6. Sehnsucht nach Daja

Als Ruma den Vorhang beiseiteschob, beugte sich der Magier gerade über seine Wasserschale. Vermutlich empfing er gerade eine wichtige Botschaft von einem befreundeten Magier irgendwo am anderen Ende des Kaiserreichs. Von ihrem Platz an der Tür konnte Ruma wenig erkennen. Schatten schienen über die Wasseroberfläche zu huschen, dunkle Schlieren waberten in der Tiefe.

»Meister Ronik?«, fragte sie vorsichtig. Zuhause in Daja hatte sie gelernt, Magiern mit Vorsicht zu begegnen. Arat, der Leibmagier ihres Vaters, war oft schlechter Laune gewesen und hatte sie stets von oben herab behandelt.

Der Magier schob die Kapuze zurück. Er war ein kleiner, dünner Mann mit schütterem Haar und wirkte völlig harmlos, aber sie hatte gehört, dass er als der beste Heilmagier in Wabinar und sogar von ganz Kanchar galt. Matino hatte seinen Tod verlangt, nachdem er sein Bein verloren hatte, doch sogar Kaiser Ariv, obwohl rasend vor Wut und Trauer, hatte nur die Hinrichtung der niederen Magier befohlen, die bei der Behandlung versagt hatten, und den Meister verschont. Immerhin war es ihm gelungen, Matinos Leben zu retten.

»Edle Kaiserin«, sagte Ronik und lächelte. »Wie kann ich Euch helfen? Ich gehöre nicht zu den Magiern, die mit Daja in Kontakt stehen.«

Seine Freundlichkeit verwirrte sie. Von Tag zu Tag fühlte sie sich fremder in diesem Palast und in diesem Leben. Das falsche Lächeln ihrer Hofdamen verstärkte die Einsamkeit eher noch. Roniks Augen hingegen wirkten gütig und ehrlich.

»Es geht nicht um Daja.«

Er schien zu merken, dass sie Zeit brauchte. Höflich bat er sie herein, bot ihr einen Platz auf den Sitzkissen an und begann, mit einer Kanne und diversen Töpfen zu hantieren, denen er Blätter und ein feines Pulver entnahm. Ruma beobachtete, wie er Tee zubereitete, Honig sowie Gewürze hineingab und mit einem Glasstäbchen umrührte, jede seiner Bewegungen anmutig und präzise. Ihn zu beobachten erfüllte sie unerwartet mit Frieden.

»Bitte sehr, Edle Kaiserin.« Er reichte ihr einen der Becher.

Sie nippte daran. Der Tee war vollkommen. Er war süß und herb zugleich, heiß und dennoch mit der Kühle von Minze auf der Zunge, würzig und schlicht.

»Ihr seid ein Meister.«

Ronik nahm das Kompliment mit einem Nicken entgegen. »Führt Euch eine Krankheit zu mir? Eine Unpässlichkeit? Oder seid Ihr schwanger?«

Ruma nahm all ihren Mut zusammen. »Gibt es ein Mittel, das eine Schwangerschaft verhindert?«

Er antwortete nicht sofort, sondern trank seinen Tee. Er schien ihre Worte sorgfältig abzuwägen, und plötzlich packte sie die Angst, er könnte zu Liro gehen und ihm verraten, dass sie gefragt hatte.

»Natürlich gibt es solche Mittel«, sagte er schließlich. »Keines davon ist ganz ungefährlich. Nimmt man sie zu lange, besteht die Gefahr, dass eine Frau unfruchtbar wird.«

»Natürlich will ich dem Kaiser einen Erben schenken. Aber ich möchte den Zeitpunkt selbst bestimmen. Gibt es ein Mittel, das ich nicht dauerhaft einnehmen muss, sondern nur jeweils … kurz davor? Um eine Empfängnis in einer bestimmten Nacht zu verhindern?« Sie war ihm keine Erklärung schuldig, dennoch drängte es sie, ihm zu versichern, dass sie keine Liebschaft hatte. Dass sie ihrem Gemahl, dem Kaiser, treu war und nicht etwa sichergehen wollte, dass sie nicht von einem anderen Mann schwanger wurde. Doch genau das war der Fall. Sie musste unbedingt verhindern, dass sie von Matino ein Kind bekam. Der ehemalige Kronprinz erwartete von ihr, dass sie ihn regelmäßig aufsuchte; das war seine Bedingung dafür, dass er Yando verschonte. Seit er sie beide zusammen ertappt hatte, hatte er sie in der Hand – und nutzte das schamlos aus.

