Fieber
Onyx
Über ihm breitete die Nacht ihr Zelt aus. Die tiefhängenden, grauen Wolken betteten sich wie Schafe am Firmament und wurden vom noch freien Mond mit hellen Rändern geschmückt. Sein rasselnder, erschöpfter Atem war alles, was im Moment seine Wahrnehmung dominierte. Und der Weg, den er nur wie hinter einem Schleier erahnte. Unstetes Gelände, Geröll, Reste des letzten Erdrutsches, der wahrscheinlich erst wenige Stunden her war.
Mit dem nächsten Schritt stieg er auf halbfesten Grund, rutschte weg und ging auf die Knie, deren Haut beim Zusammenprall mit den Steinsplittern riss. Er biss die Zähne fest aufeinander, atmete tief durch und stemmte sich in die Höhe. Für einen flüchtigen Moment übermannte ihn ein Schwindel, der ihm die Orientierung nahm.
Für einen kurzen Moment befand er sich wieder in Onyx.
Fünfundzwanzig Jahre in der Vergangenheit.
Und er roch die weißen Rosen, voll von Magie und so rein, wie kein Herz irgendeines Wesens sein konnte. Und hörte die Stimmen von Tarak und Mehwel und Naelin .
Letztere Stimme holte ihn wieder in die Gegenwart. Zurück zu dem bewaldeten Berg, den er seit drei Tagen bestieg, ohne auf ein lebendiges, zweibeiniges Wesen zu stoßen. Sein Körper zitterte immer wieder, sein Kopf pochte vom Fieber.
Die Geister der Vergangenheit hinter sich lassend, kämpfte er sich weiter den steilen Geröllhang hoch.
Eine Stunde später wurde der Wald, der sich den Großteil der Strecke über ihn gespannt hatte, lichter. Mit den nächsten Schritten erreichte er endlich den höchsten Punkt des Berges und fand sich auf einem Plateau wieder. Vor ihm, zwischen den glatten, geraden Buchen standen Fackeln. Noch einmal seine letzten Kräfte zusammenkratzend, machte er sich auf zur ersten Feuermarkierung. Und dann zur zweiten und dritten, den Berg wieder hinab, den Feuern folgend.
Er strauchelte, fing sich aber, bevor er zu Boden ging.
Noch ein paar Schritte.
Und dann sah er sie.
Hölzerne Hütten, um die Fackeln brannten und die weiterhin die Wege markierten. In Umhänge gehüllte Gestalten huschten zwischen den Bauten umher.
Niemand bemerkte ihn.
Ein erleichtertes Lächeln schmückte sein Gesicht bei diesem friedlichen Anblick, dieser in anscheinend völliger Isolation lebenden Gemeinschaft.
Wer sie wohl sind?
Als er den nächsten Schritt auf die erste Hütte zutat, zerriss ein Blitz das Dunkel und Donner die Ruhe. Der Platzregen folgte augenblicklich. Hastig zog er sich die Kapuze seines schwarzvioletten Umhangs - mit den bunten Flicken am unteren Saum - tiefer ins Gesicht. Mit großzügigen Schritten hielt er auf die erste Hütte zu, während der Regen sein Gewand immer weiter aufweichte. Seine schlanken Hände zu Fäusten geballt, schlug er gegen die hölzerne Pforte.
Die Tür wurde geöffnet, als hätte man auf ihn gewartet.
»Herr ... Oh ... Sie sind nicht ... « Ein grauhäutiger Elf mit spitzem Gesicht und verfilztem, braunem Haar stand vor ihm, verdaute seine Verwirrung und trat zur Seite. »Bitte, kommen Sie. Ihre Hände zittern, Sie sind sicher erschöpft.«
Alles was er von sich geben konnte, war ein Nicken. Seine Hände zitterten tatsächlich. Das turmalinfarbene Schwarz seiner Haut verschluckte das Licht der unzähligen Kerzen und des offenen Kamins, das von drinnen auf ihn fiel.
»Kommen Sie, draußen tobt der Wettergott.« Mit einer wedelnden Handbewegung animierte der junge Elf ihn, den Schritt ins Innere zu tun. Und er tat ihn und hörte, wie sein Gastgeber die Tür hinter ihm schloss.
Die Sicht verschwomm erneut.
Er erlaubte sich nicht, zu taumeln.
»Nehmen Sie ruhig die Kapuze herunter und legen Sie Ihren Umhang ab. Sie sind völlig durchnässt.« Der junge grauhäutige Elf wuselte um ihn herum, huschte zum Kamin, griff eine gusseiserne Kanne, befüllt einen Tonbecher mit kochendem, wohlriechendem Tee und knallte sie auf einen einfachen Holztisch.
