Am folgenden Sonntag fuhr Victor an der Friedhofsmauer entlang, in der Berliner Dämmerung, nach ein paar Engelhardt mit Ali im Bierhaus Urban, wo unter den auf ihren Barhockern alteingesessenen Hartzern eine tadellose Schnorrer-Etikette vorherrschte: Wenn ein Fremder das Lokal betrat, der Anzeichen des Wohlstandes oder zumindest der Berufstätigkeit zeigte, also ein sauberes Jackett oder gepflegte Haut oder die Welt am Sonntag, wagte in zuvor offenbar abgesprochener Reihenfolge einer der Hartzer die höfliche Ansprache: »Moin Meister, ’tschuldige die Störung, aber könntste mir vielleicht mal ’n kleines Schultheiss ausgeben?«
Wenn er bejahte, und die Schwelle war niedrig, denn eine schöne 0,3er-Tulpe Schultheiss kostete nur 1 Euro 40 – taktisch klug, da Genügsamkeit suggerierend, fragten die Arbeitslosen nicht nach dem höher positionierten Engelhardt –, wurde der Fremde sofort als »korrekt« und »sozial« kategorisiert und konnte sich für den Rest seines Aufenthaltes ohne weitere Störungen am Tresen in seine Zeitung vertiefen.
Dieses ausgewogene Reglement, nach dem man pro Besuch nur einmal angesprochen wurde, hatte Victor und Ali wie immer in eine bejahende Laune versetzt, sodass sie noch drei Lokalrunden Jägermeister geschmissen hatten, allerdings nach dem Retard-Prinzip, das bei Arzneimitteln die verzögerte Freisetzung eines Wirkstoffes bezeichnet: Sie hatten ihre Wohltat mit der Schankkraft diskret vereinbart und vorab bezahlt, um vor der Bekanntgabe schon wieder wie Phantome von der Metropole verschluckt worden zu sein.
Und nun radelte Victor an den Mausoleen entlang, mit dem behaglichen Gefühl einer leichten Alkoholisierung, die er noch feierlich zu untermauern vorhatte. Aus der Bar im ehemaligen Totengräberhaus kamen die üblichen Sirenengesänge, Gläsergeklirr und Eiswürfelgeklimper, aber er ließ sich nicht locken, denn er wusste ja, was dann passieren würde, und er wollte am nächsten Tag keinen lähmenden Kater haben. Er begann, eine Melodie aus Schwanensee zu pfeifen, während nacheinander, als habe sein Karma sie im Vorbeisegeln zum Leben erweckt, die historischen Gaslaternen angingen.
Schon länger machte er sich über sein eigenes Mausoleum Gedanken, das ihm als Tempel aus Schiefer vorschwebte, in einem minimalistischen Klassizismus gehalten und von hohen, aber filigranen Birken umgeben. Mit VICTOR statt Alpha und Omega in seinem Tympanon, gemeißelt aus der Perpetua. Mit einem schattigen Portikus, in dem ein Gong aus der Tang-Dynastie aufgehängt wäre, und einem ehernen Flügeltor, das an jedem Tag im Jahr um dieselbe Uhrzeit geöffnet werden würde, um den Blick auf einen mächtigen, bronzenen Zapfhahn freizugeben.
Zur genauen Tages- oder Nachtzeit seines Todes, gleichsam zur cocktail hour, würde der Tempelwärter den Schlägel auf den Gong sausen lassen, um Durstige anzulocken, Versprengte und Verlorene, und im durch das Beiglas der Deckenöffnungen fallenden Sonnen- oder Mondeslichte dann die gebürsteten Edelstahlkrüge füllen, jeweils exakt eine Stunde lang, mit blassgoldenem, geradezu metallurgischem Moselriesling.
In den Tagen nach dem Partners’ Meeting hatte Victor noch die Outline des großen Pitches für den Finanzminister geschrieben und dessen Umsetzung einem Team seiner Galeerensklaven übertragen, unter dem strengen und, wenn er sich nicht getäuscht hatte, eher widerwilligen Kommando der Grauhaarigen, die offenbar Schwierigkeiten damit hatte, ihren Glauben an den deregulierten Markt hinter sich zu lassen, der ihr möglicherweise schon während ihrer Jugend als Lehrerkind in der Reihenhausscheibe das ferne Leuchtfeuer ihrer außergewöhnlichen Zukunft gewesen war.