»Es hört sich seltsam an, das ist mir bewusst, doch ich würde gerne … ich dachte … Und vielleicht gehe ich nach Daja, um mich dort um alles zu kümmern, und ich möchte mein Kind, wenn ich denn eines bekäme, nicht in Gefahr bringen. Ich möchte jeden Tag neu entscheiden können, was ich tun will oder auch nicht.«

Er hörte ihr geduldig zu. Nichts deutete darauf hin, dass er ihr Verhalten befremdlich fand. Am Schluss nickte er. »Sehr wohl, Edle Kaiserin. Ich werde Euch das Gewünschte anrühren und bringen lassen – natürlich unter absoluter Diskretion.«

Ruma war schon immer viel allein gewesen. Sie hatte gelernt, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, auch wenn sie nie ihre eigenen Entscheidungen hatte treffen dürfen. Da das Zwitschern ihrer Hofdamen sie dabei störte, diesen Gedanken nachzuhängen und endlich zu entscheiden, was sie tun sollte, um Matino zu entkommen, ohne Yando zu gefährden, hatte sie wieder einmal Müdigkeit vorgeschützt und alle ihre vermeintlichen Freundinnen weggeschickt. Man tuschelte bereits darüber, ob sie schwanger war.

Sollten sie, es war ihr gleich. Wichtig war etwas ganz anderes: Daja gehörte ihr. Ihr allein. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie längst die Krone getragen. Die Ungerechtigkeit ihres Daseins nagte an ihr. Wie konnte sie Liro dazu überreden, sie in ihre Heimatstadt gehen zu lassen, wo sie gleichzeitig fern von Matino wäre? Der Kaiser wollte einen Erben; wenn sie schwanger wäre, würde er ihrer Bitte hoffentlich nachgeben. Sie könnte bis zur Geburt in Daja bleiben, die Wüstensonne genießen und unter ihren Verwandten sein. Wenn es nötig war, dafür sofort mit Liro ein Kind zu zeugen, würde sie das tun. Doch gab sie Yando damit nicht einem ungewissen Schicksal preis? Zuerst musste sie sich um seine Sicherheit kümmern, und dann würde sie sofort aufbrechen.

Die Götter würden ihr doch gewiss ein Kind schenken, wenn sie darum bat. Es durfte nur nicht von Matino sein. Ein kalter Schauer erfasste sie, sobald sie an ihren Schwager dachte.

»Ruma«, flüsterte eine Stimme.

Yando! Er war das Licht ihrer Augen, die Sonne ihrer dunklen Stunden. Er war das einzig Warme in einer Welt, in der alles so eisig war, dass sie befürchtete, bald zu erfrieren. Während er näher kam, schien das Licht heller und wärmer zu leuchten, und sie wusste wieder, warum sie noch hier war, warum sie Liro nicht längst angefleht hatte, sie nach Daja zu schicken.

»Hier«, sagte er. »Meister Ronik bat mich, dir das zu geben.«

Das Fläschchen bestand aus dunkel getöntem Glas, man konnte seinen Inhalt nicht erkennen.

»Hat er irgendetwas dazu gesagt?«

»Zwei Tropfen auf die Zunge, eine Stunde vorher. Weißt du, was er damit meint?«

Sie ließ die Flasche in eine ihrer Rocktaschen gleiten. »Danke. Ja, ich weiß Bescheid. Nur etwas gegen … weibliche Unpässlichkeit.«

»Ah«, murmelte er verlegen. Kein Mann sprach gerne über diese Dinge.

Nun hätte er gehen können, doch er blieb, und sie war dankbar für jeden Augenblick, den Yando in ihrer Nähe verbrachte. Ein wenig blass kam er ihr vor, fahrig, zerstreut, doch letztendlich kannte sie ihn zu wenig, um das mit Sicherheit sagen zu können. Sie spürte nur, dass ihn etwas bedrückte.

Zu gerne hätte sie ihn in den Arm genommen. Doch sie hatten schon einmal erlebt, wie gefährlich das war. Wie schnell jemand hereinkommen konnte, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Also blieben sie zwei Schritte voneinander entfernt stehen, zwischen ihnen die vielen ungesagten Worte, die Küsse, die sie nicht tauschen durften, die Zärtlichkeiten, die Wünsche bleiben mussten. Sobald sie auch nur daran dachte, die Hand nach ihm auszustrecken, schob sich Matinos Bild dazwischen. Sie fühlte sich seltsam leer.

