5. Ein Kind im Palast

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Herr.« Maira, die Kinderfrau des kleinen Großkönigs, drehte Yando den Rücken zu. Beherzt griff sie hinter die samtbezogene Liege im Salon des Kaisers und zerrte den Jungen aus seinem Versteck hervor. »Aber wem sage ich das? Ihr versteht mich ja doch nicht.«

»Du musst dich nicht entschuldigen«, sagte Yando auf Wajunisch. »Und rede mich nicht mit Herr an, das steht mir nicht zu.«

Maira war eine Wajunerin. Sie hatte Teniras Sohn Sadi, der als Unterpfand des Friedens in Kanchar aufwachsen sollte, nach Wabinar begleitet. Sie war erst fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, mit buschigen braunen Haaren und einer zu spitzen Nase, doch nun funkelten ihre Augen. Es machte sie nicht attraktiv, doch es verdeutlichte jedem, dass mit ihr zu rechnen war. In den zwei Wochen, die seit Sadis Ankunft in Wabinar vergangen waren, hatte er noch nicht mit ihr gesprochen. Kein Wunder, dass sie ihn für einen kancharischen Adligen hielt. »Ach, nein? Wer bist du dann, ein Wajuner in Kanchar – ein Verräter? Was soll ich von einem Mann halten, der in den allerschönsten Gewändern hier oben im Palast wohnt?«

»Ich bin … der Ratgeber des Kaisers.« Yando hatte sagen wollen: sein Sklave, doch manchmal kamen diese Worte nicht über seine Lippen, und heute war ein solcher Tag.

Er war Liros Ratgeber, trotzdem war er kein Verräter, denn Tag und Nacht dachte er über sein Dilemma nach: dass es seine Pflicht war, dieses quirlige Kind zu töten, das Maira am Handgelenk gepackt hielt, damit es nicht weglief.

»So«, sagte sie energisch. »Sehr schön. Dann ziehe ich meine Entschuldigung zurück. Ich muss mich nicht dafür entschuldigen, dass Sadi den Palast erkundet, in dem er gar nicht wohnen müsste, wenn alte Männer mit dem Herzen denken würden statt mit den Augen. Es gibt hier nicht mal Türen, nur verdammte Vorhänge vor den Eingängen!«

Yando starrte sie an; er konnte nicht umhin, verwirrt zu sein. »Mit den Augen denken?«

»Sie wollen immer mehr! Einen größeren Palast, ein größeres Reich, mehr Soldaten, mehr Waffen, mehr von allem! Und wer muss es ausbaden? Aber mit wem rede ich denn? Komm, Sadi.«

Yando sah den beiden nach, immer noch ein wenig verstört. Maira würde dieses Kind mit Zähnen und Fingernägeln verteidigen. Aber sie wusste nicht, was er wusste – dass die Seele des Erben von Le-Wajun längst zu den Göttern gegangen war. Die Seele, die in diesem Jungen wohnte, hatte einem kancharischen Prinzen gehört, Wenorio, dem drittältesten Sohn von Kaiser Ariv. Ein kancharischer Magier hatte Wenorios Seele in den toten Körper des großköniglichen Prinzen gebannt. Und es durfte nicht passieren, dass der Feind auf diese Weise in den Besitz des Throns der Sonne geriet. Yando kannte seine Pflicht, aber er war sich nicht sicher, ob er sie erfüllen konnte. Denn wer immer Sadi war, zuallererst war er ein Kind, und er erfüllte das stille Stockwerk mit Leben.

Der kleine Junge redete ununterbrochen. Er jagte sein Huhn durch die Gänge. Oder er war unauffindbar.

Yando hätte nie gedacht, dass es so anstrengend sein könnte, ein Kind im Palast zu beherbergen. Den Nachwuchs des alten Kaisers hatte er kaum je zu Gesicht bekommen, da er selten von Liros Seite gewichen war, und nun waren alle jüngeren Halbgeschwister des neuen Kaisers fort. Die Ehefrauen des Altkaisers, die sich auf die beschwerliche Reise durch die Berge nach Gojad gemacht hatten, um bei ihrem Gemahl zu sein, hatten ihre Kinder mitgenommen. Nur Liro, der neue Kaiser von Kanchar, war noch hier – und sein älterer Bruder Matino.

Yandos Gedanken versuchten, einen Bogen um Matino zu schlagen, aber er musste ihn berücksichtigen, wenn es darum ging, Wenorios Seele dorthin zu schicken, wo sie hingehörte – zu den Göttern. Matino würde seinen Bruder verteidigen und ihn, wenn er darin versagte, rächen. Yando war sich darüber im Klaren, dass er sein eigenes Leben opferte, wenn er Sadi … nein, Mord war ein zu großes, zu schreckliches Wort für etwas, das längst geschehen war. Der Sohn der Großkönigin war bei der Geburt gestorben, daher konnte man ihn genau genommen nicht noch einmal töten. Yando war kein Mörder und erst recht niemand, der einem Kind etwas zuleide tun konnte.

Unruhig machte er sich auf die Suche nach Liro, der von dem Essen mit mehreren Adligen, die im Palast wohnten, längst zurück sein sollte. Es war jedes Mal seltsam für Yando, wenn sich der Junge ohne ihn bewähren musste – als würde er seinen eigenen Sohn in die Welt hinausgehen sehen.

Liro, der ihn immer noch brauchte.

So wie Le-Wajun. Das Reich der Sonne, dem er als gunaischer Graf verpflichtet war, war seine zweite Aufgabe und nicht weniger wichtig.

Oh ihr Götter, was sollte er nur tun? Warum musste er sein eigener Ratgeber sein?

