7. Auf der Jagd

Lan’hai-yia, Gräfin von Guna, hatte nie die Freuden der Jagd begriffen. Sie hatte gelernt, wie man mit Waffen umging, und sie hatte in vielen Schlachten gekämpft, aber es war ihr dabei immer darum gegangen, ein Ziel zu erreichen. Sie hatte immer für etwas gekämpft. Doch ein Tier zu töten, nachdem man es stundenlang durch den Wald gehetzt hatte, bereitete ihr keine Freude. Deshalb hatte sie Selas und ein paar der Feuerreiter, die sich ihm angeschlossen hatten, allein in den Wäldern rund um Königstal auf die Jagd gehen lassen.

Sie verzog sich in den Garten.

An diesem Tag war der Himmel bedeckt. Unter den Apfelbäumen lagen ein paar halbreife Äpfel, die ersten gelben Blätter fielen ins nasse Gras. Feuchtigkeit kroch durch ihre Schuhe. Sie hatte sich so an die Wüste von Daja gewöhnt, dass ihr das kühle, nasse Klima von Guna fremd vorkam.

»Es wird Zeit, dass Karim zurückkommt.« Mernat, der Sprecher der Feuerreiter, duckte sich unter die Äste.

Lani hatte bereits festgestellt, dass es völlig unmöglich war, im Tal der Könige einen Platz zu finden, an dem nicht früher oder später einer der gelangweilten Feuerreiter auftauchte. »Meine Leute werden ungeduldig. Die Vögel rosten bei diesem Wetter, und wir brauchen etwas zu tun.«

Lani bückte sich nach einem Apfel. Er war noch grün und dennoch verfault. Ein schlechter Sommer für Äpfel lag hinter ihnen, aber sie hatte nichts davon mitbekommen. Sie hatte ja nicht einmal gemerkt, dass der Herbst herangeschlichen war und der Winter nahte und mit ihm die zahlreichen Sorgen, die man nie loswurde. Während des Bürgerkriegs – der vier langen Jahre, in denen sie versucht hatten, Teniras unrechtmäßige Regentschaft zu beenden – hatte sie sich ständig um die Versorgung der Rebellen, um Nahrung, Wasser und Brennholz gesorgt, um Waffen und Lagerplätze, doch in Guna zu sein hieß nicht, dass alles geregelt war. Die Menschen von Königstal wussten ihr Auskommen zu bestreiten, aber für die Feuerreiter war hier kein Platz. Und Lani wusste nicht, was die Eisenvögel brauchten.

»Karim wird zurückkommen. Er ist erst seit drei Wochen fort.«

»Und wenn nicht?«, fragte Mernat. »Manche Krieger überleben eine Schlacht nach der anderen, kehren nach Hause zurück und sterben an einem Bienenstich.«

Doch Karim trug den Ring des Großkönigs an der Hand. Er würde nicht einfach sterben, das konnten die Götter nicht zulassen. Dennoch machte auch Lan’hai-yia sich Sorgen. Von Mernat wusste sie, dass Gräfin Enema, die Mutter von Karim und Selas, kurz nach ihrem Fluchtversuch aus König Laons Palast ermordet worden war. Davon hatte Karim weder ihr noch Selas etwas erzählt. Ob er sich schuldig fühlte und deshalb beschlossen hatte, nicht wiederzukommen?

»Tenira kehrt nach ihrer Niederlage nach Wajun zurück«, sagte der Sprecher der Feuerreiter nachdenklich. »Sie wird wieder auf dem Thron sitzen. In Kanchar sind die Leute unruhig. Der Kaiser hat abgedankt und der Junge, der die Krone geerbt hat, muss sich das Vertrauen des Volks erst verdienen. Wo ist unser Platz in diesem Chaos?«

»In Guna«, antwortete sie, denn Guna war immer ihre Antwort gewesen. »Ihr habt hier eine wichtige Aufgabe. Solange ihr hier seid, sind wir sicher vor Kanchar und vor Tenira. Das Gleichgewicht bleibt gewahrt.«

Sein dunkles Gesicht verriet wenig. »Vielleicht«, sagte er leise.

Laute Rufe schreckten sie beide auf. Mernat duckte sich unter den Ästen hindurch und rannte los, Lani folgte ihm. Sie hätte nicht sagen könne, womit sie rechnete – mit den Jägern um Selas, die reiche Beute heimbrachten und die Kancharer mit der Aussicht auf köstlichen Braten erfreuten? Mit einem Angriff? Das gewiss nicht, denn niemand hätte gewagt, eine Armee aus Feuerreitern anzugreifen oder auch nur zu bedrohen.