Dann hatte er sich für zwei Wochen nach Berlin verabschiedet, um seine Situation zu hinterfragen – das Saturierte, das Determinierte –, um die Auseinandersetzung mit der Gegenwart als erotisches Erlebnis wahrzunehmen, um sich an den zeitgenössischen Ausstellungen zu reiben, dann aber auch die Rätselhaftigkeit auszuhalten, die Uneindeutigkeit – solche Aussagen hatte er seinen Partnern gegenüber tatsächlich von sich gegeben, wofür er sich jetzt sogar ein bisschen schämte.
In Wahrheit hatte Victor nichts anderes vor, als endlich an seinem Roman zu arbeiten: Innerhalb von zehn Tagen wollte er einen Auszug von ungefähr 20 Seiten fertigstellen, da er sich dann zum Lunch mit einer Lektorin treffen würde, die das literarische Programm eines der 250 Verlage der Bertelsmann SE verantwortete. Das war natürlich nicht sein Traumverlag, aber zufällig hatte die M&A-Chefin von Bertelsmann sich bei der Birken Bank beworben, und Victor war gleich sehr nett zu ihr gewesen und hatte sie dann erst mal gebeten, ihm diesen Termin zu organisieren.
Er schulterte sein Fahrrad, drehte den Bartschlüssel im rumpelnden Schloss und eilte hinauf in den dritten Stock, über das brüchige Linoleum – er hatte keine Sanierung in Auftrag gegeben, denn er wollte kein unattraktives Yuppievolk um sich haben. Er ließ den Mantel an, als er seine Wohnung betrat, holte sich ein kühles Engelhardt und setzte sich auf den Balkon, um über das Obeliskenfeld hinauszublicken, hinter dem der Radarturm des stillgelegten Flughafens zum Monde emporragte.
Endlich war er entkommen! Für Victor war jedes Mal erstaunlich, dass sein Bankerleben ihm schon nach einem Tag in Kreuzberg als irreal erschien, als hätte er das gar nicht erlebt, sondern nur einen Film darüber gesehen.
Und auch sein Roman würde sich um das Entkommen drehen, um das Ausweichen, das Sich-Verlieren – und sei es im Detail, in der Oberflächenstruktur einer schlampigen Schweißnaht auf der Brücke von U-959 zum Beispiel, an der sich der Kapitänleutnant in der Dünung vor Fire Island seine Hand aufschneidet, während der Lauf der Vordeckskanone aus der Verankerung reißt und wie ein Rodeo-Bock auf und ab zu schlagen beginnt.
Oder im Marine-Planquadrat CB 38, an Bord der Bremen, im Rauchsalon der ersten Klasse, im gefrästen Relief eines Birkenwaldes in der Kaminumrandung, und dann in den wachen Augen seiner Emigrantin, die schon genau den richtigen Amerikaner identifiziert hat, um ihr während der gesamten Überfahrt die Drinks zu spendieren. Siehe da, sie streift ihre Schuhe ab, vor dem Kamin, um ihre langen Zehen in den Seidenteppich zu graben.
Sowohl die Bremen als auch U-959 waren bei Deschimag an der Weser gebaut worden und somit gleichsam im selben Krankenhaus zur Welt gekommen, wie ja auch seine Protagonisten im Berliner Virchow-Klinikum, und es reizte Victor, noch hundert weitere Bögen zwischen ihren parallelen Auslöschungserfahrungen zu schlagen, ohne schon eine Ahnung zu haben, wohin das am Ende führen würde.
Er hatte nicht vor, die Gesellschaft abzubilden, er interessierte sich für das Verschwinden und für das, was seine Figuren vorfinden, nachdem sie verschwunden sind – nicht die Erkenntnis oder etwas in dieser Richtung, sondern das Surren der Generatoren in Schleichfahrt durch den Bodennebel im Naturhafen vor der kaum glaubhaften Felsenstadtkulisse, deren Strahlen der Kapitänleutnant schon weit draußen auf dem Atlantik wie einen Lavadom aus den Fluten hatte emporwachsen sehen.
Er interessierte sich für Trümmer, für Fetische, für literarische Kenotaphe, für die sich überlagernden Stimmungen alternativer Wirklichkeiten. Er interessierte sich für das Tuckern der Diesel der Muschelkutter und das Ruckeln der U-Bahnen auf den Eisenträgern unter den mächtigen Brücken dieser vulkanischen Traumlandschaft. Doch Moment, was ist das? Seltsame Rufe, fremdartige Stimmen auf dem schwarzen Wasser.