»Yando!« Der junge Kaiser stürmte ihm entgegen. »Yando, komm schnell!«

»Was ist passiert?« Alarmiert sah Yando zur Tür des Empfangssaals, ob vielleicht ein beleidigter Adliger gerade davoneilte, doch er hörte nur gut gelauntes Geplauder. Die anderen aßen noch. »Ihr geht schon?«

»Komm mit.« Liro zog ihn am Arm mit sich. »Ich habe gerade die Nachricht erhalten, noch weiß es niemand sonst. Jemand hat unseren Eisenvogel gestohlen.«

Seit Karim die Feuerreiter in einen Aufstand geführt hatte, gab es niemanden mehr in Wabinar, der einen Eisenvogel fliegen konnte. Außer Prinz Matino.

»Ist Euer Bruder vielleicht unterwegs?«

»Du meinst, er ist einfach weggeflogen?« Der Gedanke war Liro offenbar noch gar nicht gekommen. »Aber dann hätten die Wachen mich nicht alarmiert, sie kennen ihn doch.«

»Ihr habt recht.« Wo war er nur mit seinen Gedanken? Yando schalt sich selbst für seine Zerstreutheit. Kurz entschlossen winkte er einen Diener herbei. »Sieh nach, ob Prinz Matino sich in seinen Räumlichkeiten aufhält.«

Der Mann wirkte nicht erfreut über den Auftrag, eilte jedoch sofort davon. »Und ich steige nach oben aufs Dach und befrage die Wachen, damit wir keine Zeit verlieren. Schließlich geht es um unseren einzigen Eisenvogel.«

»Ich komme mit.« Liro heftete sich an seine Fersen. »Ich wollte sowieso noch mit dir reden. Die Edelleute haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Nachfolge in Daja noch nicht geregelt ist. Es gibt einige Neffen des Königs, und dann ist da natürlich noch Prinz Karim.«

»Prinz Karim ist längst tot«, sagte Yando, denn niemand überlebte das Gift der Skorpione. Auch wegen Karim hatte er in den vergangenen Nächten kaum ein Auge zutun können. Karim war freundlich zu ihm gewesen, und er kannte Yandos wahre Herkunft – beides Dinge, die Yando mehr bedeuteten, als gut für ihn war. Karim war Freund und Feind zugleich gewesen und ein unlösbares Rätsel.

»Davon können wir ausgehen«, meinte Liro. Wann hatte sich der Junge diese beinahe schon königliche Haltung angewöhnt? In den wenigen Tagen seit der Abdankung des alten Kaisers schien er an Selbstbewusstsein und innerer Kraft gewonnen zu haben und förmlich über sich hinauszuwachsen. »Und er käme ohnehin nicht in Frage, da er sich als Verräter erwiesen hat. Wer auch immer den Thron bekommt, bedarf meiner Zustimmung. Normalerweise ist das selbstverständlich, aber heutzutage, wo alles drunter und drüber geht, kommt es mir sehr wichtig vor, wem ich meinen Segen gebe. Schon wegen meiner Frau.«

Ruma, Liros Frau, stammte aus Daja und würde, so wie Yando sie kannte, auf jeden Fall mitreden wollen.

»Hat die Kaiserin einen Vorschlag gemacht? Schließlich kennt sie ihre Vettern am besten. Ist der nächste Erbe geeignet?«

»Das ist es ja«, murmelte Liro und legte die Hand an das Treppengeländer, das aufs Dach hinaufführte. »Ich will sie nicht damit behelligen, solange sie noch um ihren Vater trauert. Es kommt mir herzlos vor, jetzt das Thema der Nachfolge anzuschneiden.«

Yando sah sich kurz um, bevor er dem jungen Kaiser die Treppe hinauf aufs Dach folgte, doch in dem überraschend schlichten, mit Webteppichen und Kissen ausgestatteten Raum deutete nichts auf Eindringlinge hin. Die Zugänge zu den Treppen wurden nicht bewacht, da das ganze Stockwerk dem Kaiser und seinem unmittelbaren Gefolge gehörte. Weitere Dächer standen für die Landung von Eisenvögeln zur Verfügung, sodass Feuerreiter oder Gäste die oberste Etage nicht durchqueren mussten.

Dass Matinos Eisenvogel ganz oben ruhte, war ungewöhnlich und verriet möglicherweise mehr über Matinos Selbstverständnis als alles andere. Als ehemaliger Kronprinz hielt er sich immer noch für etwas Besonderes, obwohl er nach dem Verlust seines Beins sein Ansehen und seine Stellung verloren hatte. Yandos Wunsch, durch nichts mehr an Matinos Existenz erinnert zu werden, hatte sich leider nicht erfüllt.

Die Wachen, die auf dem höchsten Dach Dienst taten, hielten nach Eisenvögeln, Stürmen und sonstigen ungewöhnlichen Dingen Ausschau. Sie waren nicht dazu abgestellt, die Metallkreaturen zu bewachen, daher taten ihm die beiden Frauen leid, die mit vor Angst starren Mienen vor den Kaiser traten. Die eine, eine hochgewachsene, dunkelhäutige Soldatin mit Schmucknarben auf den Wangen, senkte schuldbewusst den Kopf. Die andere, eine kleinere blasse Mittvierzigerin, vermutlich aus Gojad oder Talandria, fiel auf die Knie. Keine von ihnen würde sprechen, bevor Liro ihnen die Erlaubnis dazu erteilte.