Über ihnen senkte sich ein gewaltiger eiserner Vogel aus den Wolken. Während manche Eisenvögel, insbesondere die Wüstenfalken, Lanis ästhetischen Empfinden nach schön waren – funkelnde Geschöpfe, deren Grazie und Kraft das Auge erfreuten –, war diese Kreatur monströs und abstoßend. Sie war zu groß, um elegant zu sein, und zu unförmig. Ihr Hals streckte sich lang und schlangenartig, der Kopf ruckte vor, der scharfe Schnabel war beängstigend groß. Die Schwingen des Vogels endeten, wie bei allen Eisenvögeln üblich, in geschliffenen Federn, die als Schwerter dienen konnten, doch bei näherem Hinsehen erkannte Lani, dass dies nicht alles war. Haken und gewundene Metallstäbe ragten aus den Schwungfedern, Spieße und etwas, das wie Pfeilspitzen aussah.

»Kann er die Dinger abschießen?«, fragte sie ungläubig durch den Lärm.

Die Feuerreiter ringsum suchten das Weite oder duckten sich unter die Flügel ihrer eigenen Vögel, während sich der riesige Neuankömmling fauchend und klirrend tiefer hinabsenkte.

»Das ist anzunehmen.« Mernat klang merkwürdig gepresst.

»Was ist?«, fragte sie ihn. »Mit diesem Ungetüm können wir jeden fernhalten, der auch nur den Fuß unseres Gebirges betritt. Und falls Karim Schwierigkeiten bekommt, könnt ihr Wajun für ihn einnehmen.«

»Das ist ein Gebirgsgeier aus Gojad«, sagte Mernat. »Davon wurden nur drei Exemplare gebaut. Sie wurden nie an die Königreiche oder gar nach Wabinar verkauft, weil sie zu schwierig zu fliegen sind. Geier sind unberechenbar und können sich sogar gegen ihren eigenen Reiter wenden. Dieser Feuerreiter gehört nicht zu uns, Gräfin. Er wurde vor Kurzem in Daja gesichtet, daher weiß ich, wer ihn fliegt. Wir alle wissen es.«

Seine angespannte Miene machte ihr klar, dass durchaus Grund zur Besorgnis bestand. Wer auch immer zu Besuch kam war kein Freund. Das erklärte auch, warum die Feuerreiter sich in Stellung brachten. Die meisten Eisenvögel, die an den Hängen geruht hatten, stiegen bereits auf, um den Neuankömmling einzukreisen. Lani war so auf den großen Vogel konzentriert gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass die Feuerreiter aufsaßen und sich zum Angriff formierten.

Plötzlich wurde ihr bewusst, in welcher Gefahr das Tal schwebte. Eine Schlacht über den Dächern – das bedeutete abstürzende Eisenvögel, Metallfedern, die wie Dolche durch die Luft fliegen würden, um alles aufzuspießen, was ihnen in den Weg kam. Brandsteine, die gewaltige Explosionen hervorrufen würden – und am Ende sogar die geheimen Brandsteine erschüttern und zur Explosion bringen mochten, die die Talwächter verborgen hatten. Halb Guna würde in Flammen aufgehen.

»Nicht hier!«, rief sie und packte Mernat am Arm. »Bei allen guten Göttern, tragt es nicht hier aus!«

»Wir tun, was wir tun müssen.« Er schüttelte ihre Hand ab.

Sie hörte, wie er etwas rief, wie der Ruf sich fortpflanzte. Weitere Eisenvögel stiegen in die Luft, aber sie griffen nicht an. Das eiserne Ungetüm senkte sich weiter zu Boden, offenbar wollte es landen. Hastig flogen die letzten fünf Feuerreiter ihre kleineren Vögel aus der Gefahrenzone. Nun konnte Lani das Abzeichen auf dem Ledermantel des Reiters sehen – die Wüstenblume, das Zeichen der Kaiserfamilie.

Das eiserne Ungetüm setzte auf dem Boden auf, und der Reiter nahm den Helm ab. Schwarzes Haar flatterte im Sturm, den die vielen Eisenvögel erzeugten. Lässig kletterte er herunter; der Geier war so groß, dass der Reiter Trittstufen benötigte, die sich aus dem geschuppten Leib schoben. Dann war der Mann, wer auch immer er war, am Boden angelangt. Das hohe, vom Regen durchnässte Gras schmiegte sich an seine Stiefel. Der Ledermantel schleifte durch die Halme, als der Reiter sich ein paar Meter auf das graue Haus zubewegte.