Zwei Indianer nehmen Kurs auf U-959, in einem Einbaum aus Ahorn, vom Stamme der Montaukett, die beschlossen haben, den unautorisierten Eindringling seiner sofortigen Vernichtung zuzuführen – allein schon der Zauberwal, auf dem er da so hoffärtig thront, das können sie ja unmöglich stehen lassen. Der Pfeil mit dem Krötensekret beginnt seine Flugbahn, der Kapitänleutnant spürt ein Brennen an seiner Halsschlagader und – nein, das mit den Indianern war too much, das würde er wieder streichen.
Derweil, keine zwei Meilen entfernt: der Tresen. Von deutscher Hand gezimmert, denn das Schreinerhandwerk ist wie das Gastgewerbe in Manhattan von deutschen Einwanderern dominiert, oftmals lakonischen Hessen, die an freien Tagen mit dem Zug nach Upstate fahren, um ihre Streuobstwiesen zu pflegen. Der Blick der Emigrantin verliert sich im Flackern des Kaminfeuers, und auf dem Gobelin über den waldgrünen Sitzecken ist eine Art Volksfest auf einer Pfälzer Burgruine zu sehen.
Überall in der Stadt sind die Klänge des Hafens zu hören, das Poltern und Knarren, das Brüllen und Schlagen, das Schlürfen der Münder der feisten Männer in den zahllosen Austernlokalen, und wenn die Protagonistin im Morgengrauen nach Hause läuft, galoppieren ihr Rotten aus tollwütigen Hafenratten entgegen. Gebirge aus Eisenschrott schimmern in den Parkanlagen, aus Töpfen und Trambahnschienen und Fassadenelementen – rituelle Opfergaben der urbanen Elite an die sich gelassen hochfahrende amerikanische Kriegsmaschine.
Victor interessierte sich für lange Umwege, auf denen unklar bleibt, ob die Geschichte wieder ihren Ausgangspunkt berühren wird – obwohl er an eine gewisse Philopatrie der Erzählung glaubte, nicht ungleich jener des Atlantiklachses: Nach ausgedehnten Ozeanreisen, die ihn bis in die Gewässer vor Grönland führen, kehrt der erwachsene Atlantiklachs in den Fluss seiner Geburt zurück, mit Hilfe kosmischer Magnetfelder, mit traumwandlerischer Zielgenauigkeit, um vor seinem Tode ein letztes Mal das Kiesbett seiner Kindheit zu sehen.
Victors Emigrantin aber würde nie mehr nach Hause gehen, sie würde in Manhattan ihre Runden drehen, wo sie keine Freunde hat, wo sie mit der Stadt zusammenlebt, wo sie nach der Arbeit an jedem Abend feierlich an einem Zeitungsverschlag Halt macht, um sich die New York Times zu kaufen und sich in ihrem Stammlokal dann tief in das Geschehen hineinzulesen.
Vom hervorragenden Archivservice der Times hatte sich Victor das komplette Jahr 1944 kommen lassen, in großformatigen Leinenbänden, in denen er jetzt unentwegt las, wie sonst immer in den Tageszeitungen. In seinen Augen gab es keine wirkungsvollere Art, in die Vergangenheit zu reisen – natürlich hätte er auch Romane aus diesem Jahr lesen können oder sich Filme aus diesem Jahr ansehen, aber das geballte und ritualisierte Zeitungslesen zog einen am ehesten in eine fremde Zeit hinein, wie ja auch in die eigene.
Victor lebte asketisch in diesen Tagen. Er stand früh auf, zog sich einen Scheitel, zog sich eine Jogginghose an, kochte sich Kaffee, las sich auf dem Klo an jedem Morgen in eine neue Kalenderwoche hinein, pochierte sich zwei Eier, ließ diese auf krustigem Sanssouci-Brot zerlaufen und setzte sich an seinen Eiermann-Schreibtisch, der in einem ansonsten unmöblierten Zimmer stand, das ursprünglich wohl das Esszimmer der ehemaligen Offizierswohnung gewesen war.
Er schrieb mit Bleistiften auf 240-Gramm-Bögen, auf die er zuvor jeweils eine vertikale Linie gezogen hatte, mit diesen Tuschemarkern aus der Serie der artist pens von Faber-Castell, in forest green oder gunmetal grey, um einen breiten Rand für Abwege und Anflüge zu definieren. Nach einem Spaziergang und einem schnellen Lunch setzte sich Victor dann an sein goldenes Air, um die Seiten des Vormittages ins Reine zu schreiben.
