KAPITEL 1
Schweigen ist Gold
Rätsel
Wer hängt festgeklammert da,
Im dicken Bauchfell der Mama?
Hält sich fest bei Regen und Wind?
Das Baby ist -
ein Schimpansenkind!
Oma Dean
 
 
Bis zu Neil Armstrongs epochaler Reise an Bord von Apollo 11 im Jahr 1969 musste eine Menge geschehen, und die Welt scheint vergessen zu haben, dass es ein anderer war, der ihm den Weg für den berühmten Ausspruch vom kleinen Schritt für einen Menschen und dem großen Sprung für die Menschheit geebnet hatte. Obschon das erste Wesen, das im Jahr 1961 an Bord der Mercury-Redstone 2 ins All geschickt wurde, etwas von einem Wunderkind hatte, war es doch alles andere als ein fanatischer Raumfahrtfreak. Es war der fünf Jahre alte Schimpanse Ham.
Schimpansen und Menschen haben einen gemeinsamen Vorfahren, der vor fünf bis sieben Millionen Jahren gelebt hat. Damals begannen Hams Vorfahren und die unseren getrennte Evolutionswege zu gehen - der eine bewegte sich weiterhin behende auf allen vieren, der andere begann, auf zwei Beinen herumzuwanken. Dass Schimpansen unsere engsten Verwandten sind, spiegelt sich in ihrem Aussehen ebenso wie in ihrem Verhalten. Sie haben Ohren, die denen des Menschen ähneln, und ausdrucksstarke Gesichter. Viele ihrer emotionalen Zustände und Ausdrucksformen sind ganz offensichtlich denen des Menschen vergleichbar. Ihre Körpersprache ist für Menschen leicht zu interpretieren, weil sie der unseren so ungemein nahekommt. Eine der beiden Schimpansenarten (Pan troglodytes, der »eigentliche« Schimpanse) jagt, fertigt Werkzeuge an und führt manchmal sogar Kriege, während die andere (Pan paniscus, der Bonobo) berühmt dafür ist, dass sich ihre Angehörigen den lieben langen Tag mit Sex vergnügen. Schimpansen verfügen allem Anschein nach zudem über einen Sinn für das eigene Ich: Sie gehören zu den sehr wenigen Spezies, die sich im Spiegel selbst erkennen.
Ungeachtet der vielen Verhaltensähnlichkeiten zwischen Schimpansen und Menschen zeigen Beobachtungen in freier Wildbahn doch auch mindestens einen dramatischen Unterschied zwischen beiden: Schimpansenmütter behandeln ihre Jungen völlig anders als Menschenmütter. Obwohl sie von Natur aus geschwätzig sind und lärmend kommunizieren, sind sie, wenn es zu Lautäußerungen im Umgang mit ihren Jungen kommt, im Vergleich zu Menschenmüttern fast stumm. Warum sollte für Schimpansenmütter Schweigen Gold sein, für Menschenmütter hingegen nicht? Wenn wir verstehen wollen, warum Lautäußerungen bei Affenmüttern eine so untergeordnete Rolle spielen, müssen wir uns zunächst mit deren Mutterschaftserfahrung vertraut machen.

Schimpansenmütter

Die Verschiedenartigkeit von Schimpansen- und Menschenmutterschaft zeigt sich bereits bei der Geburt. Ein Kind zu gebären ist für Schimpansen und die beiden anderen Menschenaffenarten - Orang-Utans und Gorillas - sehr viel einfacher als für die Frauen unserer Spezies. Die Tragzeit (Dauer der Schwangerschaft) ist bei Schimpansen deutlich kürzer als bei Menschen - um die sieben Monate im Vergleich zu unseren neun. Schimpansinnen bringen, genau wie Menschenfrauen, pro Geburt normalerweise immer nur ein Junges zur Welt, doch da ihre Neugeborenen viel kleiner sind als Menschenkinder, ist für sie die Geburt eine rasche, reibungslos-glatte Reise in die Welt.1 Natürlich haben nur wenige Primatologen je eine Schimpansenniederkunft gesehen - sie geschehen meist bei Nacht und ohne Zeugen.2 Einem Schimpansenforscher, Frans de Waal, ist es gelungen, im Yakes Regional Primate Research Center einer mittäglichen Geburt beizuwohnen. Mai, die Mutter, stand halb aufgerichtet, mit geöffneten Knien und hielt sich eine Hand zwischen die Beine. Nach etwa zehn Minuten spannte sie sich an, ging in die Hocke und presste ihr Junges in ihre beiden Hände. Dann brachte sie es in eine Ecke und säuberte es, worauf sie, »voller Genuss die Nachgeburt verspeiste«. De Waal war besonders beeindruckt davon, dass die anderen Schimpansen die Geburt eines Jungen in ihrem Clan offenbar mit Spannung und Interesse verfolgten, was bei Kleinaffen in der Regel nicht der Fall ist.3
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Abbildung 1.1 Der erste »kleine Schritt«, der sich letztlich zu einem »großen Sprung für die Menschheit« mausern sollte, ist vor Jahrmillionen getan worden, als unsere frühen Vorfahren begannen, auf zwei Beinen zu gehen, nachdem sich ihre Linie und die der frühen Verwandten von Schimpanse Ham getrennt hatten. Mit freundlicher Genehmigung des NASA Johnson Space Center
Im Unterschied zu den pummeligen Babys, die die Menschenfrauen auf die Welt bringen, kommen Affenjunge »absolut mager und schrecklich zerknittert zur Welt«.4 Was ihre Hilflosigkeit und Verletzlichkeit anbelangt, sind sie Menschenkindern jedoch sehr ähnlich. Neugeborene Affen sind völlig auf ihre Mütter angewiesen, die sie säugen, wärmen, trösten, schützen und mit sich herumtragen; ständiger Körperkontakt zwischen Müttern und Säuglingen ist von entscheidender Bedeutung. Wilde Schimpansinnen sind in der Regel äußerst fürsorgliche Mütter, doch leider gibt es unter ihnen hin und wieder auch einige, die furchtbar lieblos mit ihren Jungen umgehen.
