Erzählt von Leberwerten, Bonbonieren, Briefkastenfirmen und Alibis. Und von Geld, viel Geld. Und von Sirenen. Und von Kamasutra und Fernbedienungen. Während Montana eine Allianz der Entschlossenen bildet, hat die Poldi Hausarrest und schmuggelt Kassiber. Der Neffe gerät an eine femme fatale und setzt mit der Signora Cocuzza und Padre Paolo einen tollkühnen Plan um. Bloß kommt dann doch wieder was dazwischen.
Sie behielten die Poldi zur Beobachtung eine Nacht im Krankenhaus, dann durfte Montana sie nach Hause bringen.
Der Verdacht auf Herzinfarkt hatte sich zwar nicht bestätigt, aber so richtig toll sah das EKG nicht aus. Die Blutwerte auch nicht. Die Leberwerte vor allem, wie man sich vielleicht denken kann. Aber auch andere Parameter lagen mehr so im gelb-roten Bereich, denn im Universum wie im menschlichen Körper ist ja alles miteinander verbunden.
Komplexe Systeme sind träge. Sie streben stabile, gesunde Zustände an, in die sie wohlig seufzend einrasten und die sie nur unwillig murrend verlassen, wenn man wie wild an allen Reglern fummelt. Wenn man sie durch hartnäckige Ressourcenverschwendung, Regenwaldabholzung, Monokultur, Stress, Unglück, Suff, Gewalt oder schieren Mutwillen jedoch erst einmal in ein labiles Gleichgewicht gebracht hat, dann muss nur irgendwo ein Sack Reis umfallen, und holterdipolter geht alles den Bach runter. Hab ich mal gelesen.
Der fesche Oberarzt hatte der Poldi erklärt, dass sie bei diesem Lebenswandel ihren nächsten Geburtstag vermutlich nicht erleben werde. Er hatte ihr unappetitliche Szenarios von multiplem Organversagen ausgemalt, ihr absolute Ruhe und Abstinenz verordnet und sie dann um ein Selfie für die Promi-Fotowand im Schwesternzimmer gebeten.
Leider gehören Abstinenz und Ruhe zu den ganz wenigen Dingen, von denen die Poldi eher nichts versteht.
Sie versuchte, Montana zu erklären, dass der Fall so gut wie aufgeklärt sei. Dass sie nur noch ein, zwei Spuren zusammenführen müsse. Dass sie sich dann auch wirklich endgültig zur Ruhe setzen würde. Sie bettelte Montana an, ihr das Handy zurückzugeben und ihr einfach noch zwei Tage zu geben.
Aber diesmal blieb Montana hart. Er bildete eine Allianz der Entschlossenen mit Caterina, Luisa und Teresa und erteilte der Poldi bis zur Hochzeit Hausarrest inklusive Handyverbot, Alkoholverbot und Überwachung rund um die Uhr.
Die Tanten sollten sich in drei Schichten abwechseln, die Poldi bekochen, sie mit Smoothies versorgen und versuchen, sie mit Hochzeitsvorbereitungen abzulenken.
Als Erstes breiteten sie ein Dutzend Muster von Bonbonieren auf Poldis Bett aus und nötigten sie, eine Entscheidung zu treffen.
Denn die bomboniera gehört notwendigerweise, absolut unumgänglich und alternativlos zu jeder sizilianischen Hochzeit dazu. Aber auch bei runden Geburtstagen, Taufen, Kommunionen, Staatsexamen und Pensionierungen dürfen bomboniere nicht fehlen. In der Regel werden sie vom Gastgeber an die Gäste verschenkt oder auch als kleine Aufmerksamkeit für einen Jubilar.
Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um Bonbon-Döschen, in denen sich kleine Tüllsäckchen mit glasierten Mandeln befinden, je nach Anlass in einer anderen Farbe. Weiße Mandeln reicht man bei Hochzeiten. Bei achtzehnten Geburtstagen und Pensionierungen ist Grün zu empfehlen. Bei Examen und Doktortiteln variiert die Farbe je nach Studienfach: schwarze Mandeln für Architekten und Ingenieure, lilafarbene für Sprachwissenschaftler, gelbe für Betriebswirte und blaue für Juristen. Bei Silberhochzeiten und Goldenen Hochzeiten sind die Mandeln natürlich silbern oder golden glasiert, eh klar. Im Zweifelsfall fragt man besser eine meiner Tanten, die kennen sich damit aus.
Das Allerschwerste – vielleicht sogar schwerer als die perfekte Tischordnung – ist jedoch die Auswahl der bomboniera selber. Es gibt sie in allen, wirklich allen Farben, Formen und Materialien, und es gibt in Italien einen ganzen Industriezweig dafür. Üblicherweise sind bomboniere aus Glas, Porzellan oder Silber. Als Faustregel gilt wie immer: Dezenz ist Schwäche. Je kitschiger und teurer, desto besser. Danach ist man zwar arm, und verwenden kann man die bomboniere im Alltag auch nicht wirklich, aber alle Gäste werden noch Jahrzehnte davon sprechen. Und nur darum geht es. Um Eindruck schinden. Um bella figura. Und vor allem um Dankbarkeit.
Die bomboniera ist ein vorweggenommener Dank des glücklichen Hochzeitspaars für die vierundzwanzigteiligen Kaffeeservices, die Silberlöffel und die Spitzendeckchen, die man ebenfalls niemals verwenden, sondern lediglich im salotto ausstellen wird wie Pokale von Weltmeisterschaften.