Als er seine Hände an die Kapuze führte, wurde das Zittern heftiger, aber als der Junge ihm zu Hilfe eilen wollte, schüttelte er nur den Kopf. Es war eine knappe, eindeutig abweisende Kopfbewegung. Sein Gastgeber verstand und nickte verständnisvoll. Beim zweiten Anlauf gelang es ihm, das Stoffstück vom Kopf zu ziehen. Langes weißblondes Haar floss über seine Schultern. Vorsichtig, als wäre der Umhang etwas Zerbrechliches, legte er ihn ab und hängte ihn über eine Holzstange, auf die der junge Elf deutete.
»Er wird bald wieder trocken sein«, munterte der Grauhäutige ihn auf, »hier, trinken Sie. Soweit ich das beurteilen kann, haben Sie Fieber. Sie sollten sich diese Nacht hier ausruhen.« Wieder schenkte der Junge ihm ein herzliches Lächeln. »Ich werde dem Herrn Bescheid geben. Warten Sie hier und wärmen Sie sich auf.« Mit diesen Worten verschwand der Elf aus der Stube.
Auf wackeligen Beinen tat er den Schritt zu einer der Holzbänke, die an dem Tisch standen und ließ sich auf diese sinken. Der Ton hatte die Wärme des Tees angenommen, strahlte etwas Heimeliges, Heilendes ab. Er umfasste die Tasse mit beiden Händen und hob sie an seine Lippen. Angenehmer krautiger Geruch flutete seine Nase und dann ließ er die heiße Flüssigkeit seinen Mundraum ausfüllen und seine Kehle hinunter fließen.
Seine Augen fielen zu.
Er spürte, wie sein Körper kurz zusammensackte, er aufschrak und gleichzeitig die Augen aufriss, weil er beinahe eingeschlafen wäre und die Tasse fallen hätte lassen.
Erschöpft sah er sich im Raum um.
An den Wänden hingen Felle und Teppiche. Es stand ein zweiter Tisch neben dem seinen. Eine Tür neben dem Kamin führte wahrscheinlich ins Hinterzimmer. Von der Decke baumelten Talismane. Gezeichnete, geformte, geschliffene.
Seine Augen fielen wieder zu.
Er riss sie erneut auf.
Seit wann ist der Junge verschwunden?
Schläfrig und erschöpft blinzelte er, versuchte so, noch etwas wach zu bleiben.
Stimmen drangen von draußen an seine spitzen Ohren. Zuerst glaubte er, in eine weitere Fieberillusion abzudriften, denn er glaubte, seine Stimme zu hören. Aber als die Stimmmelodie anhielt, verstand er, dass er nicht halluzinierte. Und plötzlich, entgegen seines eigentlichen Vorhabens hielt er es nicht mehr aus.
Ich kann nicht bleiben. Nicht, wenn Er hier ist.
Ich schaffe es nicht!
Aufgewühlt und noch schwächer als vor wenigen Minuten, stemmte er sich an der schweren Holztischplatte in die Höhe. Stieg über die Bank hinweg und hielt auf den Ausgang zu.
Zitternd riss er die Tür auf.
Sofort schlug ihm Wind ins Gesicht, und Regen. Erst als er vor den beiden Gestalten stand, die gerade eintreten wollten, bemerkte er, dass er seinen Umhang vergessen hatte.
»Seht Herr, das ist unser neuer Gast«, berichtete der junge Elf freudig und fügte dann besorgt an ihn gewandt hinzu, »Sie sollten nach drinnen gehen. Sie sind furchtbar schwach.«
Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte sich nicht bewegen können. Neben dem Jungen stand eine weitere Person.
Vor ihm stand Naelin.
Wie versteinert starrte er sein Gegenüber an, das etwas kleiner war als er selbst. Naelin trug sein schwarzes Haar auf der linken Kopfseite zurückgeflochten, wodurch man einen Halbmondohrring sehen konnte. Einen Halbmondohrring aus Onyx.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, hörte er die Stimme des grauhäutigen Sumpfelfenjungen.
»Onyx«, gab er automatisch von sich, ohne seinen Blick von Naelin abzuwenden.
Sag meinen Namen, wie du ihn damals sagtest.
»Nun gut, Onyx. Es regnet in Strömen, Sie sollten sich aufwärmen«, sprach Naelin mit weicher Stimme, die in Onyx Ohren nachhallte und einen Stich in seinem Herz hinterließ.
Kein Erkennen in Naelins Augen. Weder Hass noch Freude.
Für ihn war er, Onyx, nur ein Fremder, der auf der Suche nach einer Bleibe für die Nacht war.
»Es regnet wirklich stark.« Dabei streckte Naelin ihm die Hand hin, die einen Regenschirm hielt, und den er erst jetzt bemerkte.
Laut prallten die Tropfen auf dem gewachsten Stoff ab.
»Ich bleibe nicht«, hörte Onyx sich selbst sagen und machte einen Schritt an Naelin vorbei. Er spürte nicht mehr, wie er auftrat, denn plötzlich drehte sich alles um ihn herum und riss ihn in wattige Dunkelheit.