Der Liebste-Mama-Preis für miserable Fürsorge geht an eine Schimpansin namens Pom, die Jane Goodall intensiv und aus nächster Nähe beobachtet hat. (Jane Goodall begann ihre bahnbrechenden Forschungen zum Verhalten wilder Schimpansen im tansanischen Gombe-Stream-Nationalpark in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts und hat seither Generationen von Tieren heranwachsen sehen.5 Sehr viel von dem, was wir heute über Schimpansen wissen, verdanken wir ihren Arbeiten.) Poms Mutter Passion war eine Einzelgängerin gewesen und hatte sich bei Poms Aufzucht als kalte, unduldsame Mutter erwiesen. Sie spielte nur selten mit ihrer Tochter, und diese wuchs zu einem ängstlichen, klammernden Jungtier heran, das ständig in der Furcht zu leben schien, seine Mutter könne es verlassen. Während der Entwöhnung hatte sie ein besonders traumatisches Erlebnis und war, als sie sexuell heranreifte, in Gegenwart von Männchen extrem angespannt. Jane Goodall vergleicht Passions Art, ihr Junges aufzuziehen, mit der einer umgänglicheren Schimpansin namens Flo, der Mutter von Fifi. Flo war eine sozial hoch kompetente und zugewandte Mutter, außerdem genoss Fifi den Vorzug, ältere Geschwister zu haben. Im Unterschied zu Pom wurde sie ein Jungtier mit Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen, das die Entwöhnungsphase recht gut überstand und später mit großer Gelassenheit sexuell aktiv wurde. Als Fifi selbst Mutter wurde, hatte sie stets ein wachsames Auge auf potenzielle Gefahren und brachte ihr Kind sehr häufig in Sicherheit, bevor es Anzeichen von Angst oder Stress zeigte.
Nicht so Pom, die ungefähr dreizehn Jahre alt war, als ihr erstes Baby, Pan, geboren wurde. Es verwundert nicht, dass Poms Verhalten die Art und Weise widerspiegelte, wie sie selbst aufgezogen worden war:
Sie hatte Schwierigkeiten, Pan bequem zu umfangen, als er klein war - oder vielleicht war es ihr egal. Wenn sie in einem Baum saß, rutschte ihr das Kind oft vom Schoß und klammerte sich dann krampfhaft und mit strampelnden Beinen fest, während es sich wieder hochzuziehen versuchte. Erst wenn der Kleine wimmerte, schaute Pom - leicht überrascht - hinunter, nahm ihn wieder auf und setzte ihn auf ihren Oberschenkel. Aber sie machte nur selten den Versuch, den Schoß für ihn bequemer zu machen, und oft rutschte er nach wenigen Minuten wieder ab, und alles ging von vorn los … Pom neigte wie Passion dazu aufzubrechen, ohne den Kleinen erst aufzunehmen.6
Er war noch keine drei Jahre alt, da wurde Pan von einem heftigen Windstoß »wie ein ausgestopftes Spielzeugtier« vom Baum geweht. Binnen drei Tagen war er tot. Diese traurige Geschichte unterstreicht einmal mehr, wie wichtig der physische Kontakt zwischen Schimpansenmutter und Jungtier ist.

Festhalten, um zu überleben

Die Gefahren und Unsicherheiten einer Mutterschaft veranlassen Schimpansinnen dazu, in Bezug auf ihre Neugeborenen extrem fürsorglich und übervorsichtig zu sein. Die meisten Schimpansenmütter halten ihre an die Brust gekuschelten Jungen fest im Arm, während diese zufrieden bei ihnen trinken. Das Jungtier ist in den ersten paar Wochen seines Lebens hilflos, also muss die Mutter es bei sich tragen, während sie umherwandert und sich Futter sucht. Das ist eine Zeit, in der Mutter wie Jungtier sehr verletzlich sind, Jane Goodall schätzt, dass fast 30 Prozent aller Jungtiere am Gombe-Strom ihr erstes Lebensjahr nicht überstehen. Bei einigen dieser Todesfälle handelt es sich sogar um Kindsmord. Kein Wunder, dass die Weibchen nur ungern andere Tiere an ihre Neugeborenen heranlassen, selbst wenn es sich um deren ältere Geschwister handelt.
Neugeborene wollen nicht nur beschützt werden, sondern sie bremsen ihre Mütter auch. Primatologen bekommen frisch gebackene Mütter nach der Geburt oft ein bis zwei Wochen lang nicht zu Gesicht, weil diese es nicht schaffen, mit der Gruppe Schritt zu halten. Sie müssen, wenn sie sich vorwärtsbewegen, mit einer Hand ihren Nachwuchs stützen, das kann beim menschenaffentypischen Knöchelgang, der in der Regel vier Gliedmaßen erfordert, schwierig sein. Wenn sie sich von Wipfel zu Wipfel schwingen, formen Schimpansenmütter für ihre Winzlinge einen »Schoß«, indem sie die Oberschenkel anziehen. Diese aus Rücksicht auf das Neugeborene veränderte Körperhaltung erklärt vermutlich, warum Schimpansenmütter ihren Aktionskreis einschränken. Da ihre nomadisierende Lebensweise normalerweise bedeutet, dass Schimpansen etwa die Hälfte des Tages mit der Nahrungssuche und den Rest der Zeit mit der Erkundung neuer Gegenden verbringen, kann diese erste Zeit für die Weibchen keine leichte Sache sein.