Für eine pragmatisch und eher postmodern kalibrierte deutsche Seele mag das alles putzig klingen. Aber man darf nicht vergessen, dass wir Sizilianer halbe Orientalen sind. Der ritualisierte Austausch von Geschenken, Aufmerksamkeiten und Dankbarkeit ist das Öl im Getriebe der sizilianischen Gesellschaft, und überall lauern Fettnäpfchen. Aber keine Bange, im Zweifelsfall einfach eine meiner Tanten fragen, die kennen sich aus.
Die Poldi hätte sich daher keine besseren Expertinnen in Sachen Hochzeitsplanung wünschen können. Als barock gestimmter, bajuwarischer Klangkörper hat sie es ja durchaus mit Nippes. Sie versteht auch was von der Poesie nutzloser Dinge, und sie ist der dankbarste und großzügigste Mensch, den ich kenne.
Aber als sie sich, so geschwächt im Bett, mit diesem Halleluja des Kitsches konfrontiert sah, verging ihr auf einmal die Lust am Heiraten, am Feiern, an dem ganzen Brimborium. Sie wollte doch nur wieder gesund sein, vielleicht ein Weißbier zischen, Montana vernaschen und ein bisschen links und rechts ermitteln.
Das gestattete Montana ihr jedoch nicht. Selbst für kleine Spaziergänge am lungomare durfte die Poldi das Haus nur in Begleitung verlassen. Besuch war ihr lediglich eine Stunde am Tag erlaubt, ebenfalls nur in Anwesenheit einer Vertrauensperson der Allianz. Zu der ich übrigens nicht gehörte, auch nicht die Signora Cocuzza und Padre Paolo.
»Nimm’s mir nicht übel, aber du tust ihr gerade nicht gut«, sagte Montana zu mir, als ich der Poldi am nächsten Tag alles brühwarm berichten wollte.
Montana ließ mich noch nicht mal ins Haus.
»Soll kein Vorwurf sein«, erklärte er mit unerwartet hartem Gesichtsausdruck, »aber deine Tanten haben dir vor einem Jahr einen Auftrag gegeben, und du hast ihn nicht hingekriegt. Du solltest auf die Poldi aufpassen. Sie davon abhalten, sich totzusaufen. Aber was ist stattdessen passiert? Schau dich an. Du trägst bunte Hemden, rauchst, trinkst, prügelst dich, ermittelst auf eigene Faust. Du bist ihr einfach nicht gewachsen. Du bist raus.«
Das saß. Volltreffer, versenkt.
So hatte ich das bislang noch gar nicht betrachtet. Aber wahrscheinlich hatte ich mir in meiner Eitelkeit eben doch nur eingebildet, dass ich im vergangenen Jahr ein wenig Einfluss auf die Poldi gehabt hatte. Dass sie weniger trank, wenn ich da war. Dass es ihr guttat, den verklemmten Neffen zu schurigeln und mit ihren Eskapaden zu schockieren. Dass es sie aufbaute, wenn sie mir ihre Fälle erzählte und sie mit hanebüchenen Episoden über den Tod und ihre Promi-Freunde überzuckerte. Dass sie irgendetwas in mir sah, für das es sich lohnte zu leben.
»Ich wollte nur helfen«, sagte ich mit Kloß im Hals.
»Wir sehen uns auf der Hochzeit.«
Montana wollte die Haustür zuziehen.
»Aber was ist mit dem Fall?«, fragte ich hilflos und ausgebremst.
»Darum kümmern sich die zuständigen Kollegen. Massimos Aussage wird überprüft, Favarotta werden wir bald finden, und spätestens dann werden wir auch den Mord an Samir aufklären. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, glaub mir. Und Maria werden wir auch noch auf die Spur kommen.«
Ich glaubte es ihm sogar. Nur froh machte es mich seltsamerweise nicht. Obwohl ich keinen Zweifel hatte, dass Montana nur ihr Bestes wollte, bezweifelte ich eben auch, dass das wirklich das Beste für die Poldi war. Ermitteln war ihr Lebenselixier. Ich bezweifelte, dass sie gesund werden könnte, wenn sie diesen Fall nicht selbst abschloss. Und unfair fand ich es außerdem auch.
Aber was konnte ich tun?
Nun, ich konnte meine Superwaffe einsetzen. Meinen fettesten Trumpf ausspielen. Mein größtes Naturtalent in den Ring werfen.
Meine absolute Harmlosigkeit.
Wie auf heißen Kohlen wartete ich bis zum Abend und besuchte dann Tante Luisa überraschend zu Hause.
Meine Tanten sind warmherzige, sinnesfrohe Geschöpfe voller Herzensgüte und Nachsicht. Allerdings ziemlich stur. Wenn sie sich etwas vorgenommen haben, ziehen sie es durch. Wenn man sie von irgendwas abhalten will, beißt man auf Granit. Vor allem bei Tante Caterina und Tante Teresa. Tante Luisa jedoch, die jüngste der drei Schwestern, ist meine Patentante und hat den weichsten Keks von allen dreien. Leichtes Spiel also.
Ich brachte ihr einen Strauß Strelitzien aus Valéries Garten mit, ihre Lieblingsblumen.
»Ich würde einfach nur gern hören, wie es ihr geht«, erklärte ich ihr auf Deutsch, denn Tante Luisa spricht gern Deutsch mit mir. »Also persönlich.«
»Aber Montana möchte das nicht«, sagte Tante Luisa zögerlich. »Ich finde das ja auch schwierig, aber schau, vielleicht ist es wirklich besser so.«
»Nur hören, wie es ihr geht«, sagte ich beschwörend und griff mir an die Brust. »Einfach nur ein paar Worte wechseln. Dass sie sich keine Sorgen um mich machen muss. Dass mit mir und Valérie auch wieder alles in Ordnung ist. Dass ich angefangen habe, ihre Fälle aufzuschreiben, das wird sie freuen.«
Ja, es war unverschämt. Ja, ich zog sämtliche Register.