Lani entging nicht, dass er in Reichweite seines Vogels blieb, unter den tödlichen Schwingen, die sich wie ein schützendes Dach über ihm wölbten. Ihr entging ebenfalls nicht, dass er einer der schönsten Männer war, die sie je gesehen hatte. Sein ebenmäßiges Gesicht, die braune Haut, die schwarzen Augen, das Lächeln selbstbewusst und völlig furchtlos, obwohl ihn mehrere hundert wütende Feuerreiter wachsam beobachteten – das ließ beinahe nur einen Schluss zu.

»Ist das der neue Kaiser?«, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass Ehrfurcht sie überkam. Sie war noch nie einem Mitglied der kaiserlichen Familie begegnet, sie hatte auch nie damit gerechnet, dass es jemals dazu kommen könnte.

»Nein«, sagte Mernat mit einem trockenen Lachen. »Das ist Prinz Matino, der Bruder des Kaisers. Er war der Erbe, bis er hier in Guna mit seinem Eisenvogel abgestürzt ist und sich verletzt hat. Und er ist der Grund dafür, warum sich die Feuerreiter von Kanchar losgesagt haben. Bleibt zurück, Gräfin, ich spreche mit ihm.«

Er musste sich sichtlich zusammenreißen, während er auf den Prinzen zumarschierte, dessen Lächeln noch eine Spur breiter wurde.

»Welch warmherziger Empfang wird mir hier zuteil. Hätte ich das gewusst, wäre ich eher gekommen.«

»Ihr seid hier nicht erwünscht, Kalazar«, sagte Mernat laut. »Ich bin Mernat, der Sprecher der Feuerreiter, und ich fordere Euch auf, wieder zu gehen.«

»Ich weiß, wer Ihr seid.« Prinz Matinos Lächeln gefror. »Aber Ihr scheint nicht zu wissen, wer ich bin.«

»Glaubt mir, Kalazar, das könnte ich nie vergessen. Ihr seid der Mann, der einen unserer Brüder ermordet hat.«

»Vielleicht sollte ich diese Unterhaltung lieber mit Prinz Karim führen«, sagte Matino.

Mernat ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, doch Lani entfuhr ein kleiner Laut. Woher wusste der Prinz, dass Karim überlebt hatte? Sie waren übereingekommen, niemandem davon zu erzählen, bevor er nicht von seiner geheimen Mission in Anta’jarim zurückgekommen war.

»Denn Prinz Karim, so wurde mir berichtet, ist sich nicht zu schade, jederzeit die Seiten zu wechseln«, fuhr Matino fort. »Je nachdem, wie es ihm am besten passt. Er hält nicht an kleinlichen Rachegelüsten fest, sondern verfolgt stets ein größeres Ziel. Er wäre der ideale Verhandlungspartner, um über die Rückkehr der Eisenvögel nach Kanchar zu sprechen. Prinz Karim ist ein weitaus größerer Mann als Ihr. Er wäre bereit, sich anzuhören, was ich zu sagen habe.«

»Prinz Karim ist zurzeit nicht hier«, gab Mernat unwillig zu.

»Ach nein?« Etwas an Matinos Art, sein Erstaunen kundzutun, verriet Lani, dass er nicht im Mindesten überrascht war. Im Gegenteil, er schien zu wissen, wo Karim sich aufhielt. Ein unruhiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Was wusste dieser Mann?

»Dann werde ich wohl Euch sagen müssen, was ich zu sagen habe. Ich bin der neue Herr von Daja. Das versetzt mich in die Lage, den Feuerreitern Daja anzubieten. Ihr dürft zurückkommen und Euch unter mein Kommando stellen. Niemand wird für Euren Verrat bestraft. Ich biete Euch eine Heimat an unter der Sonne Kanchars ebenso wie Straffreiheit und eine Zukunft. Gemeinsam können wir Daja zu neuer Größe aufbauen.«

»Unter Eurem Kommando?«, fragte Mernat ungläubig. »Ihr denkt wirklich, wir würden uns unter Euer Kommando stellen?«

»Die Vögel brauchen das Licht und die Wüste. Das wisst Ihr so gut wie ich. In Guna habt Ihr nichts verloren.«