Wie schwierig es für Jungmütter wirklich ist, am Ball zu bleiben, wird an einer ungewöhnlichen Geburt deutlich, die sich 1977 am Gombe-Strom ereignete: Die Schimpansin Melissa brachte die Zwillinge Gyre und Gimble zur Welt. In deren ersten Lebenstagen zog Melissa nur sehr langsam umher und unterbrach ihre Wanderungen immer wieder, um sich hinzusetzen und die beiden in den Armen zu wiegen. Binnen Wochen waren die Jungen imstande, sich selbst am Bauch der Mutter festzuklammern. »Aber versehentlich hielt einer sich am anderen fest: Damit riss er den Bruder los, und beide drohten zu fallen und stießen laute besorgte Schreie aus. Melissa musste sie fast dauernd unterstützen, indem sie sie mit einem Arm hielt oder mit eingeknickten Beinen wanderte, sodass sie ihre Rücken mit den Oberschenkeln stützte. Einmal fiel … einer der Zwillinge halb herunter und schlug mit dem Kopf auf den Boden.«7
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Abbildung 1.2 Melissa im Jahre 1974 mit ihrer vierjährigen Tochter Gremlin. Auf dem Bild ist auch die zehnjährige Goblin zu sehen. Foto: Curt Busse
Unglückseligerweise gedieh Gyre nicht und starb an einer Lungenentzündung. Wäre Melissa weniger überbesorgt gewesen und hätte die Zwillinge gemeinsam mit deren großer Schwester Gremlin versorgt, könnte Gyre vielleicht noch am Leben sein.
Im Jahr 1998 wollte es das Glück, dass Gremlin selbst Mutter von Zwillingen wurde und jetzt, da ich dies schreibe, sind die beiden gerade zehn Jahre alt geworden.8 Obwohl die Versorgung von Zwillingen Gremlins Aktionsradius drastisch einschränkte, haben Golden und Glitter bis zum heutigen Tag überlebt, nicht zuletzt deshalb, weil Gremlin weit weniger zögerlich als ihre Mutter die Hilfe ihrer älteren Tochter Gaia annahm, die zum Zeitpunkt der Geburt der beiden fünfeinhalb Jahre alt war.
Aufgrund der raschen motorischen Entwicklung ihrer Neugeborenen holen Schimpansenmütter ihren Rückstand nach der Geburt rasch wieder auf. Wenn sie zwei oder drei Wochen alt sind, können Schimpansenjunge sich in der Regel über längere Zeiträume ohne Hilfe im Fell der Mutter festhalten, eine evolutionäre Entwicklung von großer Tragweite.9
Ein Schimpansenkind hängt so den ganzen Tag über an seiner Mutter und teilt des Nachts mit ihr das Schlafnest. Am Anfang hält sich der Winzling während der Nahrungssuche am Brustfell der Mutter fest, wenn er jedoch schwerer wird, erklimmt er ihren Rücken. Ist er drei oder vier Monate alt, lässt die Mutter zu, dass andere Jungtiere sich nähern, um mit ihm zu spielen. Natürlich hat Mama stets ein wachsames Auge auf das Ganze und eilt augenblicklich herbei, um ihr Kind vor größeren Jungtieren oder jedem anderen zu beschützen, der zu grob mit ihm umspringt.
Eine Mutter lässt das Jüngste eher von seinen Geschwistern umhertragen, wenn dieses die ersten Schritte tun kann - in der Regel ab dem Alter von etwa sechs Monaten. Die meisten Mütter bleiben in ihrem sozialen Umfeld jedoch recht besorgt um ihre Jungen. Oft zögern sie sogar, die Kleinen von »Tanten« halten oder tragen zu lassen. Bevor Gremlin ihre Zwillinge gebar, hatte sie einen Sohn namens Getty. Jane Goodall erinnert sich, dass Getty zehn Monate alt war, als Gremlin endlich zuließ, dass ihre eigene Mutter Melissa ihn kurz kraulen durfte. Einmal hatte Melissa ihren Enkel auf dem Schoß und pflegte ihm das Fell, als Gremlin herbeikam, ihrer Mutter bettelnd ins Gesicht blickte, mit leisem bittendem Wimmern nach ihrem Kind griff und es mit sich fortnahm. Jane Goodall glaubt, Gremlin hatte Sorge, dass ihre Mutter ihr den geliebten Sohn wegnehmen würde.10
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Abbildung 1.3 Der kleine Freud auf dem Rücken seiner Mutter Fifi am Gombe-Strom. Foto: Curt Busse
Mütterliche Überbesorgtheit ist eine vorteilhafte Anpassung: Nur gut behütete Neugeborene haben eine reelle Chance, lange genug zu leben, um selbst Eltern zu werden. Lebhaft illustriert wird dies durch Jane Goodalls Berichte über ungeschickte, unvorbereitete oder verletzte Mütter, die ihre Jungen durch Kindsmord oder Kannibalismus verloren. Passion, die oben erwähnte kaltherzige Mutter, und ihre Tochter Pom, die erst sehr spät erwachsen wurde, hatten beispielsweise die Gewohnheit, Müttern ihre Neugeborenen wegzunehmen und durch einen Biss in die Stirn zu töten. Obwohl Jane Goodall anfangs davon ausging, dass Passions und Poms Hang zu Kindsmord und Kannibalismus ein pathologisches Verhalten darstellte, weisen neuere Forschungen darauf hin, dass in der Hierarchie hochstehende Weibchen wie die beiden mittels dieser unbewussten Strategie versuchen, Junge aus dem Weg zu räumen, die mit ihren eigenen Nachkommen konkurrieren könnten.11
Auch männliche Schimpansen stellen eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar, denn auch sie greifen Neugeborene unter Umständen an, töten und verspeisen sie, dann nämlich, wenn diese von Müttern stammen, die aus anderen Gruppen eingewandert sind. Der männliche Hang zu Gewalt aber geht über die bei Passion und Pom beobachteten Aggressionen und Tätlichkeiten hinaus. Gruppen aus heranwachsenden und erwachsenen Männchen (hin und wieder in Begleitung eines sexuell interessierten Weibchens) patrouillieren regelmäßig die Grenzen ihrer Territorien und suchen nach Gelegenheiten zur Auseinandersetzung mit Feinden aus benachbarten Gemeinschaften. Derart aggressive Territorialität kann verheerende Folgen haben: Eine Schimpansenpopulation am Gombe-Strom, die Kahama, wurde von den Männchen einer zweiten Gruppe, den Kasakela, in einer Serie von Angriffen komplett ausgelöscht.