Am Abend fuhr er mit dem Fahrrad umher und kaufte sich bei der Bio Company regionales Gemüse, diese Radicchio-Chicorée-Zwitterpflanzen zum Beispiel, zu denen er sich eine sämige Dijon-Vinaigrette anrührte, oder blaue Karotten aus den Lehmböden der Mecklenburgischen Seenplatte, die er im Ofen bei niedriger Temperatur so lange eintrocknen ließ, bis sie einen konzentrierten Eigengeschmack aufwiesen, während die Schärfe gemahlener Chilis die karamellisierte Miso-Note der filigranen Pfahlwurzeln drangsalierte.
Zum Einschlafen las er die Times und trank Weine aus dem Roussillon – das überraschte ihn selbst am meisten, denn wenn er zuvor schon mal an Weine aus dem Roussillon gedacht hätte, was er nicht getan hatte, dann wären ihm harte und rustikale Weine vorgeschwebt, Weine zur Selbstgedrehten, Weine für Langzeitstudenten, Weine für pensionierte deutsche Lehrer, die in einem Caravan in den Pyrenäen lebten – Weine, die der normale Bürger wohl als ehrliche Weine bezeichnet hätte.
Aber der Weinhändler am Südstern hatte ihm einen Grenache Noir empfohlen, aus hundert Jahre alten Reben, und die Experience war kaum in Worte zu fassen – blauer Schiefer, schwarze Himbeere, mediterrane Strauchheidenformationen, Zeder, Mokka, Knochen, Seide. Victor war stolz auf sich, auf seine Unabhängigkeit von Statusmarkern, auf seine souveräne Bescheidenheit.
Einmal nahm er sich ein Taxi zum Le Coucou in der Mommsenstraße, um dort ein paar bretonische Hummer mit einer Flasche Dom Ruinart hinunterzuspülen, aber das war nur eine Zuckung, ein ärgerlicher Rückfall, eine Art epigenetische Tourette-Episode, die sich nicht mehr wiederholen sollte.
Einmal noch traf er sich mit Ali, der in einer unangenehmen Stimmung war, aggressiv und rechthaberisch, inkognito im Felsenkeller in der Akazienstraße. Möglicherweise war dessen Verstimmung auch darauf zurückzuführen, dass er seinem alten Freund einen Zettel hatte einwerfen müssen, um mit ihm in Kontakt zu treten, denn Victor war seit über einer Woche nicht mehr an sein Telefon gegangen.
»Lan!«, begrüßte ihn Ali. »Isch fick disch.«
»Ey, kannste mal aufhören mit dem street-Gelaber, so kindisch, so peinlich …«
»Beschwerst du dich schon wieder? Erst kommst du zu spät und dann beschwerst du dich gleich wieder, typisch. Genau wie meine Tanten …«
»Jetzt verschon mich doch mal bitte.«
»Im Übrigen – Ethnolekt, so lautet der korrekte Terminus.«
»Hey, Ali: Worum geht’s? Du wolltest dich treffen, ich bin beschäftigt grade …«
»Du brauchst ’n Bier, ich seh das, du bist ja gar nicht ansprechbar …«
»Spinnst du jetzt? Ich bin völlig normal!«
»Jaja, setz dich mal, trink mal, Junge, ich versteh das schon, das Bankgeschäft, der Räuberkapitalismus, das muss einen ja wahnsinnig machen.«
Victor trank also, er spülte ein Engelhardt in sich hinein. Er war in Gedanken bei seiner Protagonistin, die alt werden würde in Manhattan, oben in Yorkville, in einer ruhigen Seitenstraße; die als Alte an Samstagen in ihrem guten Mantel auf der Lexington zum Café Hindenburg laufen würde, um sich ein Eisbein und eine Portion liberty cabbage einpacken zu lassen.
»Victor, ich muss dir jetzt mal die Pistole auf die Brust setzen. Du musst mir jetzt mal zuhören, OK? Bist du da, bist du anwesend?«
»Ja natürlich, klar.«
»Ich hab dir das neue Programm eingeworfen – hast du das gelesen?«
»Nee, wie gesagt, ich bin grad …«
»Ich hab da nicht viel verändert, ich hab das nur komplettiert und in ’ne logische Ordnung gebracht und die Sprache, wie soll ich das formulieren, zugänglicher gemacht …«
»Mir ist alles recht …«
»Vielleicht auch einen Tick weniger selbstverliebt …«
»Jetzt komm doch mal zum Punkt, Alter!«
»Dann hör mir genau zu, Habibi, ich hab das Gefühl, ich dring nicht durch zu dir, ja? Also: Am kommenden Montag trete ich vor die Presse, um meinen Abschied von den Grünen und die Niederlegung meines Bundestagsmandats zu verkünden, vor allem aber die Gründung einer neuen Partei, der Deutschland AG, mit der ich bei der Wahl ganz konkret eine Regierungsbeteiligung anstrebe …«
»Heiliger Jesus«, sagte Victor.