Yando ließ den Blick über das Dach schweifen. Eine brusthohe Mauer bewahrte Besucher davor, in die Tiefe zu stürzen – oder auf das darunterliegende Dach, da die Stockwerke umso breiter wurden, je tiefer sie lagen. Der Palast hatte die Form eines Berggipfels, an dessen Spitze der Kaiser thronte. In einer Ecke des Dachs war zwischen blühenden Sträuchern und Palmen ein Baldachin aufgebaut, wo Kissen und Hocker für eine Rast bereitstanden. Auf einem niedrigen Tisch war für zwei Personen gedeckt. Eine weitere, kaum hüfthohe Mauer teilte das Dach in zwei Bereiche auf. Der eine war mit Pflanzen und Wasserbecken bestückt und diente der Erholung, obwohl es, wie Yando fand, zu kalt und zu windig war, um daran Freude zu finden. Der andere Teil war großflächig und offen. Hier konnte ein Dutzend Eisenvögel landen, doch im Moment war der Platz leer. Der letzte verbliebene Eisenvogel des Kaiserreichs Kanchar war fort.

Die Angst der beiden Wächterinnen war greifbar.

»Übernimm du das«, sagte Liro. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, wie es auch Kaiser Ariv häufig getan hatte, wenn er nachdachte, und schlenderte über das Dach.

»Euch wird nichts geschehen, wenn ihr eure Pflicht nicht sträflich vernachlässigt habt«, sagte Yando. »Also, was ist passiert?«

Die Gojaderin erhob sich wieder. »Wir haben den Himmel im Auge behalten, wie es unsere Pflicht ist.«

»Ihr habt nicht etwa Tee getrunken?« Er wies auf die Sitzecke. »Es ist kalt hier oben. Vielleicht wärmt ihr euch hin und wieder mit heißen Getränken auf.«

»Eine von uns ist immer wachsam, solange unsere Schicht dauert.«

»Ich habe Tee getrunken, Herr.« Die Dunkelhäutige starrte auf ihre Schuhe. »Und ich hatte das Dach dabei im Auge, ich schwöre es. Plötzlich erhob sich der Vogel in die Luft, und keine von uns hat gesehen, wer sich ihm genähert hat. Derjenige muss unsichtbar gewesen sein – ein Magier.«

Es gab zahlreiche Sprüche über Missgeschicke und Unfälle, die unsichtbaren Magiern zugeschrieben wurden, doch Yando verkniff sich jede abfällige Bemerkung. »Was ist mit dem Reiter? Konntest du ihn nicht sehen?«

»Nein, denn der Vogel ist mit ausgebreiteten Schwingen in die Luft gestiegen. Ich hatte nur seine Bauchseite im Blick.«

»Er ist senkrecht losgeflogen?« Matino nahm gerade die letzte Stufe und trat hinaus aufs Dach. Yandos Hoffnung, dass der älteste Prinz den Eisenvogel genommen hatte und damit verschwunden war, löste sich in Luft auf. »Oder hat er sich rücklings über die Dachkante geworfen?«

»Kalazar.« Die Soldatinnen sanken erneut in die Knie, eine Ehrerbietung, die sie nicht einmal dem Kaiser erwiesen hatten.

»Redet!«, verlangte Matino. Er beachtete weder Yando noch seinen Bruder, der seinen Rundgang über das Dach fortsetzte. »Wie ist er geflogen? Nur ein sehr guter Feuerreiter wirft sich rückwärts vom Dach.«

»Das ist nicht der Fall gewesen, Kalazar«, beeilte sich die Gojaderin zu versichern. »Er ist steil in die Höhe geschossen, ich befürchtete schon, er würde abstürzen. Das sah nicht nach einem herausragenden Feuerreiter aus.«

Der Prinz runzelte die Stirn. »Und du glaubst, du könntest das beurteilen?«

»Verzeiht, Kalazar.«

Sie duckte sich, als erwartete sie einen Schlag, doch in diesem Moment drehte Liro sich um und erblickte seinen Bruder. »Matino! Was machst du hier?«

»Ich hörte, mein Geier sei verschwunden.«

Yando stöhnte innerlich. Natürlich hatte der Diener all sein Wissen preisgeben müssen, das war zu erwarten gewesen.

»Es ist nicht dein Geier«, sagte Liro steif. »Er gehört der Krone. Also mir.«

»Natürlich, Edler Kaiser.« Das spöttische Lächeln auf Matinos Lippen verriet mehr als genug. »Und wie gedenkst du, deinen Vogel wiederzubekommen?«

»Es muss ein Feuerreiter im Palst gewesen sein, der die erste Gelegenheit ergriffen hat, den Gebirgsgeier zu entführen. Vermutlich ist er längst auf dem Weg über die Ebene, um sich mit seinen Mitverschwörern zu treffen.«

»Oder auch nicht«, sagte die dunkelhäutige Soldatin, die über das Dach hinweg in den Himmel starrte.

Dort näherte sich ein dunkler Fleck, der rasch größer wurde. Von Weitem hätte man ihn für einen gewöhnlichen Vogel halten können, doch bald schon sah man die gewaltigen Schwingen, die das Sonnenlicht nicht spiegelten, sondern zu verschlucken schienen. Den Reiter konnte Yando nicht erkennen, der Eisenvogel schien völlig selbstständig zu fliegen. Ob er zurückkam, um anzugreifen und sie mit Brandsteinen zu bewerfen, wie es in Daja geschehen war? Yando duckte sich unwillkürlich, als der riesige Vogel nicht auf der großen Fläche landete, die dafür vorgesehen war, sondern haarscharf an ihnen vorbeizog, wobei er mit seinen dolchartigen Krallen beinahe ihre Haare rasierte. Yando riss Liro zu Boden, während sich Matino fluchend hinwarf.

Der Eisenvogel flatterte, streifte eine Palme und kam wild mit den Flügeln schlagend und knirschend zwischen einem Wasserbecken und einem Blumenbeet zum Stehen. Auf seinem Rücken saß ein kleiner, schwarzhaariger Junge, der mit einem triumphierenden Schrei die Arme in die Höhe streckte.