Schimpansen fallen jedoch nicht nur hin und wieder Angehörigen ihrer eigenen Art zum Opfer, sondern auch Leoparden, Raubvögeln und Menschen, was sicher einer der Gründe dafür ist, dass Schimpansenkinder sich so hartnäckig im Fell der Mutter festklammern und Mütter so sehr zögern, ihre Jungen anderen zu überlassen. Wie die renommierte Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy beobachtet hat: »Schimpansenmütter haben eine ganz bestimmte Sorge. Diese Menschenaffen sind deshalb so ungewöhnlich, weil sie jagen. Schimpansenmütter müssen immer damit rechnen, dass ein hungriger Schimpanse, der Lust auf Fleisch hat, ihr Neugeborenes frisst - was manchen verwundern wird, der vielleicht ein ganz anderes Bild von diesen Menschenaffen hat. Es ist wohl bezeichnend, dass Schimpansen … ausgeprägtere Fleischfresser sind als die meisten anderen Primaten.«12 Auch für die Evolution des Menschen haben Jagd und Fleischverzehr eine wichtige Rolle gespielt, unsere Urmütter werden diese Sorge demnach wohl geteilt haben.
Bonobomütter wachen ganz genauso eifersüchtig über ihre Jungen wie Schimpansenmütter, und auch sie transportieren ihre Jungtiere, als seien sie am Körper festgewachsen. Sie legen dieses schützende Verhalten an den Tag, obwohl man keine Berichte darüber kennt, dass Bonobomännchen die Grenzen ihres Reviers bewachen oder Kindsmord begehen, und sie allgemein als sehr viel geselliger und weniger aggressiv gelten als die Männchen der anderen Schimpansen.13 Im Unterschied zu Letzteren ist die Bonobohierarchie, wenn es um Sex und Partnerschaft geht, ungemein egalitär, denn Bonoboweibchen sind sexuell eindeutig entgegenkommender als andere Schimpansenweibchen. Interessanterweise mutmaßen manche Anthropologen, dass die Hypersexualität der Bonoboweibchen deren Strategie ist, Kindsmord zu verhindern, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Männchen Kinder umbringt, die seine eigenen sein könnten, ist geringer als bei fremdem Nachwuchs.
Der Schutz ist aber nicht der einzige Grund, warum Jungtiere so an ihren Müttern hängen. Genau wie beim Menschen ist der ständige enge Körperkontakt aufs Intimste mit dem Stillen verknüpft. Doch so wichtig es ist, dass Schimpansen- und Bonobojunge am Körper ihrer Mutter transportiert werden, ab einem gewissen Alter ist das unmöglich. Ein drei Jahre alter Schimpanse trinkt noch bei der Mutter und reitet auf ihrem Rücken, aber im Verlauf der kommenden zwei Jahre wird der Säugling allmählich entwöhnt und gezwungen werden, sich allein fortzubewegen. (Bonobos säugen ihre Jungen, bis diese etwa vier Jahre alt sind.) Die Zeit der Entwöhnung ist für ein Jungtier extrem problematisch, hat es doch bis dahin nicht nur rund um die Uhr Zugang zur Muttermilch, sondern auch zu Wärme und Trost des mütterlichen Körpers. Kleinkinder wehren sich massiv dagegen, entwöhnt zu werden, sodass die Mütter manchmal aggressiv werden müssen, um die Sache durchzuziehen. Aber sie können ihrem gedrückten und niedergeschlagenen Nachwuchs in dieser Zeit auch mit viel Nachsicht begegnen. Sogar die kaltherzige Passion versuchte, den Schock abzumildern, als sie Pom entwöhnte: »Sie entsprach fast immer Poms häufigem Verlangen nach Fellpflege und erlaubte ihr sogar nach einem Minimum an Protest, huckepack zu reiten. Wochen nachdem wir sicher waren, dass sie entwöhnt wäre, ließ sie Pom bis zu zwanzig Minuten nahe bei sich sitzen, eine Brustwarze im Mund, oft mit geschlossenen Augen.«14
Kleinkinder manipulieren ihre Mütter während dieser schwierigen Zeit, leisten sich häufig Wutausbrüche. In solchen Fällen nehmen die Mütter die Jungen oft in den Arm und erlauben ihnen zu nuckeln. Ein vierjähriges Schimpansenkind, das zweimal bei dem Versuch, den Rücken der Mutter zu erklimmen, abgewiesen worden war, stieß gellende Angstschreie aus, die die Mutter zu sofortigem Handeln veranlassten. Sie »eilte mit zum Angstgrinsen gebleckten Zähnen zu ihrem Kind zurück, nahm es hoch und - trug es herum«.15 Zu einer ähnlichen Dynamik kommt es, wenn Bonobos entwöhnt werden: »Der Ausbruch findet augenblicklich ein Ende, wenn das Jungtier die Mutter umfassen und an ihrer Brust saugen darf… Die Wirkung der mütterlichen Brustwarze ist erstaunlich.«16
Es bedarf der zähen Beharrlichkeit einer Mutter, angesichts eines solchen Widerstands die Entwöhnung durchzusetzen. Und manchmal klappt es auch nicht. Jane Goodall berichtet von Flo, einem betagten Weibchen, das einst eine überaus erfolgreiche Mutter gewesen war, dann aber zu schwach und alt geworden war, um den heftigen Wutausbrüchen von Baby Flint während der Entwöhnungsphase etwas entgegenzusetzen. Flint wurde weiter gestillt, bis seine kleine Schwester Flame geboren wurde. Er wurde dann zwar der Brust entwöhnt, hörte jedoch nicht auf, sich von seiner Mutter auf dem Rücken herumtragen zu lassen, ja er versuchte sogar, sich wie ein Säugling über seiner kleinen Schwester im Bauchfell festzukrallen. Flint wurde zusehends depressiv und verbrachte Stunden damit, seiner Mutter das Fell zu pflegen. Als Flame im Alter von sechs Monaten starb, hellte sich seine Stimmung merklich auf. Er ritt weiter auf dem Rücken seiner Mutter, bis er acht Jahre alt war. Als Flo bald darauf starb, war Flint am Boden zerstört. Er verlor allen Lebenswillen, und irgendwann rollte er sich ganz in der Nähe der Stelle, an der man seine tote Mutter gefunden hatte, zusammen und starb.17