»Ich muss also wissen …«
»Du bist so krass, Alter.«
»Ich muss wissen, bis spätestens Freitag, und das ist wirklich der allerletzte Drücker, ob ich dich in das Schattenkabinett aufnehmen kann, als Superminister für Finanzen und Bildung. Das Ziel ist natürlich GINA, das wird dein Königreich. Sobald das steht, ziehste da ein, und da kannste dann die Welt regieren. Überleg doch mal, Habibi! Du und ich zusammen – wer soll da kommen?«
»Schattenkabinett«, murmelte Victor, »das klingt wie ’n Riesling aus ’m Regenjahrgang …«
Er hatte mit Ali noch nie gearbeitet, und es war anzunehmen, dass dabei eine gewisse Reibung entstehen würde. Er hatte an seinem Freund einige Schwachstellen identifiziert, zum Beispiel dessen Hang zur offenen Konfrontation – wenn es wirklich um etwas ging, dann zögerte natürlich auch Victor nicht, seine Überlegenheit zu etablieren, aber an Ali erkannte er in diesem Hinblick eine unattraktive Maßlosigkeit.
Zudem schien dieser tatsächlich überzeugt zu sein, und das war eine Haltung, die Victors Wesen zuwiderlief, da er sie nur als strategische Limitation begreifen konnte. Wer konnte schon sagen, ob sie recht hatten? Es klang natürlich überzeugend, was sie da anzubieten hatten, aber das war ja das Ziel der Übung gewesen. War es diese Sehnsucht nach der Überzeugung gewesen, die Ali zu den Grünen hingezogen hatte? Vielleicht war es auch nur das unbewusste Deutsch-sein-Wollen gewesen, denn die Grünen waren ohne jeden Zweifel die deutscheste aller deutschen Parteien.
»Und ich arbeite dann für dich«, fragte Victor, »oder wie hast du dir das vorgestellt?«
»De facto arbeiten wir dann alle für dich, Habibi«, sagte Ali. »Das wird so ’n bisschen wie im Iran. Es gibt eine gewählte Regierung, aber jeder weiß: In Wahrheit hat der Ayatollah das Sagen.«
Victor trug eine Sonnenbrille, als er in die Paris Bar hineinwehte, in der er zum ersten Mal vor 30 Jahren gewesen war, mit seinem Großvater, in dem als Greis das Verlangen erwacht war, sich als Kunstsammler zu profilieren. Er hatte Kopfschmerzen, er hatte gesoffen am Vorabend – er wusste natürlich, dass es unprofessionell war, zu diesem Termin mit einem Kater zu erscheinen, und vielleicht war genau das ja der Punkt gewesen.
Die Lektorin hatte etwas von einem Vogel, und als Victor sich ihr gegenübersetzte, konnte er eine Möwe eine silberne Sprotte aus der Bugwelle der Bremen pflücken sehen. Er wusste genau, was nun passieren würde, denn sein Analyseapparat hatte ihm augenblicklich eine belastbare Prognose des Verlaufs dieses Lunches geliefert, die auf der Erfassung und Rasterung unscheinbarer Oberflächenäußerungen basierte, unbeachteter Regungen, interaktionaler Reflexe und mikromimischer Parameter, aus deren Summe sich für Victor eine klare Kalkulabilität der Haltung der Sachbearbeiterin zu seinem Manuskriptauszug ergab – im Grunde hätte er gleich wieder gehen können, wollte dies aber noch nicht wahrhaben.
Immerhin schwebe ihm ein historischer Roman vor, so begann sie, das sei schon mal gut, das sei eine attraktive Kategorie, bei der man aber – und hier gehe es schon los – akribisch auf den hook zu achten habe, der in diesem Segment die kommerzielle Kern-Konvention darstelle. Und wo sei der hier – also der hook? Wie ziehe uns das tiefer in unsere Zeit hinein? Wie sei das im Alltag relevant? Wo sei hier die Parabel auf unsere aus den Fugen geratene Gegenwart? Kurz gesagt, es fehle der Aktualitätsbezug – weniger Echolot, mehr Seismograf, das würde sie ihm ins Logbuch schreiben.
Beim loop hingegen sehe sie kein großes Problem, über den historischen Bruchstellen deute sich ja durchaus ein Spannungsbogen an, Jugend und Krieg, Trennung und Wiedersehen – sie nehme mal an, dass er die beiden zusammenführe am Ende –, da könne eine furiose Romanze draus werden, wenn man dem ein sauberes Plotting angedeihen lasse, wenn man das einer stringenten Umsetzung zuführe – Fokus, Spannung, eine optimale Handlungsführung und natürlich süffige Lesbarkeit.