Yando glaubte, sein Herz würde stehen bleiben. Dieses Kind – dieses wahnsinnige, viel zu alte, verwegene, verfluchte Kind!

»Oh ihr Götter«, murmelte Matino, als er sich wieder aufrappelte. Er schrie niemanden an, er schien vergessen zu haben, dass zwei Wächterinnen Zeuge seines wenig anmutigen Sturzes geworden waren. Verzückt starrte er auf den Jungen und humpelte auf ihn zu. Liro streckte den Arm aus, um ihn zurückzuhalten, doch Yando berührte den Kaiser sacht an der Schulter.

»Lasst ihn. Er kennt sich mit Eisenvögeln besser aus als wir. Ihr solltet nicht zu nahe herangehen.«

Die tödlichen Schwingen zuckten mehrere Male.

»Ich hole ihn da runter«, fügte er hinzu, obwohl ihm alles andere als wohl dabei war. Doch der kancharische Prinz, dessen Seele in diesem kleinen Körper steckte, durfte auf keinen Fall zurück nach Le-Wajun fliegen. Wenn Yando jemals Zweifel an der Identität des Kindes gehabt hatte, dann waren sie nun verflogen. Sadi, der Sohn von Tenira und Tizarun, kannte keine Eisenvögel. Er hatte erstmals auf dem Flug von Daja nach Wabinar auf einem gesessen, während Wenorio, der Sohn des Kaisers, umgeben von Magie und Eisenwesen aufgewachsen war. Wahrscheinlich hatte er wie sein Bruder Matino einen überaus starken göttlichen Funken, der ihn zu einem geborenen Feuerreiter machte. Anders war die Übertragung der Seele in einen anderen Leib auch nicht zu erklären.

»Du kannst fliegen«, sagte Matino in einem Tonfall aufrichtiger Bewunderung. »Du bist … wie alt, fünf? Und du kannst fliegen.«

Sadi schien ihn nicht zu verstehen. »Ich will nach Hause«, sagte er auf Wajunisch, in seiner klaren Kinderstimme, die keinerlei Zweifel daran ließ, dass er es gewohnt war, Erwachsene herumzukommandieren. »Ich will nach Hause fliegen.«

Mit einer herrischen Handbewegung schickte Matino die Wächter fort. »Wenorio«, sagte er leise, sobald die kaiserlichen Brüder unter sich waren. »Ich bin es. Dein Bruder. Hörst du mich?«

Yando fühlte sich wie der ungebetene Gast auf einer privaten Familienfeier. Er hatte hier nichts zu suchen bei den Kaisersöhnen, die sich liebten – auch wenn Sadi sich im Moment nicht daran zu erinnern schien. Mit gerunzelter Stirn musterte er den Prinzen, dann wanderte sein Blick zu Yando, und er lächelte. »Ich werde jetzt nach Hause fliegen«, verkündete er. »Ich kann das.«

»Gewiss könnt Ihr das, Kalazar«, sagte Yando mit so viel Freundlichkeit, wie er nur aufbrachte. »Das habt Ihr bewiesen. Doch jetzt steigt von dem Vogel herunter, Euer Bruder macht sich Sorgen um Euch.«

»Er ist nicht mein Bruder«, meinte der Kleine verächtlich. »Ich kann ihn nicht leiden, und der Vogel kann ihn auch nicht leiden. Er ist wütend auf mich, aber ihn hasst er noch viel mehr.«

»Was sagt er?«, verlangte Matino zu wissen.

Yando hatte nicht vor, seinem Feind auch nur ein einziges Wort davon zu übersetzen. »Dass er nach Hause wollte, Kalazar.«

»Natürlich«, sagte der Prinz leise.

»Ich bin zurückgeflogen, weil ich etwas vergessen habe«, erklärte Sadi. »Maira soll mitkommen.«

»Und vielleicht auch Euer Huhn?«, schlug Yando vor, der gegen seinen Willen lächeln musste. Dieses Kind war bezaubernd. Nicht nur, weil es hübsch war mit den dunklen Augen und dem schwarzen Haar, an dem der Wind zauste, sondern weil es mutig wie ein Krieger auf der gefährlichen Kreatur saß, weil es sagte, was es dachte, und weil es Matino mit der unbekümmerten Arroganz eines wahren Prinzen ignorierte.

»Wie wäre es, wenn Ihr jetzt von Eurem Reittier heruntersteigt und wir dann Maira suchen gehen? Ist das ein guter Vorschlag, Kalazar?«

»Ja«, sagte der Junge, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte. »Mir ist kalt. Man braucht einen Helm und einen Mantel.«

»Gewiss braucht man das. Vor Eurem nächsten Flug werde ich mich darum kümmern.«

Sadi klopfte dem Vogel auf den gebogenen Hals, und die Beinschienen lösten sich. Er kletterte auf den Flügel und rutschte die letzten beiden Meter nach unten, wo ihn Yando auffing. Er fühlte sich wie ein Verräter, als die eiskalten Händchen sich um seinen Hals legten und eine nicht minder kalte Nasenspitze seine Wange berührte.

»Bring ihn rein«, befahl Matino heiser. Seine Augen leuchteten vor Freude und Schmerz, er zitterte vor Aufregung. Ruckartig drehte er sich um und fixierte Liro, der in sicherer Entfernung wartete.