Tante Luisa arrangierte die Strelitzien in der Vase.
»Mei, sind die schön.«
Bingo, dachte ich. Du bist ein Virtuose auf der Klaviatur der Emotionen. Du bist der geborene Scharlatan.
Tante Luisa sah mich milde an. »Du warst immer so ein lieber, stiller Bub. Aber auf einmal bist ein richtig durchtriebener Halunke.«
»Äh, was?«
»Ich wollte es ja nicht glauben, aber Teresa hat vorausgesagt, dass du’s bei mir versuchen würdest. Also, was willst du wirklich?«
Ich hustete verlegen.
»Ich will sie nur auf den Stand der Dinge bringen. Mehr nicht, ehrlich. Das hat sie schließlich verdient.«
Tante Luisa dachte nach.
»Und was krieg ich dafür?«
»Äh … An was hast du denn gedacht?«
»Ich möchte, dass du mich einmal im Monat besuchen kommst. Und wenn du Poldis Fälle eines Tages aufschreibst, möchte ich als clevere femme fatale darin vorkommen. Detektivin oder Gangsterin, kannst du dir aussuchen.«
»Vergiss es«, stöhnte ich. »Die Besuche mache ich gerne, aber was die eventuellen Krimis betrifft – eh, das ist kein Wunschkonzert.«
Tante Luisa nickte. »Das verstehe ich. Du bist ja schließlich Künstler. Gell, bestellst der Valérie schöne Grüße von mir, ja?«
»Ich mach dich zur Hauptfigur in meinem Familienroman«, bot ich verzweifelt an.
Tante Luisa schüttelte den Kopf. »Ach, weißt du, Krimi mag ich lieber.«
»Ihr spinnt doch alle«, ächzte ich.
Tante Luisa streckte eine Hand aus. »Clevere femme fatale. Erotisch, aber nicht vulgär. Und mit einem dunklen Geheimnis. Den Namen kannst du dir aussuchen.«
Am nächsten Vormittag wartete ich zur verabredeten Zeit auf einer Bank unter einem Orangenbaum am lungomare von Torre Archirafi.
Ich erschrak ein bisschen, als ich die Poldi am Arm von Tante Luisa sah. Sie ging langsam, wirkte erschöpft, fast tapsig.
Ächzend ließ sie sich neben mir auf der Bank nieder.
Tante Luisa setzte sich dezent außer Hörweite auf die Bank unter dem nächsten Baum und deutete mir mit den Fingern an: zehn Minuten.
Die Poldi trug ihr gelbes Kleid mit weißen Tupfen, war geschminkt und alles, aber die Blässe und die Augenringe waren unübersehbar. Ich fragte mich, ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war mit dem Gespräch.
»Wie geht’s dir?«
»Mei. Du hast nicht zufällig ein Bier dabei?«
»Haha, sehr witzig.«
Die Poldi seufzte. »Einen Durst hab i, des kannst du dir nicht vorstellen. I hab mir vorg’stellt, dass i mein Leben genau so beende, wie i immer g’lebt hab: frei und mit Tschingderassabum. Aber jetzt schau mich an: a oide Krampfscherbn auf dem Trockenen.«
»Vom Jammern wird’s auch nicht besser.«
»Hört, hört. Wolltest mich deswegen treffen? Um mir obendrein noch ein paar Schlaumeiersprüche mitzugeben?«
Ich atmete durch.
»Forza Verde gibt’s gar nicht.«
»I weiß.«
Ich starrte sie perplex an. »Was soll das heißen?«
»Mei, wenn zwei ausgefuchste Kriminalgenies wie der Vito und i einfach nix über eine bestimmte Organisation finden, dann kann des fei nur bedeuten, dass diese Organisation gar nicht existiert, meinst nicht?«
War was dran.
»Was weißt du noch?«, fragte ich.
»Alles nur Vermutungen. I hab gestern heimlich mit Irene Patti vom L’Espresso telefonieren können. Sie ist da an was dran.«
»Aha.«
»Jetzt sei nicht wieder gleich beleidigt. I hab’s bei dir versucht. Aber Ihro Gnaden waren ja nicht erreichbar.«
Ich musste an mein Handy denken, das Maria aus dem Auto geworfen hatte und das wahrscheinlich irgendwo unter Macchia-Büschen verrottete.
In aller Kürze erzählte ich ihr von meinem Abenteuer mit Maria bis zu der Befragung von Massimo.
»Massimo hat behauptet, dass er Lenka vor einem Jahr im Lo Zò kennengelernt habe«, berichtete ich. »Sie hatten kurz was miteinander. Und dann habe Lenka ihn überredet, Forza Verde zu gründen, um mit Guerilla-Aktionen auf die Zerstörung der Umwelt in Sizilien aufmerksam zu machen. Kurz darauf habe Lenka über diese Dating-Plattform Favarotta kennengelernt. Angeblich, um ihn für eine erste Aktion auszuspionieren. Bloß stand Favarotta dann eines Tages auf der Matte und bot an, Forza Verde im Hintergrund zu finanzieren und was ganz Großes daraus zu machen.«
»Typisch.«
»Tja, und Massimo hat’s geglaubt. Plötzlich war viel Geld im Spiel, und er wollte Lenka ja immer noch beeindrucken. Bloß wurde nix draus. Irgendwann hat Massimo Favarotta darauf angesprochen, und dann kam raus, dass Favarotta Forza Verde als Deckname für eine Briefkastenfirma benutzt hatte. Mit Sitz auf …«
»Malta.«
»Oh, das weißt du also auch schon.«
»Des hat Irene Patti rausg’funden. Favarotta hat des ganze Geld, das er für Xanadu bei den Investoren eing’sammelt hat, wahrscheinlich rüber zu Forza Verde g’schaufelt. Weil, verständlich, nur mit einer traurigen Million wollte er sich schließlich auch nicht absetzen. Aber jetzt rate, wer außer Favarotta noch als Gesellschafter von Forza Verde eingetragen ist.«
»Silvia Favarotta?«
»Nicht schlecht, aber falsch. Scaramella.«
Ich pfiff durch die Zähne.