Aber das sei schon sehr vage, sie verstehe auch das Format nicht ganz – gut, es sei ein Exposé dabei, aber die Leseprobe scheine ja nicht mal vom Anfang des Textes zu stammen. Die Abschnitte wirkten wie Bruchteile, die im Nichts schwebten – oder in einem unbegrenzten Möglichkeitsraum, wenn man das mal positiv formulieren wolle. Sie habe beim Lesen der Verdacht beschlichen, der beachtliche Stilwille solle hier eine eklatante Plotarmut verschleiern. Sie meine, was werde da verhandelt? Sei das einfach nur Schönschreiberei?
Auch seine Protagonistin – wie solle sich die Leserin mit einer solchen Figur identifizieren? Diese Autoaggression, diese Sehnsucht nach Erniedrigung, das sei schon ein wenig – wie solle man sagen – verkorkst, ne? Das sei kryptisch, das sei verspielt, das sei auch versehrt irgendwie, vielleicht wolle er da irgendwelche Mikro-Traumata verarbeiten, was die zeitgenössische Leserin allerdings nur in Ausnahmefällen goutiere.
Ihr fehle zudem die Ekstase, sie meine, Sexus und Tod, aber auch der Mammon – die Protagonistin arbeite als Prostituierte, nicht? Vielleicht so als die Christiane F. der Exilantinnen, aber nicht als Junkie, sondern ganz klassisch, als Alkoholikerin, oder was nahm man damals in Manhattan, reefer, nicht? Marihuana, das kam hoch aus den Südstaaten.
Vielleicht drifte sie nach Harlem ab, vielleicht gerate sie in Jazzkreise, vielleicht bandele sie mit den Schwarzen an – das sei doch gerade wieder ein aktuelles Thema, also mit der Zuwanderung, die Angst des deutschen Mannes vor der ungestümen Sexualität seines dunkelhäutigen Widerpartes und so weiter …
Schon früh an diesem Abend schlief Victor auf dem Sofa ein, nach zwei Flaschen Grenache Noir, mit seinem Kopf in der KW32 – er sackte abrupt nach vorn, mit seinem Gesicht in die Seiten des navyblauen Leinenbandes hinein. Er hatte eine Reportage des damaligen Berliner Kulturkorrespondenten der Times über okkulte Luftkriegpartys gelesen, und dann hatte er an seine Eltern gedacht, an die Nacht des Tages, an dem seine Mama gestorben war.
Er war wieder in seinem Kindheitsbungalow gewesen, im Wohnzimmer, wo er sich auf das Sofa gelegt hatte, um näher am Fleck zu sein, als sein Vater auf einmal zu schrubben begonnen hatte, mit einem alten Scheuerlappen, von einer anwachsenden Wolke aus Schaum umgeben, deren Rosa allmählich einem schmutzigen Grau gewichen war.
In der vergangenen Nacht hatte der Jetstream südlich von Neufundland ein Tiefdruckgebiet geboren, das vom meteorologischen Institut der Freien Universität Berlin auf den Namen Vivian getauft worden war. Schon zum Mittag hatte Vivian eine Kaltfront von über 4000 Kilometern Länge geschaffen, von Archangelsk bis zum Golf von Biskaya, wo sich am Abend durch Einwirkung des Hochs Vladislav eine nordöstliche Strömung ergeben hatte, bis eine schmale Mondsichel über Berlin wie ein Lichtschwert rasende Wolkenfelder durchsäbelte. Und als die Fallwinde nun arktische Meeresluft durch seine offenen Fenster trieben, rollte sich Victor im Schlaf in einer fötalen Haltung zusammen.
Wie immer nach einer Niederlage träumte er von einem rechtschaffenen Außendienstkaufmann, Hans-Peter Z., dessen Geschichte er vor ein paar Jahren im Spiegel gelesen hatte. Nach dem Scheitern seiner Ehe hatte Z. seine Arbeit und den Kontakt zu seiner Tochter verloren und sich im Wald auf einen Hochsitz zurückgezogen, in Sichtweite eines Trimm-dich-Pfades, um eines langsamen Hungertodes zu sterben und seine Gedanken dabei in einem Notizbuch festzuhalten.
