er mit links gewonnen hatte, gleichsam auf Lebenszeit: Ein Kreuzberger Junge, der es vom Maybachufer bis nach Manhattan geschafft hatte, aber aus Heimweh und Lokalpatriotismus in seinen Kiez zurückgekehrt war – gegen dieses Figurenprofil waren seine politischen Konkurrenten fortan ohne Chancen geblieben.

Seine privilegierte Herkunft hatte ihm dabei nicht im Wege gestanden, da die Osman Group, die seit der Jahrtausendwende zu den größten Vermietern in Kreuzberg zählte, nicht nur eine moderate Mietpreispolitik, sondern auch hohe Standards bei der Instandhaltung zu ihren Markenzeichen gemacht hatte.

Für ein paar Jahre hatte Ali den Fraktionsvorsitz innegehabt, ihn aber nach der Katastrophe in Fukushima abgegeben, um sich wieder stärker in den elterlichen Betrieb einzubringen. Vor allem in die Stiftung seiner Familie, die er in Anlehnung an die Düring Foundation aus Homeland auf den Namen Dürüm Foundation getauft hatte und deren Mission es war, begabte Jugendliche aus problematischen Kreuzberger Verhältnissen an internationalen Eliteuniversitäten unterzubringen.

Der wirkliche Grund für den Rückzug war gewesen, dass Ali die Grünen nicht ertragen konnte, und schon gar nicht im Rausche des Triumphes, den der Tsunami für sie bedeutet hatte: Die Sintflut in Japan, mit der die Natur ihre Rache genommen habe, für das Schindluder, das wir mit ihr trieben, war für viele Grüne die heiß ersehnte kosmische Validierung ihres gerechten Kampfes gewesen.

Alis Wahlsiege hatten ihn unabhängig gemacht, er fühlte sich auch nicht an die programmatischen Linien der Partei gebunden, sodass er mit einer Artikelserie in der Zeit im Jahr zuvor einfach mal damit begonnen hatte, den politischen Diskurs in Deutschland von Bullshit zu bereinigen. Bei der Integration hatte er dank seines Migrationshintergrundes zum Beispiel für strenge Regeln und harte Sanktionen argumentieren können, ohne Anstoß bei der grünen Basis zu erregen, was ein Kunststück gewesen war, da Grenzen für viele Grüne ein Fetisch homophober Spießer waren, denen wohl am ehesten mit einer taoistischen Prostatamassage geholfen wäre.

Ali hatte den Deutschen eine Abfolge reinigender »Endlich sagt’s mal einer«-Augenblicke beschert, was seine ohnehin schon hohen Sympathiewerte auf Bundesebene ins Enorme gesteigert hatte. Vor allem Frauen fühlten sich zu ihm hingezogen, der als Junge mit seiner Mama, vier Schwestern, drei Tanten und elf Cousinen unter einem Dach gelebt hatte, der mühelos von Sohn auf Bruder auf Gigolo umschalten konnte oder seine Spezialität, den perfekten deutschen Schwiegersohn zum Besten geben. Und hey, Ali war schön, aber nicht auf harmlose Weise, denn hinter seiner gefälligen Latin-Lover-Visage war immer eine archaische Prise Räuber Hotzenplotz zu erahnen.

Victor tippte »Der Hessische Landbote« in die Betreffzeile, und als er auf »Senden« drückte, klingelte es an der Tür, sodass der Eindruck entstand, als ob der »Senden«-Knopf seiner Inbox mit der Klingel seiner Suite verbunden gewesen wäre. Im Jahr zuvor hatte das Adlon den obersten Entenmeister der Jing-Jin-Ji Central Duck Canteen abgeworben, und als Victor sich beim Durchwehen der Suite nun ausmalte, wie seine Zähne durch mürben Reisteig, saftiges Keulenfleisch, knusprige Haut, milde Frühlingszwiebeln und knackige Gurken dringen, während die sämig-kühle Hoisin sich an seinen Gaumen schmiegen würde, schauderte er vor Wohlgefallen.

Ein chinesisches Landschaftspanorama flackerte durch seine Wahrnehmung, auf einer zartrosafarbenen Seidenrolle, mit U-Boot-Werften und Sonderwirtschaftszonen und Bambushainen und Entenküken, die sich unter kitschigen Wasserfällen vor feuerspeienden Drachen verbargen.

Der chinesische Meister hatte für seine Arbeit den historischen Luftschutzkeller unter dem Hotel requiriert, um einen Ablauf zu implementieren, der auf dem in der Yuan-Dynastie entwickelten Shaoyazi-Verfahren basierte: Nach einer Kindheit in Mecklenburg, wo sie frohen Mutes auf einem klaren See umherpaddelten, wurden die Enten im Adlon angeliefert, wo sie mit Garnelen gestopft und in winzigen Käfigen gehalten wurden, um sie aufzublähen und dabei ihre Muskeln atrophieren zu lassen.

Dann wurden sie getötet, gerupft, massiert, entleibt, zugenäht, aufgeblasen, blanchiert, getrocknet und eingepinselt, bevor die Wärter ihnen filigrane Eisenhaken in die Schädel hämmerten, um sie an diesen in der Kaverne des Felsenofens aufzuhängen. Für dessen Abluft hatte die Kempinski-Gruppe den Bau eines Schornsteins genehmigt, der bis über die Papp-Dachgaube hinaus gemauert worden war, um durchreisenden Flugenten mit dem Aroma garender Artgenossen Feindesland zu signalisieren.