Nun mag Flint zwar in ungewöhnlich intensiver Weise an seiner Mutter gehangen haben, aber verwaiste Schimpansen kommen ganz allgemein nicht sehr gut zurecht. Waisen unter drei Jahren überleben so gut wie nie, doch auch in ihrer Ernährung bereits selbständige Tiere im Alter von vier bis sechs Jahren gehen nicht selten ein, sogar dann, wenn sie von älteren Geschwistern adoptiert werden. Diese Jungtiere sind extrem deprimiert, und es zerreißt einem das Herz, wenn man von dem tapferen Bemühen anderer Schimpansen liest, sie mitzuversorgen. Jane Goodall beschreibt zum Beispiel voller Bewunderung die Umsicht und Fürsorge, die das zwölf Jahre alte erwachsene Männchen Spindle an den Tag legte, als es den ihm verwandten dreijährigen Mel »adoptierte«.18 Spindle teilte sein Schlafnest und sein Futter mit Mel und beschützte ihn in brenzligen sozialen Situationen. Wenn Mel auf dem Weg zu jammern anfing, trug Spindle ihn auf dem Rücken oder gestattete, dass er sich wie ein Säugling in seinem Bauchfell festklammerte. Ja Spindle trug Mel so viel mit sich herum, dass er dort, wo dieser sich an ihm festhielt, kahle Stellen bekam. Dank der umsichtigen Fürsorge Spindles hat Mel es geschafft, den Tod seiner Mutter zu überleben. Natürlich war ein entscheidender Punkt, dass er auf Spindles Rücken reiten durfte. Menschenbabys haben im Verlauf der Evolution irgendwann die Fähigkeit verloren, sich unterwegs ohne Hilfe an ihren Müttern festzukrallen. Wir werden im Folgenden sehen, welch weitreichende Konsequenzen diese anscheinend so geringfügige Veränderung für die Richtung der menschlichen Evolution gehabt hat.

Gesten und Lautäußerungen bei Schimpansen

Ein Großteil der relevanten Forschung zu den Ursprüngen von Sprache hat sich aus der freien Wildbahn ins Labor und in die wenigen Domizile verlagert, in denen ein Menschenaffe von Menschen aufgezogen wurde. Aus diesen künstlichen Situationen wissen wir zum Beispiel, dass alle drei großen Menschenaffen in der Lage sind, sehr rudimentäre Formen von Gebärdensprachen für Gehörlose zu erlernen, wobei wir freilich nicht vergessen dürfen, dass vom Menschen aufgezogene Menschenaffen sich weit außerhalb des Erfahrungsspektrums befinden, das ihre Gedanken und Aktionen in der Wildnis formen würde.
Da Schimpansen in puncto Genetik und Verhalten dem Menschen am nächsten stehen, sind sie für Spekulationen über die Frage, welche Arten von Kommunikation vor der Entstehung der Sprache in der Evolution bestanden haben mögen, von besonderem Interesse. Schimpansen sind, sowohl was Gesten als auch was Laute anbelangt, überaus mitteilsam. Sie gestikulieren häufig, um Stimmungen auszudrücken, um auf sich aufmerksam zu machen oder um zu betteln. Im Unterschied zur Körpersprache des Menschen ist die des Schimpansen nahezu ausschließlich ichbezogen und dient nicht der Übermittlung von Informationen über äußere Ereignisse, Gegenstände oder »Dritte«.19 Hinzu kommt, dass Schimpansengesten sehr häufig den physischen Kontakt zum Gegenüber einschließen. Viele emotionale Zustände werden bei Schimpansen auch über ein leicht deutbares Mienenspiel vermittelt. Dieses wiederum ist oftmals mit speziellen Lautäußerungen verknüpft.
Obschon es riesige Unterschiede zwischen den Rufen von Menschenaffen und Menschen gibt, hat Jane Goodall gezeigt, dass die lautliche Kommunikation bei Schimpansen weit komplexer ist, als zunächst angenommen. Sie unterschied 34 Lautäußerungen samt den zugehörigen Emotionen, wobei diese Laute ihrer Beobachtung nach ineinander übergehen. 20 So werden manchmal einzelne Huuh-Laute (hoos) nacheinander ausgestoßen, wird die Folge jedoch schneller und beginnt in Tonhöhe und Lautstärke zu steigen und zu fallen, kann das Ganze allmählich in Winseln (whimper) übergehen. Kreischen (screaming) und japsende Grunzlaute (pant grunts) werden oftmals als Unterwerfungslaute geäußert, Huuh-Laute, Bellen (barks) und Huster (coughs) sind in der Regel nicht unterwürfig, manchmal gar aggressiv. Interessanterweise können Schimpansen Individuen, die sie nicht sehen, an ihren Huuh-, Grunz- und Kreischlauten erkennen - was den beobachtenden Forschern nicht gelingt.21 Trotzdem unterbrechen Männchen die Lautäußerungen eines anderen meist durch ihre eigenen, und das behindert den Austausch von Informationen.