»Ruma.« Ihr Name aus seinem Mund war eine Liebkosung. »Ich habe mit Liro über Sadi gesprochen. Ich möchte einen Teil meiner Zeit dafür aufwenden, sein Lehrer zu sein, damit er seine Pflichten erfüllen kann, wenn er herangewachsen ist. Das heißt, dass ich weniger Zeit in Liros Nähe verbringen werde.«

»Und damit ist er einverstanden?«

»Er hat sich noch nicht entschieden. Vielleicht wird er dich nach deiner Meinung fragen.«

So hoch ragte er über ihr auf, dieser große, blonde Mann, und bat sie um die schrecklichsten Dinge und die schönsten, und sicherlich war ihm beides bewusst. Wenn er der Lehrer des Jungen würde und sie ihn dadurch weniger häufig sah, würde das schlimm sein, aber vielleicht auch gut – so als könnte man sich von der Luft entwöhnen, die man zum Atmen brauchte. Gleichzeitig bewies er ihr, dass er ihr vertraute. Immer noch. Obwohl sie Karim zum Tode verurteilt hatte. Obwohl sie eine furchtbare Entscheidung getroffen hatte, konnte er sich vorstellen, dass sie eine größere Rolle in Liros Leben spielte, während Yando sich ein wenig daraus zurückzog. Es war ein Angebot, das sie erschreckte, weil es so schlicht und liebevoll daherkam. Weil es sie als Person ernstnahm, ihr Verantwortung übertrug. Und weil Yando ihr damit mehr Liebe bewies, als ihm wahrscheinlich bewusst war.

Also nickte sie, während sich weitere Fragen zu ihren Sorgen und den unlösbaren Rätseln ihres Daseins gesellten.

Er sah sie an, und einen Moment lang war er ihr wieder so nah wie bei ihrer ersten Begegnung in Daja, als sie sich des Abgrunds zwischen ihnen noch nicht bewusst gewesen waren. Yando wirkte verletzlich, beinahe scheu, und sie war sein Mädchen, auf das er sich verließ. Dann war der Augenblick vorüber, er verneigte sich vor ihr und ging.

Wenig später schlenderte eine ihrer Dienerinnen ins Zimmer, rückte hier etwas zurecht, stellte dort frisches Obst hin, und in ihrem Schlepptau kehrte das Gefolge an Hofdamen zurück.

»Geht es Euch wieder besser? Wie schön. Trinkt ein wenig Wein, das wird Euch guttun.«

»War das gerade nicht Yando? Ein schöner Mann, des Kaisers Diener«, sagte eine andere. »Wir haben uns schon gefragt, ob er Frauen nicht zugeneigt ist.«

Ihr Herz machte einen Satz. »Warum?«

»Nun, er hat unsere Winke nie begriffen. Ein Zwinkern, ein Tätscheln – nichts hat je gewirkt. Als wäre er aus Stein!«

Vor Erleichterung hätte Ruma am liebsten laut geseufzt. Natürlich war Yando diesen flatterhaften Geschöpfen nicht auf den Leim gegangen. Hatten sie nie auch nur darüber nachgedacht, es könnte auch an ihnen liegen? Dass er sie einfach nicht begehrte?

»Bis jetzt, natürlich«, ergänzte eine weitere Dame. Sie lachten und scherzten und jede schien eingeweiht, und es war, als würde der ganze Palast etwas wissen, von dem sie keine Ahnung hatte. Ihr wurde heiß und kalt, und fiebrige Angst erfasste sie. Hatte Matino doch geredet?

»Schaut nicht so erschrocken, meine Liebe.« Jemand fasste sie am Arm, streichelte beruhigend ihren Rücken. »Es war keine von uns. – Leider«, flüsterte ihr die Stimme ins Ohr.

»Wer?«, ächzte sie.

»Heute Nacht wurde er gesehen, wie er aus dem Schlafgemach der ausländischen Kinderfrau geschlichen ist. Nun ist endlich klar, warum er nichts mit uns anfangen wollte – Wajuner treiben es nur mit Wajunerinnen. Ist Euch nicht gut, Hoheit?«

Wenn man so blind war, wie konnte man dann noch gehen oder sprechen oder zuhören und scherzen? Wie konnte man an den richtigen Stellen schmunzeln oder sogar lachen, auch wenn es falsch klang, zu schrill und beinahe schmerzhaft?