»Was sagt er dazu?«
»Schweigt.«
Die Poldi berichtete mir von ihren Ermittlungen bei Brugaletta und dem Abzeichen, das er ihr gegeben hatte.
»Als die Carabinieri bei Scaramella vor der Tür standen, hat er ihnen nur ganz cool des Abzeichen an seinem Revers gezeigt. Seine Jagdflinte stand ordnungsgemäß im Waffenschrank und ist nicht die Tatwaffe. Obendrein hat Scaramella sogar ein Alibi für die Tatzeit. Und jetzt rate noch mal.«
»Silvia Favarotta.«
»Cento punti. Sie schweigt natürlich auch. Aber i bin mir ziemlich sicher, wie’s war. Scaramella wollte Geld für seine Partei, Favarotta wollte als Politiker groß rauskommen, und Silvia wollte ihren Anteil an der Firma. Also hat Silvia alles eingefädelt. Bloß, als sie dann des Testament g’sehen hat, hat sie g’schnallt, dass Scaramella sie belogen hat. Nur beweisen müsst ich es halt noch können.«
»Glaubst du, Silvia Favarotta und Scaramella wollten Favarotta umbringen?«
»Schwer zu sagen. Durch des Testament hätte Scaramella ein Motiv. Denn falls der Mord unaufgeklärt bliebe, wäre er ja Treuhänder des Vermögens.«
»Aber Silvia Favarotta würde dann leer ausgehen. Da wird sie wohl kaum mitgespielt haben.«
»Pfeilgrad. Und riskant wär’s auch.«
»Warum deckt sie Scaramella dann überhaupt noch?«
»Mei, vielleicht, weil immer noch ein Haufen Geld im Topf ist? Und, i glaub, da ist noch ein weiterer Faktor mit im Spiel, der alles durcheinandergewirbelt hat.«
»Wen meinst du?«
»Nicht wen, sondern was. Die Liebe. Schon mal davon g’hört? Aber da muss i erst noch ein bisserl tiefer graben.«
Ich dachte laut nach. »Und dann ist Favarotta plötzlich abgetaucht und alle so: ›Huch!‹«
»Pfeilgrad. Weil Favarotta eben nicht blöd ist. Alle miteinander haben sie gedacht, dass sie Sirenen sind. Silvia, Scaramella, Massimo. Sogar Russo und seine Mafia-Investoren. Dass sie bloß ihr Liederl singen müssten, und schon zerschellt der blöde Favarotta an ihren Klippen, und sie brauchen nur noch sein Schiff plündern. Bloß, in Wahrheit ist Aldo Favarotta die Sirene. Er hat schamlos allen alles versprochen, und alle haben sie ihm geglaubt. Scaramella und seinen Faschisten hat er ein paar Millionen versprochen, Silvia hat er die Firma versprochen, Samir hat er die Leitung von Xanadu versprochen, Lenka hat er ein Luxusleben versprochen, Massimo hat er Forza Verde und Lenka versprochen, Russo und den Investoren hat er märchenhafte Renditen versprochen. Dabei war Xanadu bloß genau des: ein Märchen, ein einziger Beschiss, sonst nix. Einer nach dem anderen ist seinem Lied gefolgt, und auf einmal waren zwei Menschen tot.«
»Massimo behauptet, Lenkas Tod sei ein Unfall gewesen.«
Das schien die Poldi zu überraschen.
»Oha.«
»Hat Montana dir das etwa nicht erzählt?«
»Der Vito ist gerade sehr streng mit mir. Nur im Bett, da ist er gerade sehr sanft. Weil, als Kriminalkommissar ist er ja nicht nur kriminalistisch ein Genie. Der weiß halt, welche Art von Akupressur und Sex ein rekonvaleszenter Mensch wie i braucht. Du, i glaub, der Vito und i, wir sind da gerade auf einer kamasutrischen Expedition. Lach nicht, gut möglich, dass wir kurz davorstehen, eine weltbewegende Entdeckung zu machen. Natürlich brauchen wir da noch viel mehr Daten und müssen noch sehr viel forschen, sehr viel. Sag, hast du g’wusst, dass auch Männer einen G-Punkt haben?«
»Poldi, bitte!«, stöhnte ich.
»Vielleicht schreib i ja auch noch ein Buch. Einen Ratgeber. Des Oberreiter-Kamasutra, was meinst? Oder klingt des zu wissenschaftlich? Populärer wäre: Alle können kommen.«
Ich hielt mir die Ohren zu. »Lalala!«
Aber irgendwie kam mir die Poldi schon wieder viel rosiger vor.