Z. hatte Fäustlinge mitgenommen, lange Unterhosen, seine besten Schuhe, eine schöne Porzellantasse, die ihm seine Frau geschenkt hatte, damals, für unterwegs; keine Bücher, obwohl er immer viel gelesen hatte; ein kleines Schildkröten-Nadelkissen, das seine Tochter in der Schule genäht hatte, drei Kugelschreiber und eben sein dunkelblaues Notizbuch im Format DIN A5, das er in einem wasserdichten Gleitverschlussbeutel versiegelt hatte. Obwohl er monatelang verschwunden gewesen war, bevor ein Jäger seinen Leichnam fand, hatte niemand eine Vermisstenmeldung aufgegeben.
In Victors Traum war er selber der Sterbende, in einem modrigen Schlafsack und ohne Medikamente gegen die Schmerzen. Seit vielen Stunden versuchte er, die Kraft für einen letzten Eintrag aufzubringen, denn es fehlte etwas in seinem Bericht; und vielleicht würde es ihm kommen, wenn er auf eine leere Seite blickte, aber er hatte diese sägenden Magenschmerzen und wenn er daran dachte, sich aufzusetzen, dann sah er ein schwarzes Flackern vor seinen Augen. Sich anzustrengen, das würde ihn überfordern, das würde dann wirklich sein Ende sein. Und er wollte noch ein paar Stunden bleiben. Er hatte noch ein wenig Regenwasser in seiner schönen Tasse.
Victors Oberkörper drückte seine eingeschlafenen Arme in die straffe Polsterung seines Sofas, das eher ein Daybed war, ein vollkommen unnützes Posermöbel, und während im Traum vom Trimm-dich-Pfad die Fitness-Laute zu ihm heraufdrangen, bildete sich ein Thrombus in der Leberader seiner Armbeuge, der vom rauschenden Blutstrom schließlich mitgerissen wurde, in Richtung seines müde stampfenden Herzens.
In diesem Augenblick schreckte im Frankfurter Westend Victoria aus unruhigem Schlaf. Sie hat geträumt, dass der Papa in den Wald gegangen ist, um für sie eine Unke zu holen, und dass ihm die wilden Tiere nachgeschlichen sind, also die Wölfe, so graue mit roten Augen, in der Dunkelheit, und er hat das nicht gemerkt – und auch zwei große Eisbären waren dabei! Aber in Wirklichkeit ging das nicht, weil Eisbären gab es nur am Nordpol. Bald haben die nicht mehr genug Eis, hat Mama gesagt, und dann müssen die alle sterben.
Aber trotzdem machte sich Victoria dolle Sorgen um ihren Papa, weil sie wollte ja nicht, dass ihm etwas passierte, also was Schlimmes. Er war immer allein, und keiner passte auf ihn auf, und irgendwie hatte sie da so schlechte Gedanken. Mama hat gesagt: Papa arbeitet zu viel, ihm macht das keinen Spaß, er ist traurig. Mama hat gesagt: Papa trinkt ganz viel Wein, wie ein Räuber, und das ist für sein Herz gefährlich. Aber warum musste er dann alleine wegfahren? Das war doch nicht klug, da würde er noch viel trauriger sein!
Sie sollte ja immer ehrlich sein, also durfte sie das auch denken: Sie war ein bisschen sauer auf Papi, weil er das Wochenende abgesagt hat, und er hat sogar sein Telefon ausgemacht! Dann hat sie in seinem Büro angerufen, und da hat eine Frau gesagt, er ist nach Berlin gefahren. Er wollte in den Zoo gehen mit ihr, und er hat versprochen, endlich das Schwimmbad warm zu machen, mit so einer Heizung, weil das war so kalt wie Eis! Das Wasser kam aus den Steinen, da lebten auch die Frösche drinne!
Was machte der Papa denn in Berlin? Mama hat gesagt, er will ein Buch schreiben, also für die Erwachsenen. Weil für die Kinder hat er ja schon ein Buch geschrieben, mit ihr zusammen, über die Fische. Er kannte ganz viele Fische, 46 verschiedene, und dann hat er die gemalt, und sie hat zu jedem Fisch was geschrieben, was ihr da so eingefallen ist, ob der eine Höhle hat, ob der die Seepferdchen essen will, ob der viel Kacka macht und so welche Dinge.
Victoria war müde, sie ist spät ins Bett gegangen, weil nach der Schule ist sie noch zum Mirko gefahren, mit Mirkos Papa. Aber nicht mit dem Auto, sondern mit so einem Zug, der unter der Erde fährt, in Tunneln, das war wie in einem Film! Das wusste sie vorher gar nicht, dass unter der Erde die Züge fahren.