Irgendwie schaffte sie es. Irgendwie gelang es ihr, vernünftige Gedanken in ihre tränenlose Wut und Enttäuschung zu flechten. Wenn er dich nicht haben kann, sagte sie sich, warum darf er dann keine andere Frau haben? Es hat nichts zu bedeuten, es heißt nicht, dass er sie liebt. Nur dass er ein Mann ist, verzweifelt und allein.

Sie hatte Sadis Kindermädchen gesehen, ein junges, reizloses Geschöpf. Wenigstens war sie nicht hübsch. Aber vielleicht ist das noch schlimmer, flüsterte ihre Einsamkeit. Er geht lieber zu ihr, zu einem Mädchen, das hässlich ist, als zu dir. Denn du bist beschmutzt. Du liegst da und lässt dich benutzen, von Liro, von Matino. Wie könnte Yando nicht gehen?

Wie passend, dass Matino sie ausgerechnet heute wieder erwartete. Angeblich, um mit ihr über Daja zu sprechen und ihr die letzten Worte ihres Vaters zu überbringen.

Es gab nichts zu betrauern. Es gab nur die vage Hoffnung darauf, dass sie bald zurück in ihre Heimat durfte. Anders wäre das alles auch nicht zu ertragen gewesen.

Matino lächelte, kein spöttisches, wildes Lächeln, sondern ein freundliches. »Komm«, sagte er, »Ruma.«

Da wusste sie, dass er sich wünschte, einen guten Eindruck auf sie zu machen. Er wollte, dass es ihr gefiel.

Wie kann er auch nur daran denken, es könnte mir gefallen, überlegte sie, während seine Hände ihre und seine Kleider abstreiften und Haut auf Haut traf und Lippen einander begegneten. Ihr Blick fiel auf sein künstliches Bein, und sie erstarrte. Beim letzten Mal hatte sie die Augen geschlossen, weil sie Matino gar nicht hatte ansehen wollen, und irgendwie war es ihr gelungen, nichts zu fühlen, rein gar nichts. Sie hatte nicht einmal mehr daran gedacht, dass er verletzt worden war, obwohl er und sein Bruder aus diesem Grund in Daja gewesen waren. Deshalb traf der Anblick sie unerwartet.

Sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte. Das Bein war nicht aus Holz; sollte sie jemals überhaupt darüber nachgedacht haben, wie er wieder laufen konnte, hätte sie ein Holzbein erwartet. Doch dieses Ding, das etwa an der Hälfte seines Oberschenkels begann, war aus unzähligen kleinen Plättchen zusammengesetzt, die sich wie die Schuppen eines Fischs aneinanderfügten. Matino kniete auf dem Bett, das Knie bog sich wie ein echtes Gelenk, und als er wieder aufstand, streckte es sich. Es war, als besäße er ein echtes Bein, nur dass es nicht wie ein echtes Bein aussah. Sein Fuß endete nicht in perfekt modellierten Zehen, sondern in langen Krallen. Es war der Fuß eines Vogels. Sie kannte Vogelfüße; oft genug hatte ihr Papagei auf ihrem Arm Platz genommen oder war vor ihr auf dem Tisch umhergetrippelt. Sie kannte die Eisenvögel, die auf den Dächern des Palasts von Daja landeten und dort ruhten, bis sie wieder geweckt wurden. So wenig sie von der Welt gesehen hatte, mit magischen Kreaturen aus Eisen war sie vertraut.

Matino knirschte mit den Zähnen. »Hast du genug gesehen? Ich mag beschädigt sein, aber es fehlt nichts, was wichtig wäre. Daran solltest du dich eigentlich erinnern.«

Sein Zorn vibrierte in der Luft, der ohnmächtige Zorn über sein Schicksal, das ihn den Thron von Kanchar gekostet hatte. Da sie mit einem Trinker als Vater aufgewachsen war, erwartete Ruma, dass er diese Wut an ihr auslassen würde, doch der Prinz musterte sie nur mit verengten Augen. Er schien auf ihr Urteil zu warten.

So abstoßend der ganze Mann auf sie wirkte, sein Metallbein weckte eine merkwürdige Faszination in ihr. »Es ist schön«, sagte sie.

»Du musst mir nicht schmeicheln, ich hasse das. Du bist nur hier, weil ich dich zwinge, und glaub nicht, dass ich dich gehen lasse, nur weil du mir mit lieblichen Worten kommst.«

»Ja, Kalazar«, sagte sie, und um ihn nicht noch wütender zu machen, versuchte sie, das Eisenbein nicht zu berühren. Wenn es ihr Bein streifte, fühlte es sich warm an, nahezu heiß, als würde etwas darin brennen. Ein Feuer oder etwas Lebendiges.