Leider gibt es nur wenige Feld- oder Laborstudien, die sich mit der Kommunikation zwischen Schimpansenmüttern und ihren Säuglingen befassen. Vor mehr als neunzig Jahren wurde jedoch in Moskau eine solche Studie durchgeführt, und diese ist für unser Thema ausgesprochen interessant. Nadja Kohts (oder genauer, Nadezhda Nikolajevna Ladygina-Kohts, 1889-1963) war vergleichende Psychologin und hat detaillierte Beobachtungen über einen Schimpansen namens Joni vorgelegt, den sie von 1913 bis 1916 bei sich zu Hause aufgezogen hatte. Als 1925 ihr eigener Sohn Roody geboren wurde, begann Kohts eine vergleichende Studie über die Entwicklung von Joni und Roody.22 Obwohl ihr eigentliches Ziel darin bestand, Jonis Auffassungsgabe und seine Fähigkeit zu begrifflichem Denken zu testen, liefert ihre Forschung eine Fülle an Informationen darüber, wie sehr der junge Schimpanse einer ihn umsorgenden Mutterfigur bedurfte; ihre Beobachtungen decken sich weitgehend mit dem, was neuere Studien berichten. In Ermangelung der späteren Erkenntnisse von Jane Goodall und anderen griff Kohts zu körperlicher Züchtigung und psychologischen Mitteln, um Joni in den Griff zu bekommen. Nichtsdestoweniger wurde die Beziehung zwischen Kohts und Joni so eng, dass sie schrieb: »In meinem Herzen nehmen Joni und Roody fast den gleichen Raum ein.«23
Schon am ersten Tag, den Joni in Kohts’ Zuhause verbrachte, war klar, dass er Trost durch Körperkontakt mit den Lumpen in seinem Käfig suchte, so wie ein Babyschimpanse Trost bei seiner Mutter suchen würde:
Wenn man sich an seinen Tüchern zu schaffen machte, um sie, was täglich nötig war, zu lüften, war dies lange Zeit der Grund für ärgerliche Proteste und heftiges Aufbegehren. Er gab sich Aufforderungen, Überredungsversuchen, lautem Schimpfen, ja sogar körperlicher Bestrafung gegenüber völlig unempfänglich und wollte seine Lumpen um nichts in der Welt hergeben. Er packte sie, hielt sie so fest er konnte, und ließ sie nicht einmal los, wenn man ihn daran umherschleifte. Er hielt sie nicht nur mit den Händen, sondern auch mit den Zähnen, und wenn sie ihm zu entgleiten drohten, klammerte er sich umso fester an sie.24
Joni war erst anderthalb, als er in den Kohts’schen Haushalt kam, und hätte als Waise in freier Wildbahn nicht überlebt. Er akzeptierte Nadja Kohts bereitwillig als Adoptivmutter, und zwischen beiden entwickelte sich eine enge Bindung. Traurigerweise wurde Joni nachts in einen Käfig gesperrt, was er zutiefst verabscheute. Sein innigstes Verlangen schien darin zu bestehen, »Körperkontakt zu halten zu dem lebenden Wesen, das allein ihn froh machte«:
Wenn Joni essen, trinken oder schlafen will, wendet er buchstäblich nicht den Blick von mir; er folgt mir überallhin und starrt unablässig mein Gesicht an. Er hat einen eigenen konditionierten Reflex entwickelt, um mir zu zeigen, dass er trinken will: Er kommt auf mich zugerannt und beginnt, an unbedeckten Stellen meines Körpers (an den Händen, am Hals oder im Gesicht) zu saugen, und trinkt dann jedes Mal gierig das Wasser, das ich ihm auf sein ausdrucksstarkes Betteln hin anbiete … Er schläft auf meinem Schoß bereitwillig ein und hält es lange in dieser Position aus. Noch lieber würde er bei mir im Bett schlafen, und er protestiert lautstark, wenn ich ihm dies verweigere.25
Joni war überdies extrem sensibel gegenüber Rügen seitens seiner Adoptivmutter und winselte, ja wimmerte kläglich, wenn sie nur mit der Hand signalisierte, dass er in einem Test nicht so gut abgeschnitten hatte. Wenn sie zu lange brauchte, um ihn zu trösten, streckte er die Arme aus und bettelte darum, auf den Schoß genommen zu werden. Verweigerte sie ihm dies, jammerte er bitterlich, und auch wenn sie längst dabei war, ihn zu trösten, dauerte es lange, bis er sich beruhigt hatte. Kohts sah das Gesicht als »Spiegel der Seele«, sie beschrieb und fotografierte bei Roody und Joni ganz ähnliche Gesichtsausdrücke für Lachen, Weinen, Angst, Zorn, Überraschung, Aufmerksamkeit, Ekel und allgemeines Aufgeregtsein. Sie beobachtete auch beider Körpersprache und Laute: »Sowohl beim Kind als auch beim Schimpansen … korrespondiert die Ausdrucksstärke der körperlichen Manifestation durch Gesten und Laute mit der Stärke der Emotion.«26 Bei Anfällen von Verzweiflung zum Beispiel erheben beide, Schimpansen und Kinder, die Hände über den Kopf und schlagen sich mit den Fäusten auf den eigenen Körper.