»Ich will dieses Kind erziehen«, sagte er. »Ich werde ihn zu dem besten Feuerreiter machen, den Kanchar je hatte.«

»Ich denke nicht, dass Großkönigin Tenira damit einverstanden wäre«, meinte Liro zögernd. »Es ist sehr gefährlich, und Prinz Sadi ist eine wertvolle Geisel.«

»Wir werden Tenira nicht fragen. Hast du das nicht gesehen? Ein Kind, das erst ein Mal auf einem Eisenvogel gesessen hat und sofort begriffen hat, wie man ihn beherrschen kann? Noch dazu einen Gebirgsgeier! Wenn es nur ein Wüstenfalke gewesen wäre, hätte ich schon gestaunt, aber ein Geier ist viel schwieriger zu handhaben. Sadi ist der geborene Feuerreiter, und wir haben nicht mehr viele von ihnen, lieber Bruder.«

Yando hörte ihrem Streit nicht weiter zu. Er trug Sadi, der sich erschöpft an ihn schmiegte, zur Treppe und brachte ihn in seine eigenen weiträumigen Gemächer. Maira schlief.

Yando dachte darüber nach, dass es keine Türen gab. Dass er vielleicht doch mit dem Leben davonkommen konnte, wenn dem Kleinen etwas zustieß. Und zugleich schämte er sich für diese Gedanken. Er brachte Sadi ins Bett, deckte ihn zu und wünschte sich, jemand anders würde vor dieser Entscheidung stehen und nicht ausgerechnet er.

Beim Abendessen goss Yando kalten Limonentee auf Liros Finger, während er einschenkte. Ein anderer Herr hätte ihn dafür auspeitschen lassen, doch Liro lachte nur. »Du bist ja heute genauso ungeschickt wie ich sonst!«

»Verzeiht, Herr«, murmelte Yando. Er vermied Rumas Blick, denn Ruma, so schien es ihm, hätte in seinen Augen erkannt, was in ihm vorging. Die zärtliche Verbindung zwischen ihm und der jungen Kaiserin, der Gemahlin seines Herrn, hatte Schaden genommen, seit Ruma sich schuldig am Tod ihres Bruders Karim fühlte. Sie schenkte ihm kein heimliches Lächeln mehr, und häufig blickte sie gedankenverloren in die Ferne. Und dennoch war es manchmal, als würden sie dieselben Gefühle fühlen und dieselben Gedanken denken. Doch das konnte natürlich nicht sein, sonst hätte sie ihn längst zur Rede gestellt, denn sie hätte gewusst, wie er bei jedem Atemzug über das Kind nachdachte, wie es jeden Herzschlag erfüllte. Die Last der Aufgabe machte ihn blind für seine Umgebung, blind und taub für alles. Was ihn dabei vor allem beherrschte war dieser neue Gedanke: Es war möglich zu überleben. Doch wollte er das überhaupt? Könnte er es ertragen weiterzuleben, nachdem er ein Kind getötet hatte?

Flüchtig streifte sein Blick Rumas Hände, die sich klein und schlank um einen Becher wölbten. Sie hatte so schöne, zarte Hände, und er sehnte sich danach, dass sie ihn damit berührte, dass sie über seine Stirn strich und die bösen Gedanken einfach fortwischte. Nein, er durfte nicht träumen. Er musste endlich handeln, denn heute hatte sich gezeigt, wer Sadi wirklich war. Wenn Matino ihn zu einem Feuerreiter ausbildete, ihn zu seinem Schüler machte – was für ein Mensch würde der kleine Prinz werden?

»Wir müssen über Daja sprechen«, sagte Liro zu Ruma. »Könnt Ihr schon darüber sprechen, oder ist es zu früh? Hätte Daja noch Feuerreiter, würde ich Euren ältesten Vetter nach Wabinar bitten, doch so wie die Lage zurzeit ist, könnte ich höchstens Matino dazu auffordern, ihn herzubringen. Der König von Daja ist wichtig. Wenn wir Kinder hätten … zwei, ich meine zwei Söhne«, er wurde glühend rot und stockte, »dann könnte der jüngere Prinz Dajas Krone erben. Doch jemand muss jetzt schon auf dem Thron sitzen.«

»Ja«, sagte Ruma leise. »Das verstehe ich. Könnte ich nicht … Ich könnte Daja regieren.«

Liro stieß ein angestrengtes Lachen aus. »Ihr wollt Wabinar verlassen? Aber wie … dann wird es schwierig …«

»… mit einem Erben«, ergänzte sie. »Ja, auch das ist mir bewusst. Und Ihr habt recht. Aber es müsste ja nicht für lange sein, nur so lange, bis Ihr jemanden ernannt habt. Damit die Stadt in der Zwischenzeit nicht verlassen ist und niemand die Macht an sich reißt, den Ihr nicht billigt.«

Nun hätte Yando etwas Weises sagen müssen, um Ruma zu unterstützen, doch ihm fiel absolut nichts ein.

Er konnte immer noch spüren, wie Sadis Arme sich um seinen Hals geschlungen hatten, als er ihn vom Eisenvogel heruntergehoben hatte, wie das kleine Herz an seiner Brust hämmerte. Er hatte das Vertrauen fühlen können, das ihm der kleine Junge ohne jeden Anlass geschenkt hatte. Vertrauen und Zuneigung. Unverdient. Eine Gabe. So wertvoll, als käme sie von den Göttern selbst. Hießen sie gut, was er vorhatte? Konnten sie ihm nicht ein Zeichen senden? Andererseits: Was war dieser erste eigenständige, eigentlich völlig unmögliche Flug des Jungen auf dem Eisenvogel sonst gewesen? Nun wusste Yando gewiss, dass der Kleine die Seele eines Kancharers in sich trug. Wie viele Beweise brauchte er denn noch, bis er sich durchringen konnte zu handeln?

Das Gespräch des Kaiserpaares stockte. Sie waren nicht darin geübt, sich miteinander zu unterhalten, und es wäre an Yando gewesen, Vorschläge für die Regentschaft der Stadt Daja zu unterbreiten. Er war es so leid, für alles verantwortlich zu sein. Als Liro ihn endlich entließ, eilte er erleichtert davon.