Sie fragte nicht nach.

Sie überließ sich seinen Händen und seinem Körper, seinen Bemühungen, in der Frau, die in sein Schlafzimmer gekommen war, Leidenschaft zu wecken. Leidenschaft für sich und seinen beschädigten Körper. Es war ein wenig leichter, wenn sie sich vorstellte, dass er kein richtiger Mensch war, sondern ein Eisenvogel – oder ein Eisenmensch. Nicht dass es weniger wehgetan hätte, aber es war beinahe erträglich. Es fühlte sich nicht an, als würde ihr Vater sie schlagen oder als würde Liro sich nehmen, was ihm zustand, sondern als würde man sich an einem scharfen Messer schneiden. Das endlose Küssen und das Streicheln und Berühren, als wollte Matino jemanden zum Leben erwecken, der schon längst tot war, war auf dieselbe Weise richtig, wie Eiswürfel kalt waren oder Feuer so heiß, dass man Brandblasen davontrug. Es entsprach dem Lauf der Dinge. Leben bedeutete nun mal Schmerz.

Danach blickte er sie an, triumphierend, als sei es ihm tatsächlich gelungen, sie glücklich zu machen. Als könnte es gar nicht anders sein, als dass sie zufrieden war und dankbar und sich wohlig in seinen Armen entspannte.

»Nun?«, fragte er, »das war etwas anderes als mit meinem kleinen Bruder, liebe Ruma, nicht wahr?«

Sie nickte, damit er zufrieden war, und zog sich an, um in ihr leeres, kaltes, einsames Leben zurückzukehren.

Matino sah ihr dabei zu. »Dann bis morgen, Edle Kaiserin.«

Beim Frühstück wollte sie mit Liro nochmals über Daja sprechen. Sie saßen an ihrer niedrigen Tafel, durch die Fenster quoll Sonnenlicht in den Raum, alles funkelte und glänzte und blendete sie so, dass ihre Augen tränten. Sie aß, obwohl sie keinen Appetit hatte, doch es machte ihr nichts aus. Sie lächelte ihren Gemahl an, und erfreut lächelte er zurück. Ruma plante ihre Flucht, so wie andere Menschen zu den Göttern beteten – als ihren letzten Ausweg. Würde ihre Hoffnung darauf sich zerschlagen, wartete nur noch das Nichts auf sie.

Wenn ich bereits schwanger wäre, dürfte ich dann gehen?, wollte sie fragen. Ich werde mich um alles kümmern. Ich werde mein Kind in Daja zur Welt bringen, in dem Haus, in dem ich selbst geboren wurde.

»Bitte schön«, flüsterte Yando und schenkte ihr den süßen Tee ein, den sie bevorzugte, und seine Augen waren blau wie der Himmel. Da erinnerte sie sich an ihr Versprechen.

»Ich habe gehört, die Geisel macht ein wenig Ärger«, sagte sie in lockerem Plauderton zu Liro. Sie war stolz auf sich – wie sie ihm etwas vormachen konnte, wie sie allen etwas vormachen konnte! Sie spielte Freude oder Lust oder Anteilnahme oder die kluge Zuhörerin. Was immer von ihr erwartet wurde, sie war es.

»Das kann man wohl sagen«, meinte Liro. Er kämpfte mit seinen Essstäbchen, denen eine panierte Fruchtkugel hartnäckig auswich. »Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können.«

»Ich habe mir überlegt, dass der Junge einen Lehrer braucht, einen erfahrenen Erzieher. Was haltet Ihr davon, wenn wir Yando diese Aufgabe übertragen?«

»Was?«, meinte Liro überrascht. »Aber Yando hat doch schon eine Aufgabe. Er ist mein Ratgeber.«

»Der junge Prinz ist Wajuner, und Yando ist der Einzige, der ihn in seiner Muttersprache unterrichten kann. Wir können Le-Wajun nicht in ein paar Jahren einen Großkönig vor die Nase setzen, der seine eigene Sprache nicht länger beherrscht. Sie würden ihn für einen Kancharer halten und ablehnen.«

Yando nickte ihr kaum merklich dazu, während Liro blinzelte. »Aber ich brauche Yando ebenfalls!«