Nadja Kohts stellte fest, dass Gesten und Bilder bei Jonis Erziehung eine wichtigere Rolle spielten als Worte, wobei Joni offenkundig eine ganze Reihe russischer Befehle verstand. Nichtsdestoweniger waren Jonis emotional ausdrucksstarke Gesten und Körperbewegungen von »einer beredten Sprache aus Instinktlauten« begleitet. Interessanterweise berichtet sie, dass Joni eher Laute von sich gab, wenn er traurig war, und sich viel stiller zeigte, wenn er froh war: »Traurige und unwohle Gefühle waren von verschiedenen und extrem lauten Äußerungen begleitet, zufriedene und freudige Emotionen hingegen liefen nahezu tonlos ab. Sie werden kaum je einen traurigen Schimpansen erleben, der nicht die Lippen schmollend verzieht und dazu nicht wenigstens stöhnt, aber Sie werden häufig das stumme Lächeln eines glücklichen Tiers beobachten.«27 Traurige Schimpansen weinen, aber sie vergießen keine Tränen, wie ein Menschenkind es tut; fröhliche lachen vielleicht mit weit geöffnetem Mund, begleitet von geräuschvollem Ein- und Ausatmen. Kohts kam überdies zu dem (völlig richtigen) Schluss, dass Schimpansen auch gerne andere Arten von Geräuschen machen: Joni verlieh positiven und negativen Emotionen gerne Ausdruck durch Klopfen, Trommeln und Klatschen oder durch das Umwerfen, Herumschleudern oder Kaputtmachen von Gegenständen. Obwohl er extrem laut sein konnte, beobachtete seine Adoptivmutter bei ihm keinerlei »Versuche, auch nur etwas menschlichen Klängen entfernt Ähnliches nachzuahmen oder zu reproduzieren«.28 Kohts’ Beobachtungen waren für ihre Zeit wahrlich bemerkenswert, und viele von ihnen sind seither bestätigt und an größeren Stichproben erweitert worden.29

Die Kommunikation zwischen Mutter und Kind - alles andere als eine Einbahnstraße

Aus Nadja Kohts Umgang mit Joni ist klar ersichtlich, dass dieser imstande war, ihr seine Emotionen und Bedürfnisse mitzuteilen, und dasselbe gilt für Schimpansenbabys in natürlicher Umgebung. Zum Glück ist die Kommunikation bei Letzteren weniger von Traurigkeit geprägt als bei Joni, weil Schimpansenmütter mit ihren Säuglingen unablässig Körperkontakt halten. Wenn die Jungen etwa drei Monate alt sind, beginnen sie, das Gesicht ihrer Mutter aufmerksam zu beobachten (erinnern Sie sich an Kohts’ Bericht darüber, wie Joni sie intensiv angestarrt hat), und fangen an, mittels ihres Mienenspiels zu kommunizieren. Noch bevor sie sechs Monate alt sind, fordern sie ihre Mütter auf, sie zu kitzeln oder mit ihnen zu spielen, indem sie ihr Spielgesicht (play face) aufsetzen. Davor schon betteln sie um feste Nahrung, indem sie ihren Mund dicht an den der Mutter bringen, Bonobos berühren den Mund der Mutter nur. Wieder andere schnappen sich einfach das Futter, das sie haben wollen. Im Verlauf des weiteren Heranwachsens teilen Jungtiere ihrer Mutter ihre Emotionen und Bedürfnisse durch eine Vielzahl von Gesichtsausdrücken, Gesten und Verhaltensäußerungen mit, unter anderem mit den eingangs erwähnten Wutausbrüchen in der Entwöhnungsphase.
Schimpansen- und Bonobomütter verfügen ihrerseits über ein breites Spektrum an Gesichtsausdrücken und Gesten, über die sie mit ihren Jungen kommunizieren. In freier Wildbahn kann man das in den verschiedensten Situationen beobachten - beim Tragen und Wiegen, Stillen und Entwöhnen, beim Spielen, Umherziehen und beim Erlernen motorischer Fertigkeiten.30 In menschlicher Obhut lebende Schimpansenmütter hat man dabei beobachtet, wie sie ihre Jungen sorgsam beäugen, wiegen und auf den Mund küssen. Manchmal streicheln sie ihren Babys auch den Kopf oder fördern deren Entwicklung, indem sie mit ihnen Laufen üben.31 Auch etwas älteren Jungtieren, die auf Bäumen spielen und turnen, reichen die Mütter eine helfende Hand. Einige der interessantesten Gesten stehen im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme: Schimpansenmütter nehmen ihren Jungen Blätter weg, wenn diese nicht zur üblichen Ernährung gehören. Goodall ist der Ansicht, dass diese Art von Intervention »kulturelle« Nahrungspräferenzen in unterschiedlichen Schimpansengemeinschaften stärkt. Dazu passt auch das Verhalten von Schimpansenmüttern aus dem Taï-Wald, die ihrem Nachwuchs beibrachten, Nüsse mit Steinen zu öffnen.32
Spielen ist für kleine Schimpansen das Höchste. Am häufigsten spielen die Zwei- bis Vierjährigen. Weibchen mit Säuglingen spielen bereitwilliger als andere Erwachsene: »Ein Schimpansenbaby macht die erste Erfahrung im sozialen Spiel mit seiner Mutter, wenn diese es ganz sachte mit den Fingern, mit behutsamem Knabbern oder Geschnuffel kitzelt. Anfänglich sind diese Intermezzi kurz, doch wenn das Junge sechs Monate alt ist und mit Spielgesicht und Gekicher reagiert, werden die Episoden länger. Mutter und Kind spielen während der ganzen Kinderzeit miteinander.«33
Bonobomütter befleißigen sich im Spiel mit ihren Jungen langsamer, sanfter Bewegungen, dies oftmals während ihrer Ruhephasen. Sie kitzeln ihre Säuglinge, tun so, als würden sie sie beißen und haschen sie. »Liegend, das Baby auf den hochgereckten Füßen balancierend, kitzelt sie das Kleine und hält seine Hände und Füße fest. Das in den Lüften schwebende Baby schaut zutiefst glücklich und zufrieden drein.«34 Manchmal sieht es so aus, als ob diese Mütter mit ihren Jungen das »Flugzeugspiel« spielten, das wir von Menscheneltern und -kindern kennen. Bei Schimpansen wird auch spielerisches Zubeißen beobachtet, das sich nicht selten als »Dialog« gestaltet. »Erste spielerische Beißversuche waren Auslöser für eine Neckerei zwischen Mutter und Kind: Wurde eine Mutter von ihrem Baby auf diese Weise gebissen, fing sie an, das Kleine zu kitzeln, und dieses Abwechseln zwischen Beißen und Kitzeln wuchs sich zu einer alternierenden Interaktion aus, bei der beide, Mutter und Kind, abwechselnd zum Zuge kamen.«35 Sich abwechseln lernen aber ist eine der Voraussetzungen für den sprachlichen Austausch.
Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass Menschenmütter (und -väter) zu ihren Kindern in einer besonderen Stimmlage sprechen, die wir als Kinder- oder Ammensprache bezeichnen, und die unter anderem dem Säugling hilft, seine Muttersprache zu erlernen. Anders als Schimpansenmütter ermutigen Menscheneltern ihren Nachwuchs, Laute zu bilden. Das wirft eine extrem wichtige evolutionäre Frage auf: »Ein Schimpanse ist normalerweise sehr still, es sei denn, er gerät in emotionale Erregung. Zu einer spontanen nichtklagenden Lautäußerung kommt es in der Regel selten. Gibt es überhaupt lautliche Interaktionen zwischen Schimpansenmutter und -kind?«36
Wenn ein Jungtier auf dem Rücken seiner Mutter reiten will, macht es das oft durch ein Huuh deutlich. Wenn Babys bedroht oder verletzt werden, stoßen sie Kreischlaute aus, während der Zeit der Entwöhnung findet man besonders häufig Winseln oder wütendes Kreischen. Kleinere Jungtiere sind stiller. Wenn ein Baby, das sich im Bauchfell seiner Mutter festgekrallt hat, hinunterzufallen droht, winselt es vielleicht, die meiste Zeit über aber scheinen Schimpansenbabys zutiefst zufrieden damit, stumm die Wege ihrer Mutter mitzugehen, dasselbe gilt, wenn sie groß genug sind, um huckepack zu reiten. Umgekehrt gibt es auch nur wenige Berichte über Schimpansen- und Bonobomütter, die irgendwelche Lautäußerungen direkt an ihre Jungen richten. Natürlich antworten Mütter auf Schreie ihrer Jungen - und dies auch, wenn diese außer Sichtweite sind. Manchmal äußern sie leises Gebell (soft barks) oder Huster (coughs) als sanfte Zurückweisung für Jungtiere, die entwöhnt werden sollen. Auch wenn sie ihre Jungen untersuchen, geben sie leise Laute von sich. Im Folgenden ein seltener Bericht über eine lautliche Mutter-Kind-Interaktion, die Goodall unter ungewöhnlichen Bedingungen beobachtet hat: »Arme Melissa - das Weinen eines kranken Zwillings war schon schlimm genug, aber oft stimmte auch Gimble noch ein, wahrscheinlich aufgeschreckt von der Intensität der Schreie seines Bruders. Manchmal, wenn sie beide schrien, setzte sich Melissa hin und wiegte sie beide, bis sie ruhig wurden. Zu anderen Zeiten hielt sie sie fest und bewegte sich sehr schnell und stieß dabei eine Serie von keuchenden Grunzlauten aus - als drohte sie ihnen.«37
Zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen Mütter routinemäßig mit ihren Jungtieren über Laute kommunizieren, gehören das Umherziehen und die Nahrungssuche. Sowohl Bonobo- als auch Schimpansenmütter geben Huuhs von sich, um ihre Kinder zum Weiterziehen herbeizuholen. »Wenn zwei oder mehrere einander vertraute Schimpansen, insbesondere Familienmitglieder, zusammen wandern und Nahrung suchen, hört man manchmal auch ein leises Grunzen (soft grunt). Im typischen Falle grunzt eines der Tiere, wenn es seinen Marsch unterbricht oder wenn es sich aufmacht, um weiterzuziehen … Somit stehen diese Grunzlaute im Dienste der Koordination von Bewegungen und des Gruppenzusammenhalts.«38 Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Mütter sich ihren Jungen mit Lauten zuwenden, ähneln die Laute der Mütter interessanterweise denen der Jungen.39
Es ist eindeutig, dass Schimpansenkinder in einer für sie unangenehmen Situation schreien, quieken und winseln, und dass ihre Mütter dies hören und darauf reagieren. Manchmal geben Jungtiere kurze angestrengte Grunzlaute von sich, wenn sie sich irgendwo abstrampeln. Aber verwenden sie Grunzlaute auch unter weniger widrigen Umständen? In Laboruntersuchungen an einer nur einen Tag alten Schimpansin namens Pan am Zentrum für Primatenforschung in Kyoto hat man beobachtet, dass diese auf laute Geräusche mit Stakkato- und Grunzlauten reagierte und mit zwei Monaten in Reaktion auf verschiedene Reize, unter anderem wenn man sie ansprach, ganz ähnliche Laute hervorbrachte.40 Mit zehn Wochen lachte sie und ahmte verschiedene Geräusche aus ihrer Umgebung nach. Pan, die von Menschen aufgezogen worden war, gebar eines schönen Tages eine Tochter namens Pal, die sie selbst aufzog. Genau wie bei Pan waren auch Pals Lautäußerungen nahezu immer Reaktionen auf Reize von außen - auf die Laute ihrer eigenen Mutter oder auf die von Menschen, auf die Gegenwart anderer Schimpansen oder auf Umweltgeräusche. Interessanterweise ging bei beiden Schimpansen die Tendenz zu Lautäußerungen mit zunehmender Reife zurück, möglicherweise weil ihnen ihre Umgebung vertraut geworden war.
In einer vielsagenden Studie hat Shozo Kojima den lautlichen Austausch zwischen Schimpansenmüttern und ihren Jungen verglichen. Von den drei Müttern war nur eine (Pan) im Kontakt mit Menschen trainiert worden. Die beiden anderen Mutter-Kind-Gespanne interagierten kaum über Lautäußerungen miteinander, Pan und Pal hingegen wohl, dies vor allem am Abend. Pan reagierte auf Pals unglückliches Quieken, Winseln und Schreien mit liebevollem Japsen (pants), Japs-Grunzen (pant-hoots) oder sanften Grunzlauten. Kojima schrieb das ungewöhnliche Ausmaß an lautlicher Interaktion zwischen Pan und Pal Pans früherem Training auf Laute und Geräusche durch Menschen zu.
Kojima hat beobachtet, dass sich die Lautäußerungen von Menschenbabys zunächst ähnlich wie die von Schimpansen entwickeln, es jedoch einen großen Unterschied gibt: Neben der Reaktion auf äußere Reize produziert ein Menschenkind viele spontane Lautäußerungen, die im Lauf der Zeit zum Lallen führen. Und Lallen ist nun einmal die Aufwärmübung für die allerersten Sprechversuche. All das erlaubt den Schluss, dass Schimpansenmütter keine dem Menschen vergleichbare Ammensprache pflegen und ihre Jungtiere nie zu brabbeln beginnen, von sprechen ganz zu schweigen. Beim Schimpansen ist das Spektrum der Lautäußerungen beschränkt. Beim Menschen ist es das eindeutig nicht. Doch wie ist dieser Unterschied in der Evolution entstanden, und welche Auswirkungen hat dies auf unsere weitere Evolution als Art?