»Ansonsten aber schirmt er mich ab, wo er nur kann«, schwenkte sie ungerührt zurück in die Spur. »Deswegen erzähl i ihm auch nix. Des hat er nun davon. Also, was hat Massimo g’sagt?«
»Seine Version ist die: Lenka hatte sich angeblich in Favarotta verliebt. Oder in sein Geld, was weiß ich. Deckt sich aber mit dem, was sie mir an dem Abend im Auto gesagt hat. Eine Woche vor ihrem Tod teilt sie Massimo überraschend mit, dass sie mit Favarotta weggehen wird. Irgendwohin, anderes Land, wahrscheinlich Argentinien. Massimo total von den Socken und bestürzt. Weil, das war ja nicht der Plan gewesen. An dem Abend, nachdem Favarotta verschwunden war, bittet Lenka Massimo, sie zu der Hütte am Lago Dirillo zu fahren. Dort aber stellt sich nun raus, dass Favarotta gar nicht mehr vorhat auszuwandern. Sondern, dass er nur eine Weile am See die Füße stillhalten will, bis sich ein paar Dinge geklärt haben. Es kommt zum Streit zwischen Lenka und Favarotta. Auch Massimo mischt sich ein. Lenka ist zu diesem Zeitpunkt angeblich schon bis zur Halskrause voll mit Keta. Sagt Massimo. Dann geht wohl alles ziemlich schnell. Lenka zieht sich aus, läuft zum See und springt rein, um Dampf abzulassen. Favarotta und Massimo hinter ihr her. Aber als sie zum See kommen, treibt Lenka schon bewusstlos im Wasser. Sie ziehen sie ans Ufer, versuchen, sie wiederzubeleben. Leider erfolglos.«
»Und Favarotta kapiert«, schaltete sich die Poldi an der Stelle ein, »dass des seinen ganzen schönen Plan zerschießt, wenn er jetzt die Polizei ruft.«
»Genau. Also bequatscht er Massimo, Lenkas Leiche irgendwo im Meer zu versenken. Massimo will erst nicht, aber dann erklärt ihm Favarotta, was die Alternative ist: nämlich Ermittlungen, Mordverdacht und vor allem Schluss mit Forza Verde und der Kohle. Also lässt sich Massimo darauf ein.«
Die Poldi nickte.
»Aber dann bringt er’s nicht über sich, die schöne Sirene einfach ins Meer zu kippen wie Sperrmüll. Sondern er legt sie am Ufer der Isola Bella ab.«
»Nicht nur das«, ergänzte ich. »Er dekoriert sie sogar noch ein bisschen und macht Aufnahmen, die er später für eine Videoinstallation verwendet.«
»Nein!«
»Doch.«
»I glaub’s nicht. Wie deppert ist des denn?!«
»Spricht allerdings gegen ihn als Mörder«, sagte ich. »Und so, wie ich Montana verstanden habe, geht der Autopsiebericht auch eher Richtung Unfall.«
Wir schwiegen.
Ich dachte an Lenka, stellte mir vor, wie sie im Lago Dirillo trieb.
»Das verbrannte Handy in der Hütte«, begann ich wieder. »Das hat Lenka gehört, nicht wahr?«
Die Poldi nickte erneut.
»Warum hat Favarotta es erst so spät verbrannt?«
»Mei«, seufzte die Poldi. »Weil es ihm schwerfiel? Weil noch Fotos oder andere Erinnerungen drauf waren? Weil er sie vielleicht wirklich geliebt hat?«
Ich stöhnte.
Ein Zischen von der linken Seite. Ich drehte mich um und sah, dass Tante Luisa mir zwei Finger zeigte.
»Hast du was von Maria gehört?«, fragte ich die Poldi.
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie hat mich angerufen, kurz nachdem du mit dem Doblo losgefahren warst. I konnt ja nix machen, also hab i die Signora Cocuzza angerufen, weil die hab i ja eh dringend sprechen wollen. Aber der Vito hat mir kein langes Telefonat gestattet, und es hat ja auch pressiert. Ein Glück, dass die Signora Cocuzza und ihr tanguero da gerade auf einer Milonga im Palazzo Biscari waren, praktisch ums Eck.«
»Und Maria?«
»Abgetaucht. Der Vito hat sofort ein Team zu der Werkstatt g’schickt, die du der Signora Cocuzza beschrieben hast. Aber der meccanico meinte nur, dass sie fortgegangen sei, und er wisse nicht, wohin.«
»Soso.«
»Was soll jetzt des heißen?«
»Nichts. Vielleicht ist sie ja nach Sambuca di Sicilia zurück, wo sie sich dieses Häuschen gekauft hat.«
Abermals schüttelte die Poldi den Kopf.
»Des Häuschen g’hört gar nicht der Maria. Sie hat des alles erfunden. Wie immer.«
»Oh Kacke. Du meinst, sie plant immer noch was?«
»Davon geh i fest aus. Aber mei, was hab i erwartet?!«
Ich dachte an den seltsamen Abend mit Maria bei Roberto Pirandellos Familie.
»Ich bin mir da nicht mehr so sicher.«
»Na los, spuck’s schon aus.«
Ich zögerte.
»Ist es okay für dich, wenn ich mich da alleine drum kümmere?«
Die Poldi sah mich verblüfft und auch ein bisschen respektvoll an, bildete ich mir ein.
»Da schau her. Der Herr Autor hat Geheimnisse.«
»Vertrau mir einfach mal, okay?«
Die Poldi strich mir über den Arm. »Ach, Bub, des tu i doch eh. Auch wenn dich des jetzt überrascht.«
»Bleiben noch zwei Fragen«, sagte ich. »Wer hat Samir getötet? Und wo ist Favarotta?«
Die Poldi nickte.
»Wir müssen Favarotta finden. Alles hängt an ihm.«
»Irgendeine Vermutung, wo er sein könnte?«
Die Poldi grinste mich an. »Wo geht ein sizilianischer Mann hin, wenn er sonst nirgendwo mehr hinkann?«
»Äh …«
»Zu seiner mamma!«
»Moment. Favarottas Mutter ist doch tot, denke ich. Heilige Frau, Schamanin, einbalsamiert und so weiter.«
»Aber nun wissen wir ja inzwischen, dass Aldo Favarotta der größte Lügner vor dem Herrn ist, gell? Erinnere dich an des Foto in seiner Brieftasche. Und dann erinnere dich, dass Favarotta in Sutera geboren wurde. Und nicht in Enna. I hätt mich schon wieder ohrfeigen können, dass i da nicht gleich drauf ang’sprungen bin. Aber mei, da saß i ja im Auto, hatte eine Stinkwut auf den Vito und einen Mordsdurst obendrein.«
Fand ich so mittelüberzeugend.