»Zu den Empfängen und Sitzungen kann ich Euch begleiten«, schlug sie vor. »Wir könnten gemeinsam über unser weiteres Vorgehen beraten. Natürlich«, setzte sie hastig nach, »müsste Yando sich nicht den ganzen Tag um das Kind kümmern. Ein paar Stunden täglich reichen sicherlich. Alle schwierigeren Sachverhalte könnt Ihr immer noch mit ihm durchgehen. Was meint Ihr dazu?«

Erst in diesem Moment begriff sie, was sie getan hatte. Ihre Verwunderung über sich selbst war nahezu grenzenlos – wie hatte sie nicht merken können, in welche Falle sie gerade getappt war? Wenn sie Liro beraten und ihn überallhin begleiten sollte, wie konnte sie dann nach Daja zurückkehren? Und wenn sie hierblieb, wie sollte sie dann Matino entkommen? Doch noch war die Falle nicht ganz zugeschnappt.

»Vielleicht«, meinte sie rasch, »könnte man jemanden aus Le-Wajun kommen lassen, einen Adligen, der sich um die Erziehung des Prinzen kümmern kann. Bis dahin wird Yando sicherlich gute Arbeit leisten.«

Liro nickte zustimmend. »Das ist ein guter Gedanke. Ich will, dass der Junge eine kancharische und eine wajunische Erziehung erhält.«

Yando schwieg. Dieser Vorschlag gefiel ihm offenbar nicht. Aber sie musste auch um ihr Leben kämpfen, das derzeit kein Leben mehr war. Früher hatte sie davon geträumt, Daja zu verlassen. Jetzt wollte sie nichts lieber, als Wabinar den Rücken zu kehren.

»Matino wollte Sadi unterrichten«, sagte Liro.

»Aus diesem Grund bin ich hier.« Der eben Genannte hinkte herein, wünschte ihnen strahlend einen guten Morgen und setzte sich an den Tisch, ohne um Erlaubnis zu bitten. Umständlich ließ er sich auf einem der Kissen nieder. »Ich habe einen Plan erstellt, was ich dem Kleinen beibringen will.«

Yando erstarrte. Ruma spürte, wie er versuchte, mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Trotzdem sagte sie: »Wir haben uns dafür entschieden, Yando mit der Erziehung zu beauftragen, bis wir einen wajunischen Adligen gefunden haben, der das übernimmt.«

Matino hob die Brauen. Er schenkte Yando einen anzüglichen Blick und wandte sich dann an Liro. »Eine fabelhafte Idee!«

»Du findest das gut? Und ich hatte schon Angst, du wärst gekränkt.«

»Lass mich nach einem Wajuner suchen. Ich bin der einzige Feuerreiter weit und breit, und damit bin ich auch der Einzige, der an die Grenze reisen kann. Ich kann mein Quartier in Daja beziehen und von dort aus mit einem Gefolge nach Le-Wajun reisen und einen geeigneten Lehrer unter den Adligen auswählen.«

Er würde gehen, Wabinar verlassen! Das war Rumas erster Gedanke. Mit dem zweiten kam die Ernüchterung.

Liro sprach es zuerst aus. »Du willst Daja für dich?«

»Gib mir die Wüstenstadt. Dajastadt ist nur ein Haufen Steine, eingebettet in einen Haufen Sand. Es hatte nie eine militärische oder kulturelle Bedeutung. Du brauchst jemanden, der die Krone mit Würde trägt und die Stadt verantwortungsvoll regiert – keinen unwichtigen Neffen des Königs, der kaum je von seinem Spieltisch aufgestanden ist. Gib sie mir.«

Hilfe suchend wandte Liro sich an Yando. Nicht an sie, die aus Daja stammte, die die Erbin hätte sein sollen, die darum gebettelt hatte, nach Hause gehen zu dürfen. Sondern an Yando.

Yando, der keinen Moment zögerte und nicht einmal zu zweifeln schien, sondern sofort nickte. Natürlich, dachte sie matt. Natürlich musste er diese Gelegenheit nutzen, er konnte gar nicht anders.

»Also gut«, sagte Liro. »Wenn es dir nichts ausmacht, besprechen wir die Einzelheiten später, wir sind gerade beim Frühstück.«

Matino lächelte, verbeugte sich leicht und ging. Später, damit rechnete Ruma ganz fest, würde er ihr sagen, wie leid es ihm tat, sie verlassen zu müssen. Er würde ihr einen unvergesslichen Abschied bereiten. Und er würde ihr hundertmal ins Ohr flüstern, dass Daja jetzt ihm gehörte.