Als kaiserlicher Ratgeber hatte er einen eigenen Raum, auch wenn es keine Türen gab, nur einen Vorhang. Einen Raum, in dem er seine Zweifel und seine Angst laut verkünden wollte, doch niemand war da, der ihn gehört hätte. Nie war Yando so einsam gewesen. So ratlos. Seine verzweifelte Liebe zu Ruma machte ihn noch einsamer; keinen seiner Gedanken über Sadi und Wenorio würde er je mit ihr teilen können. Sie hatte Position bezogen, als es um die Schlacht von Daja ging, Position gegen ihn. Statt auf Yandos Rat zu hören und ihrem Bruder Karim freie Hand zu lassen, hatte sie seiner Verurteilung zugestimmt. Und nun war Karim tot, und nichts war mehr wie zuvor.

Später in dieser Nacht, als die Stunden sich grau färbten, als Kälte vom Himmel herabfiel und die Mauern tränkte, hob er den Vorhang an und horchte in die Stille. Kein Laut aus Liros Schlafzimmer. Ob Ruma noch dort war oder in ihre eigenen Gemächer zurückgekehrt war, wusste er nicht.

Kurz befürchtete er, ihr zu begegnen, als er in den kaiserlichen Salon hinaustrat, von dem sein Zimmer abging. Und gleichzeitig hoffte er es, denn es würde die schreckliche Entscheidung noch für eine Nacht aufschieben. Ruma konnte ihn retten. Sie würde ihn umarmen und ihm erlauben, sich in ihren Küssen zu verlieren, und für einen Moment würde alles andere aufhören zu existieren – seine Pflicht und seine Angst und die Schuld und Le-Wajuns Thron.

Vom Salon aus gelangte er in den langen Korridor, an dem die Zimmer der Dienstboten und der wichtigsten kaiserlichen Amtsinhaber lagen. Nicht alle schliefen. Hinter manchen Vorhängen hörte er Wispern und leises Lachen. Magier und Diener, Sklaven und Schneider und Protokollanten und Köche und Schreiber – sie alle wohnten hier und füllten das Stockwerk mit Leben. Der Kaiser war niemals allein, und doch lag eine feierliche Stille über den Zimmerfluchten, die dem höchsten Paar des Reiches gehörten. Daneben befanden sich die Räume der Geisel, des jungen Großkönigs, der verfluchten Seele. Sadi schlief in einem Bett, das so groß war, dass er noch winziger darin wirkte. Eine blass schimmernde Kugel beleuchtete den Raum.

Yando musste nur das Fenster öffnen. Das Scharnier knarrte leise, als er die beiden Flügel weit aufriss. Jetzt musste er nur noch das Kind holen. Jeder würde annehmen, dass der Kleine hinausgefallen sei. Wie schnell konnte das passieren bei einem so wilden, furchtlosen Jungen.

»Was willst du hier?«

Yando fuhr herum, und da stand sie, Maira, in seidener Schlafhose und einer gewickelten Tunika, die Haare zu dicken Zöpfen geflochten. Sie hatte geflüstert, um den Kleinen nicht zu wecken, doch ihre Augen blitzten bedrohlich, und das magische Licht flackerte unter der Kraft ihres Willens.

Yando fühlte sich ertappt, er wollte sich verteidigen und alles abstreiten. Seltsamerweise war er zugleich erleichtert und verärgert. »Nichts«, sagte er knapp. »Ich wollte nur nach dem Rechten sehen.«

Sie kam näher, vorsichtig, als könnte er jederzeit angreifen und sie niederschlagen. »Warum steht das Fenster offen?«

»Ich weiß nicht.« Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein guter Grund ein: »Es war so stickig hier drinnen.«

Maira starrte ihn an. Er konnte diesem Blick nicht ausweichen, ihren anklagenden, herausfordernden, forschenden Augen. »Du bist hier, um Sadi zu töten. Im Auftrag des Kaisers?«

Er schwieg. Das Beste wäre es, wenn er einfach ginge, doch Maira stellte sich ihm in den Weg, sie ließ ihn nicht vorbei. »Was ist? Willst du mich nicht auch umbringen? Beseitige uns beide, dann gibt es keine Zeugen.«

Vielleicht hätte er es wirklich tun können – heimlich im Dunkeln. Doch gewiss nicht vor ihren Augen. »Lass mich gehen«, presste er heraus und versuchte, sie beiseitezuschieben, doch Maira wehrte sich, hielt ihn fest. Sie rangelten, eine Karaffe fiel von einem Tischchen, der Lärm zerbrach ohrenbetäubend die Stille. Gleichzeitig hielten sie beide inne, horchten. Sadi murmelte etwas im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite.

»Jetzt lass doch einfach!«, zischte Yando.

»Damit du morgen wiederkommst? Oder übermorgen? Oder irgendwann, wenn ich nicht mehr damit rechne? Oh nein, Freundchen. Wenn du Sadi töten willst, dann musst du auch mich beseitigen. Tu es jetzt.«

»Ich will dir nichts tun!«

»Ach nein? Weil ich nichts bin? Weil ich keine Bedeutung habe? Wie recht du hast. Ich bin nur eine Kinderfrau. Sadi hingegen ist alles, und, bei den Göttern, er bedeutet mir auch alles! Ich lasse dich nicht gehen, bevor du mir nicht sagst, warum er sterben soll und wer hinter dem Auftrag steckt.«

Ihre Entschlossenheit rührte ihn. Sie war nur ein junges Mädchen, nicht mal eine Frau, aber sie war klug. Sie hätte den ganzen Palast zusammenschreien können, aber das tat sie nicht, denn sie wusste, dass es nichts nützen würde. Wären die Wachen herbeigerannt, hätte Yando abgestritten, dass er vorhatte, der Geisel zu schaden, und nichts wäre passiert. Er hätte sich damit herausreden können, dass er dem Kindermädchen nachstellte. Auch wenn er nur ein Sklave war und sie frei, war er doch der Ratgeber des Kaisers und sie bloß eine Ausländerin, die niemanden zu ihrer Verteidigung hatte. Für jeden Mann auf diesem Stockwerk war sie Freiwild, und kein Kancharer würde ihr helfen. Er war der einzige Wajuner hier, der einzige Mensch weit und breit, von dem sie Unterstützung erhoffen konnte.