Mirkos Papa war nett, der spielte Monopoly mit ihnen, aber der hatte so verbrannte Arme, weil der kochen musste, das war sein Beruf – wie die Männer in Griechenland, die mit den Haaren in der Suppe. Mirkos Papa hatte ganz wenig Geld, und deshalb bezahlten die anderen Eltern die Schule für den Mirko, weil die Schule ist teuer, hat Mama gesagt.
Mirkos Papa hatte eine Mini-Wohnung, das war nur ein Zimmer, und deshalb durfte Mirko immer bei seinem Papa im Bett schlafen. Aber Mirko hatte keine Mama! Einmal hat sie gefragt: Wo ist deine Mama? Und dann hat der Mirko geweint. Sie hat dann seine Haare gewuschelt, weil das mochte er, wie ein Hundi.
Der Mirko war ihr bester Freund, aber ihre Mama wollte nicht, dass sie beim Mirko spielte, die fand das nicht gut oder so, das hat sie gemerkt. Weil die Mama war die ganze Zeit in der Nähe, in so einem Geschäft, wo es die Wurst zu kaufen gab. Da waren Tische zum Essen, da konnte die Mama mit ihrem Computer arbeiten.
Mama hat gesagt: Die Frauen in dem Wurstgeschäft sind so rosa, die sehen aus wie Schweinchen. Mama hat gesagt, die töten Ferkel im Keller! Mama hat gesagt, das ist eine böse dicke Wurstfamilie, und die böse Mutter und die böse Tochter halten das Ferkel an den Ohren fest, und dann kommt der böse dicke Vater mit dem großen Messer. Mama hat die nachgemacht, mit komischem Deutsch, wie die auch reden in dem Restaurant mit der Grünen Soße: Gleisch biste dod, mei kleines Schweinsche! Gleisch biste Kottlett! Sie wollte kein Kottlett essen, das war eklig! Weil da war ja ein Knochen drinne!
Die Geschichte war auch doof, weil jetzt musste sie wieder an Sterben und so denken und dass dem Papa was passiert. Sie konnte sich erinnern, wie das war, als Mama und Papa sich getrennt haben, als der Papa in sein Haus gezogen ist, da war sie drei. Das war ihre erste Erinnerung, weil davor war gar nichts. Wenn die Mama ihr ein Foto zeigte, auf dem sie ein Krabbelbaby war, dann war das halt ein Bild, aber ohne so eine Geschichte in ihrem Kopf.
Mama hat gesagt: Dein Papa denkt immer an dich, dein Papa hat dich am allerliebsten, von allen Menschen auf der ganzen Welt. Und sie wollte ihn jetzt endlich wiederhaben, weil sie hatte Heimweh nach ihm. Sie hat schon manchmal die Gebete gehört, als Mama mit ihr in der großen Kirche war, weil Mama fand die Fenster da so schön. Sie fand es auch schön in der Kirche, weil da war es festlich, und da war so guter Rauch, und da konnte man singen, und der Priester hatte einen goldenen Umhang!
Sie schloss ihre Augen, sie ließ sich in ihr Kissen zurücksinken, und leise sagte sie: Bitte lieber Gott mach, dass mein schlechtes Gefühl weggeht, und ich will auch diese Kopfschmerzen nicht mehr haben. Bitte lieber Gott, hol den Papa nicht in den Himmel, weil dann muss ich so lange warten, mein ganzes Leben! Sie versuchte auch, die Sachen aus den Gebeten zu sagen, wenn die ihr noch einfielen, also sag nur ein Wort oder gib uns ein Brot oder ich bin nicht schuld oder dein Reich komme.
In Victors Traum hatten schon die letzten Visionen begonnen, die flirrenden Bilder an den Innenseiten der Augenlider, und als er Victorias Stimme hörte, ihre kleinen Stiefelchen auf den Sprossen der Leiter, war er finster entschlossen, sich emporzureißen, mit aller verbliebenen Kraft, und wenn es ihn seine letzten Minuten kosten würde; um sich seiner lieben Tochter nicht in einem so erbärmlichen Zustand zu präsentieren.
Er schoss aus dem Schlaf empor, er rollte sich auf den Rücken, um sich trotz eingeschlafener Arme aufrichten zu können. Er krümmte sich gleich vornüber, da er befürchtete, sich übergeben zu müssen, wodurch der Thrombus einen Drall bekam, von einer Gefäßwand abprallte und durch die Mechanik seines Herzens hindurchsegelte, ohne hängenzubleiben – wie ein behänder Atlantiklachs durch die Turbinenschaufeln eines Wasserkraftwerkes –, um sich dann in den Tiefen seiner angegriffenen Beckenvenen zu verlieren.