»Aha. Aber das könnte doch auch schon wieder gelogen sein.«
»Mei. Aber haben wir was Besseres? Nein, sag nichts, haben wir nicht. Außerdem hab i diesbezüglich bereits Nachforschungen ang’stellt.«
»Wie jetzt? Ich denke, Montana und die Tanten passen wie Schießhunde auf dich auf?«
»Hältst mich für scheintot, oder was? I hab natürlich meine Mittel und Wege. I hab der Signora Cocuzza ein Kassiber unterg’schoben, als sie ein paar dolci aus der Bar vorbeigebracht hat. Und heut Morgen kam die Antwort in einem dolci-Paket zurück.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Tante Luisa mir hektische Zeichen machte. Ich versuchte, sie zu ignorieren und konzentrierte mich auf die Poldi.
»Los, sag schon.«
»In Sutera gibt’s zwei Favarottas.«
Ich dachte kurz nach.
»Okay, ich kümmere mich darum.«
Die Poldi hakte sich bei mir unter.
»Des Sympathische an dir ist ja, dass du dir deine kindliche Naivität bewahrt hast. Nicht wirklich sexy, aber sympathisch.«
»Was soll das denn jetzt heißen?«
»Wir, soll des heißen. Wir beide werden morgen nach Sutera fahren.«
»Äh … Nein?! Also, im Sinne von: Das kannst du mal schön knicken, da mach ich nicht mit. Schon vergessen, dass du nicht gesund bist? Außerdem hast du Hausarrest.«
»Genau deswegen wirst mich ja auch rausholen.«
Ich merkte, wie sie mir etwas in die Hand drückte und meine Finger darum schloss. Dann erhob sie sich.
»Mit meinem Leben kann i fei immer noch machen, was i will, merk dir des.«
Sie schlurfte rüber zu Tante Luisa und hakte sich wieder bei ihr unter.
Tante Luisa winkte mir zu.
Ich winkte matt zurück, öffnete das gefaltete Papierchen, das die Poldi mir zugesteckt hatte, und stöhnte. Der Kassiber enthielt genaue Anweisungen, wie man sich auf hirnrissigste Art und Weise den Hals brechen konnte.
Wie in dem Kassiber beschrieben, trommelte ich als Erstes das Poldi-Team zusammen. Wir trafen uns in der Sakristei und studierten Poldis Anweisungen.
Und ich so: »Das ist doch Wahnsinn!«
Und Padre Paolo so: »Das ist Selbstmord.«
Und die Signora Cocuzza so: »Das ist … tollkühn.«
Wir sahen uns an und beugten uns wieder über Poldis detaillierte Anweisungen.
Und ich so: »Das klappt nie und nimmer.«
Und Padre Paolo so: »Kriminell ist es auch.«
Und die Signora Cocuzza so: »Aber auch tollkühn.«
Damit war es beschlossen.
»Sobald wir Sichtkontakt zu den Zielobjekten haben, geht es los«, bestimmte der Padre. »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.«
Er schlug das Kreuzzeichen über uns, und wir planten den Ausbruch des Jahrhunderts.
Bei den »Zielobjekten« handelte es sich um die drei Bauarbeiter von der Baustelle gegenüber Poldis Haus.
Die Poldi, grundsätzlich neugierig, hatte in den ersten Tagen versucht, von ihrer Dachterrasse auf das Grundstück zu spähen, um herauszufinden, was dort entstand. Dabei war ihr eine gewisse Regelmäßigkeit aufgefallen: Jeden Mittag um eins ließen die drei Arbeiter Hammer, Bohrer und Schubkarre fallen und begaben sich in die Bar an der Piazza. Dort knallten sie ihre Schlüssel und Geldbörsen auf den Tisch, bestellten Cola und Snacks aus Signora Cocuzzas tavola-calda-Vitrine, daddelten ein bisschen an ihren Handys herum und dösten dann eine halbe Stunde im Schatten, bevor sie auf die Baustelle zurückkehrten.
Diese knapp zweistündige Mittagspause war das Zeitfenster, in dem Phase eins des Ausbruchplans über die Bühne gehen musste. An Phase zwei mochte ich gar nicht erst denken.
Aber wie das ja immer so ist, wenn der Stein erst mal ins Rollen gekommen ist, wenn man des Wahnsinns fette Beute geworden ist oder einfach nur versucht, einem Menschen, den man liebt, zu helfen – es gab kein Zurück mehr.
Bis zum Mittag übten wir unsere verschiedenen Rollen, parkten Padre Paolos Wagen um, setzten uns an einen Tisch auf der Terrasse vor der Bar und warteten auf die Zielpersonen.
Was soll ich sagen? Es wurde eins und Viertel nach eins und halb zwei. Keine Zielpersonen.
Was daran lag, dass in China ein Sack Reis umgefallen war. Weswegen der ältere der drei Arbeiter seit Tagen auf seinem Handy online Scrabble gegen einen Unbekannten mit dem Nickname »Mr.Bombastic« spielte und die laufende Partie unbedingt noch vor der Mittagsruhe beenden wollte. »Mr.Bombastic« führte in der Endrunde mit dreiundfünfzig Punkten und hatte bislang jedes Spiel gewonnen. Aber mit dem Befreiungsschlag ›FLEBOTOMO‹ – was »Sandmücke« heißt, womit im Mittelalter jedoch Bader bezeichnet wurden, die Aderlässe machten, und heutzutage auch Kurpfuscher – konnte der ältere Arbeiter zum ersten Mal ein Match für sich entscheiden. Der Jubel war groß.