»Du missverstehst meine Absicht. Lass mich durch.«

»Nein. Du bleibst.« Mit verschränkten Armen stellte sie sich vor den Vorhang. »Rede.«

Sein Verrat musste sie endlos enttäuschen. Sadi war in diesem Palast nicht sicher, unzählige Dinge konnten ihm hier passieren. Dass Matino sich zu seinem Lehrer aufschwang, war nur eines davon. Man würde ihn zu einem Kancharer erziehen, und wenn er nach Le-Wajun zurückkehrte, würde er das Reich der Sonne als Fremder, ja, als Feind betreten. Maira konnte ihn nicht beschützen, niemand konnte das. Denn der wahre Sadi war längst tot.

Sie war Yando körperlich nicht gewachsen, konnte ihn nicht zwingen zu bleiben. Er hätte sie fortstoßen können, selbst wenn er ihr dabei vielleicht wehtäte, aber er stand da wie angewurzelt, und die ganze Last seiner Einsamkeit drückte ihn nieder. Hatte er nicht vor Kurzem noch gehofft, Ruma würde ihn vor sich selbst retten? Nun war es Maira, die sich ihm in den Weg stellte. Und vielleicht war auch das ein Zeichen.

»Na gut«, sagte er leise. »Reden wir. Aber nicht hier, wo der Kleine uns hört.«

»Dann komm mit.« Sie ging voraus, auf leisen Sohlen, ihre Bewegungen so unhörbar wie die eines Assassinen. Kindermädchen, vor allem übermüdete Kindermädchen, waren stets darauf bedacht, ihre Schützlinge nicht zu wecken. So war es ihm häufig genug mit Liro gegangen, als dieser noch jünger gewesen war.

Ergeben folgte Yando ihr in den Nebenraum. Eine Leuchtkugel flammte auf und beschien ein kleines, kaum handtellergroßes Porträt. Tenira und Tizarun lächelten darauf.

»Das kannst du nicht hier hinstellen.« Er nahm das Bild von der Kommode und reichte es ihr. »Leg es weg. Versteck es. Oder vernichte es lieber. Du weißt, wie abergläubisch die Kancharer sind. Sie denken, es bringt Unglück.«

Maira seufzte. »Es ist das einzige Bild von seinen Eltern.«

Yando blickte sich in dem Zimmer um und setzte sich schließlich aufs Bett, da es keine Sitzkissen gab. Wajuner schätzten es nicht, auf dem Teppich zu hocken. »Nein, das sind sie nicht. Seine Eltern, meine ich.«

»Was soll das jetzt wieder bedeuten?«

Das Geheimnis war entsetzlich und gefährlich, nichts davon hätte je ausgesprochen werden sollen. Dennoch hörte er sich sagen: »Die Kancharer haben Sadi getötet, oder vielleicht kam er auch tot zur Welt. Dann haben sie einen anderen Jungen, einen kancharischen Jungen, ermordet und seine Seele in Teniras totes Kind gepflanzt.«

Mairas Augen weiteten sich. »Du bist ja wahnsinnig.«

»Ich wünschte, es wäre so.«

»Ich habe ja mit allem gerechnet, aber nicht mit einer dermaßen absurden Erklärung! Kannst du nicht einfach zugeben, dass du ein gekaufter Verräter bist, der die Hoffnung seines Volks ermorden will?«

»Was weißt du über kancharische Magie?«, fragte er zurück.

»Nichts. Nur dass sie dunkel und böse und falsch ist.«

Er wartete ab, doch sie tat das Gleiche, sie wartete.

»Ist dir je etwas an Sadi aufgefallen? Etwas Ungewöhnliches?«

»Nein«, sagte sie sofort. »Was du da behauptest ist absurd.«

»Er konnte den Eisenvogel fliegen. Gestern. Alleine.«

»Das hat er mir erzählt«, sagte sie leise.

»Er kann Kancharisch. Ich weiß nicht, wie weit diese Fähigkeit geht, und ich würde nicht behaupten, dass er die Sprache beherrscht. Gestern schien er Prinz Matino nicht zu verstehen. Aber ich habe erlebt, wie er kancharische Wörter benutzt hat und dabei einen dajanischen Akzent hatte.«

Dajanisch, dachte er plötzlich. Das ist falsch. Wenorio war nie in Daja.

»Nun ja«, sagte Maira zögerlich, »es gibt da ein paar Dinge … Ich habe mir nie etwas dabei gedacht.«

»Was für Dinge?«

»Die Tiere. Manchmal ist es, als könnte er wirklich mit ihnen sprechen, als könnte er sie verstehen. Und er weiß immer, ob jemand schläft oder tot ist. Einmal ist einer der Wächter im Schlaf gestorben, und Sadi wusste es, während ich und die anderen noch dachten, dass der Mann ohnmächtig sei. Ich dachte, dass die Götter ihn besonders gesegnet hätten, mit seltsamen Gaben, da er die Sonne von Wajun ist.«

Yando ließ sie eine Weile darüber nachdenken. Dann sagte er: »Nun weißt du, warum es geschehen muss. Nicht der Kaiser steht dahinter, nur ich. Der Kaiser will gerade dieses Kind auf dem Thron sehen.«

Auch darüber dachte sie nach. »Ich kann dennoch nicht zulassen, dass du Sadi etwas antust«, sagte sie schließlich, »und ich kann es sogar verhindern. Würde ich zum Kaiser gehen und ihn vor dir warnen, würde er mich als Erstes hinrichten lassen, weil ich die Wahrheit kenne. Er würde jeden hinrichten lassen, der das Geheimnis kennt, auch dich. Also würde ich mit diesem Opfer Sadis Leben retten.«

Es sei denn, er verhinderte, dass sie dieses Zimmer jemals lebend verließ.