Als die drei Arbeiter kurz vor zwei endlich in der Bar eintrafen und ihre Schlüssel und Geldbörsen auf den Tisch knallten, lagen bei mir die Nerven blank.
Zu den vielen Talenten, die ich ganz gewiss nicht habe, gehört die Schauspielerei. Aber genau die wurde in Phase eins verlangt. Dezenz ist Schwäche, dachte ich nur.
Auf ein Zeichen des Padre hin erhob ich mich von meinem Platz und simulierte einen Anfall. Und zwar con tutto. Ich zuckte wie wild, verkrampfte, knurrte und fluchte auf Deutsch und warf mich anschließend zuckend und krampfend über den Tisch der drei Arbeiter. Großes Kino.
Sofort natürlich Geschrei und Alarm. Alles fiel vom Tisch – Gläser, Snacks und Schlüssel –, alle sprangen auf, ein Riesendurcheinander.
Ich hielt mich ans Script, zuckte einfach weiter.
Padre Paolo beugte sich über mich, schlug das Kreuzzeichen und erklärte den Arbeitern unter vielen Entschuldigungen, dass ich leider von einem deutschen Dämon namens »Oberreiter« besessen sei und er mich umgehend in der Kirche exorzieren würde.
Er führte mich auch sofort weg, während die Signora Cocuzza eilfertig den umgekippten Tisch wieder klarmachte und den drei Arbeitern frische Snacks und Cola brachte.
Dass einer ihrer Schlüsselbunde dabei ausgetauscht worden war, merkten sie in der Aufregung und der ungebrochenen Freude über den Scrabble-Sieg ihres Kumpels nicht.
Wie der Teufel auf dem Weg zum Blocksberg heizte der Padre mit den erbeuteten Schlüsseln in seinem alten Punto zu einem Schlossereibetrieb in Giarre und kehrte eine Dreiviertelstunde später mit drei Nachschlüsseln in der Hosentasche zurück. Außer Atem rauschte er in die Bar.
Kurz darauf erschien die Signora Cocuzza mit drei Espressi aufs Haus bei den Arbeitern, wischte umständlich den Tisch und tauschte dabei die Schlüsselbunde unauffällig wieder aus.
Die Arbeiter, bereits wieder auf die nächste Scrabble-Runde gegen »Mr.Bombastic« konzentriert, merkten nichts.
»Bravo, Padre, bravissimo!«, applaudierte die Signora Cocuzza dem Padre wenig später in der Sakristei. »Das war tollkühn!«
»Madonna!«, rief der Padre und tupfte sich die Stirn. »Ich hoffe nur, das sind auch die richtigen Schlüssel.«
Ich sagte nichts. Starrte die Schlüssel nur an wie reines Plutonium.
Der Padre schlug mir auf die Schulter. »Das kriegst du schon hin, mein Sohn … Aber wehe, du versaust es!«
Mit »es« meinte er Phase zwei.
In der kommenden Nacht, pünktlich um kurz vor drei, trafen wir uns in der Via Baronessa wieder. Wir waren wie Schatten. Die Signora Cocuzza trug Schwarz, ich auch, der Padre eh.
Er reichte mir den Schlüsselbund. »Versau’s nicht.«
Die Baustelle war mit einem Holzzaun abgesperrt, die hölzerne Tür mit einem Vorhängeschloss gesichert.
Ich probierte die Schlüssel durch, und natürlich war es wie immer der dritte, der passte.
Ich schlüpfte durch die Tür auf das Grundstück, stiefelte durch die Ruine des ehemaligen Fischerhauses in den verwilderten Garten, wo der Kran stand.
Er war nicht groß, besaß auch keinen Führerstand, sondern wurde mit einer klobigen Fernbedienung gesteuert. Ich hatte so was noch nie gemacht, aber es gab nur sechs Knöpfe: Auf, Ab, Links, Rechts, Vor, Zurück. Eigentlich ganz einfach.
Ich sah mich um. Alles so still. Licht kam nur von den schummrigen Straßenlaternen. Von einer Mauer aus schauten mir zwei Katzen interessiert zu.
Für einen Moment stellte ich mir vor, dass dies mein Haus und Garten werden würden. Dass ich hier mit meiner Familie leben, oben unterm Dach schreiben, einkaufen, für die Kinder Pasta kochen und ihnen bei den Hausaufgaben oder beim Zöpfeflechten helfen würde, während meine Frau die Welt rettete. Bloß, welche Frau – das konnte ich mir nicht richtig vorstellen.
Als ich den Kopf hob, erkannte ich eine Gestalt auf der Dachterrasse der Via Baronessa 29. Sie trug einen Onesie mit Hasenohren und winkte mir zu.
Ich fasste es nicht.
Mit dem zweiten Schlüssel schloss ich den Baustromkasten am Haus auf und legte den Hauptschalter um. Mit dem letzten Schlüssel schloss ich den Steuerkasten des Krans auf, der mit einem tiefen Brummen erwachte.
Der Haken baumelte über dem Haus.
Ich nahm die Fernbedienung in die Hand und drückte beherzt auf »Zurück«.
Nichts.
Der Haken rührte sich nicht, der Elektromotor sprang nicht an.
Ich drückte noch mal.
Nichts.
Ich drückte hektischer.
Null.
Drüben winkte mir die Poldi.
Leise fluchend tat ich das, was meistens hilft: Ich schüttelte die Fernbedienung.
Half aber auch nicht.
Ich rannte zurück zum Stromkasten, überprüfte den Hauptschalter, überprüfte den Steuerkasten des Krans, schüttelte die Fernbedienung, drückte hektisch Knöpfe.
Nichts.
Kurz bevor mein Stammhirn in den Panikmodus schaltete, meldete sich mein Großhirn mit der schüchternen Empfehlung, vielleicht, äh, doch mal die Kabelverbindung zwischen Steuerkasten und Fernbedienung zu checken.
Und was soll ich sagen? Danke, Großhirn!
Meine Kopfhaut juckte vor lauter Adrenalin, keuchend stöpselte ich das Kabel ein und drückte wieder »Zurück«.
Surrend bewegte sich der Haken.
Ich ließ den Ausleger des Krans ein wenig nach links schwenken, bis ich den Haken genau über mir sah und ließ ihn dann herab. Er bewegte sich nur quälend langsam, der Kran ächzte dabei wie ein alter Mann beim Frühsport. Ich war sicher, dass ich sämtliche Nachbarn wecken würde.
Als ich den Haken endlich greifen konnte, hängte ich die vier Bänder mit der großen schwarzen Maurerwanne aus festem Kunststoff ein und drückte auf »Auf«. Als die Maurerwanne über den Dächern der Via Baronessa baumelte, ließ ich den Ausleger bis über Poldis Terrasse herumschwenken.
Die Poldi gab mir Zeichen. Bisschen mehr links. Nein, zu viel. Stopp. Und jetzt ab.
Ich ließ die Wanne ab und sah, wie die Poldi hineinkletterte. Ein scharfer Pfiff. Sie war bereit.
Aber ich war es nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte meine Tante doch nicht einfach mit einem Kran durch die Luft schwenken. Immer wieder stellte ich mir vor, wie die Bänder reißen, wie der Kran umkippen, wie die Kunststoffwanne mit meiner Tante Poldi abstürzen würde. Ich konnte keinen Finger rühren, ich war wie gelähmt.
Der Padre und die Signora Cocuzza eilten über die Baustelle auf mich zu.
»Ich kann nicht!«, quiekte ich.
»Ich mach das«, flüsterte der Padre und wollte mir die Fernbedienung abnehmen.
Aber ich hielt sie mit beiden Händen fest umklammert, konnte meine Hände nicht mehr lösen.
»Verdammter Scheißdreck!«, zischte Padre Paolo.
»Lassen Sie das, Padre!«, zischte ihn die Signora Cocuzza an und wandte sich an mich.
»Du kannst das. Ich weiß es.«
»Nein, kann ich nicht!«, quiekte ich.
»Doch, du kannst es.«
»Sie wird abstürzen.«
»Nein. Und weißt du, warum nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Weil wir hier noch nicht fertig sind«, erklärte mir die Signora Cocuzza. »Weil die Poldi hier noch nicht fertig ist. Weil wir alle miteinander noch nicht am Ende unserer Reise sind.«
»Und was, wenn doch?«
Die Signora Cocuzza schüttelte den Kopf. »Egal, was du jetzt tust, unsere Reise ist noch nicht zu Ende. Aber du hast jetzt in der Hand, wie sie weitergeht.«
Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange.
Vielleicht hat mich das erschreckt. Jedenfalls drückte ich auf »Auf«.
Ich erinnere mich nicht gerne daran.
Die Maurerwanne mit der Poldi geriet ins Pendeln, als ich sie hochzog. Das verstärkte sich noch, als ich den Ausleger herumschwenkte. Der Kran stöhnte regelrecht unter der Hebelwirkung, ich hatte sogar den Eindruck, dass er bereits ein bisschen kippte. Erst, als die Poldi hoch genug über den Dächern war und ich wieder auf »Zurück« drücken konnte, wurde es besser. Alles ging nur sehr, sehr langsam. Ich musste viel hin und her schwenken, was das Pendeln noch verstärkte. Als ich die Wanne endlich genau über mir sah, ließ ich die Poldi herab.
Padre Paolo und die traurige Signora griffen nach der schwingenden Wanne wie Bremser auf einem Kirmeskarussell und halfen der Poldi heraus. Totti sprang uns ebenfalls entgegen, schüttelte sich und ließ einen Erleichterungsfurz fahren.
»Das mit Totti war nicht abgesprochen!«, zischte ich.
Etwas anderes fiel mir in diesem Moment nicht ein.
»Den werden wir brauchen«, erklärte die Poldi, nahm mein Gesicht in beide Hände und drückte mir einen Schmatzer auf den Mund.
»Namaste, Bub. Falls des nix wird mit der Schreiberei, kannst immer noch auf Kranführer umschulen. Da verdienst auch mehr.«
Sie zog ein Kleid und Schuhe aus einem Leinenbeutel, den sie mitgenommen hatte und zog sich vor uns aus.
Der Padre und ich drehten uns reflexartig um.
»Und Montana hat nichts mitgekriegt?«, fragte ich.
»Sexkoma«, sagte die Poldi hinter meinem Rücken. »I weiß, des sagt dir nichts, glaub mir einfach.«
Es erschien mir wie ein Wunder, dass wir mit unserer Aktion offenbar niemanden in der Via Baronessa geweckt hatten.
Fast geräuschlos wie ein Trupp Spezialagenten verließen wir die Baustelle und eilten zu Padre Paolos Punto am Ende der Straße.
Und ich so: »Oh Kacke.«
Und Padre Paolo so: »Merda!«
Und die Poldi so: »Jalecktsmiamarsch.«
Die Signora Cocuzza sagte diesmal nichts.
An Padre Paolos klapprigem, schmutzigem Fiat lehnte ein Mann im Anzug und rauchte. Als er uns sah, trat er seine Zigarette aus, als zerquetschte er ein gefährliches Insekt.
»Ihr seid alle verhaftet«, sagte Vito Montana.