»Oder du tust, als wärst du auf meiner Seite, damit ich dich gehen lasse, und läufst bei nächster Gelegenheit zum Kaiser. Oder du lässt ihm eine anonyme Nachricht zukommen.« Yando vergrub die Hände in seinen Haaren. Worüber sie hier redeten, über nicht weniger als Hochverrat! Und über den Tod, als wäre er ein alter Bekannter, der mit ihm hier auf der Bettkante saß, während Maira an der Kommode lehnte, immer noch das Bild in den Händen. Zu dritt, während hinter der Wand das Kind schlief. Dieses Kind, das den Tod ebenfalls kannte.

Maira drehte das kleine Porträt zwischen ihren Fingern wie ein Rad. Tenira und Tizarun. Er erwartete, dass sie weinte, dass eine dramatische Träne über ihre Wange rollte, doch ihre Augen blieben trocken. Ein harter Zug zeigte sich um ihren Mund, als sie die Lippen zusammenpresste.

»Wie heißt du noch mal?«, fragte sie.

»Yando«, sagte er, denn Kir’yan-doh von Guna hätte nie ein solches Verbrechen begangen oder auch nur in Erwägung gezogen.

»Also, Yando, erzähl mir etwas über die fremde Seele. Wer ist er, dieser Kancharer?«

»Ein Prinz«, sagte er. »Wenorio, ein Sohn des Kaisers.«

»Ein Kind? Er war auch ein Kind?«

»Ja, das war er. Älter als Sadi, aber ein Kind.«

Sie überlegte. »Nun, Yando, ich sage dir jetzt etwas, das ich keinem anderen Menschen in diesem verfluchten Palast in dieser gottlosen Stadt sagen würde: Es ist mir egal, ob er ein Kancharer ist oder ein Wajuner. Sadi ist ein gutes Kind, aufgeweckt und mutig und freundlich, aber auch sehr verzogen, weil seine Mutter ihm jeden noch so kleinen Wunsch erfüllt hat. Er braucht eine gute Erziehung, dann wird er die beste Sonne sein, die Le-Wajun je gehabt hat. Ich kenne ihn. Wenn das Wenorio ist, wäre ein guter Prinz aus ihm geworden, und er verdient es, dass er ein neues Leben geschenkt bekommen hat. Sorge dafür, dass der Kaiser ihm einen guten Lehrer gibt – oder übernimm die Erziehung selbst. Bring ihm bei, wofür Kanchar steht und was es bedeutet, die Sonne von Le-Wajun zu sein und wie die Wege der Götter sind. Lehre ihn, sein Temperament zu beherrschen und wenigstens ab und zu, wenn es notwendig ist, zu gehorchen. Wir, du und ich, haben es in der Hand, was für ein Mensch aus ihm wird.«

Hatten sie das? Konnte aus einem kancharischen Prinzen ein wajunischer Großkönig werden, den die Götter segneten? Yando bezweifelte es, aber dann dachte er an Liro. Liro, der zu ihm aufschaute, der auf ihn hörte, aus dem langsam, aber sicher ein Mann wurde. Liro, der ein guter Kaiser sein würde.

Doch was, wenn Sadi einem anderen Vorbild nacheiferte – seinem Bruder Matino? Wenn es dem ältesten Prinzen gelang, die Erziehung der Geisel an sich zu reißen, und er den Jungen quälte, bis dessen Seele zerbrach? Doch nein, Matino liebte Wenorio. Er würde ihm nichts zuleide tun, er würde ihn verwöhnen, bis Sadi zu ihm aufschaute und werden wollte wie er.

Eine schreckliche Vorstellung.

»Es ist riskant«, sagte er. »Wir können nicht wissen, was aus ihm wird.«

»Ja, ganz recht«, sagte Maira und sah ihn an, sie schien bis auf den Grund seiner Seele zu blicken. »Wir können es nicht wissen.«

»Und wenn …«

»Dann können wir immer noch handeln.«

»Dazu wärst du bereit? Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

»Die Sonne muss strahlen«, sagte sie. »Jeder weiß das, jeder Mann und jede Frau in ganz Le-Wajun.«

Es war kein Versprechen, aber beinahe. Und es später, in zehn oder fünfzehn Jahren zu tun, wäre leicht – leicht in dem Sinne, dass die Vertrauten eines Herrschers leicht an ihn herankämen. Doch schwer, was sein Herz betraf. So schwer. Aber wenigstens wäre Sadi dann kein Kind mehr.

»Also … aufgeschoben?«, fragte er.

»Eine Chance«, sagte sie. »Wir geben ihm die Gelegenheit, eine wahre Sonne zu werden. Wir helfen ihm dabei, wir unterstützen ihn, wir werden alles dafür tun, dass er zu Tizaruns würdigem Sohn heranwächst. Du kannst das, Yando, dessen bin ich gewiss.«

Sie kannte ihn nicht, und sie hatte keine Erkundigungen über ihn einziehen können, da sie kein Kancharisch sprach. Und dennoch setzte sie ihr Vertrauen in ihn, sie machte ihn zu ihrem Vertrauten. Und sich selbst damit zu seiner Vertrauten, etwas, das er so dringend brauchte wie nie zuvor.

Maira war so schlau, dass er nichts als Bewunderung und Staunen empfand.