»Was wisst Ihr denn davon, was unsere Vögel brauchen?« Mernats Stimme war heiser vor Wut. »Ihr seid nicht einmal ein richtiger Feuerreiter. Ihr habt nie einen eigenen Vogel besessen. Ihr habt nie zu uns gehört. Ihr habt nicht einmal begriffen, was es bedeutet, zu uns zu gehören. Wir haben unsere Wahl längst getroffen.«

»Mein Angebot ist äußerst großzügig«, sagte Matino. Aus seinen schwarzen Augen blitzte die Wut. »Denkt darüber nach. Ihr habt keinen Platz, wo ihr hinkönnt, und hier könnt ihr nicht bleiben. Karim wird nicht zurückkommen, diese Entscheidung müsst ihr ganz alleine treffen.«

»Dafür brauche ich keinerlei Bedenkzeit. Die Antwort lautet nein.«

Der Prinz seufzte leise. Er blickte zu Lani herüber, und sein Lächeln vertiefte sich wieder. »Feuerreiter sind ein wenig anstrengend, nicht wahr, Gräfin? Man mag sie gar nicht gerne in der Nachbarschaft haben. Wenn Ihr es mit Euren Freunden gut meint, versucht, ihr hitziges Temperament mit kühlem Verstand auszugleichen. Ich empfehle mich.« Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und kehrte zu seinem Vogel zurück. Ihr fiel auf, dass er leicht hinkte. Die Trittstufen schoben sich erneut knirschend aus dem gewaltigen Leib des Geiers.

»Wir sollten ihn einfach töten«, knurrte ein Feuerreiter irgendwo hinter Lani.

»Ein Mitglied der Kaiserfamilie? Das können wir nicht tun, und das weiß er natürlich.« Mernat drehte sich ruckartig um. Er zitterte vor Wut und Aufregung.

»Spielt es noch eine Rolle?«, fragte jemand. »Wir haben Kanchar bereits den Krieg erklärt, als wir Karim unterstützt haben.«

»Ja«, sagte Mernat, »aber Matino hat leider recht. Wir können hier nicht bleiben. Es ist zu feucht. Und was, wenn es erst schneit? Früher oder später müssen wir ins Kaiserreich zurück.«

Lan’hai-yia beobachtete, wie der Prinz in den Sattel kletterte. Als er sich den Lederhelm überstreifte, machte der Geier einen Satz nach vorn. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah. Jemand riss sie zu Boden, etwas fauchte über sie hinweg, ein heißer Regen traf ihr Gesicht, Metall kreischte, Erde spritzte, kleine Steine prasselten auf Eisen. Dann schraubte sich der riesige Vogel in die Luft. Zwei, drei kleinere Eisenvögel zerfetzte es mitten im Flug. Irgendetwas krachte, und an einer Stelle war ein Feuer entbrannt, aber das bekam sie nur am Rande mit, denn eine Weile drehte sich alles um sie.

»Weg hier! Rasch!«

Ein Arm fasste um ihre Taille, zog sie weg. Ein halber Flügel krachte seitlich von ihnen in ein Dach. Jemand schrie. Schwarzer Rauch stieg auf.

Und dann Stille. Ihre Ohren rauschten. Verwundert blickte sie auf die Blutspritzer auf ihren Händen.

»Seid Ihr verletzt? Gräfin?«

»Was ist passiert?«, fragte sie. Das Blut. So viel Blut. Jemand kniete vor ihr, tastete über ihr Gesicht, drehte ihre Arme hin und her. Mernat. Ja, sie erinnerte sich an den Namen. An Mernat. Und an Matinos Besuch. »Was hat er getan?«

»Uns einen kleinen Abschiedsgruß hinterlassen. Wir konnten gar nichts tun.«

Sie blinzelte. Jemand reichte ihr ein Glas Wasser. Der Dorfheiler stürzte durch die Tür, fragte, wie es ihr ginge, fragte nach Selas.

Aber Selas war auf der Jagd. Und Karim war fort. Hatte Matino gelogen, als er behauptete, Karim würde nie wiederkommen? Wenn es stimmte, war Guna verloren, dann war alles verloren. Bitterkeit erfüllte sie. Wie konnte es sein, dass sie immer noch hilflos war inmitten von so vielen Feuerreitern, die auf ihrer Seite standen? Doch das taten sie gar nicht. Sie warteten lediglich auf ihren Anführer.

»Ihr habt keine Wahl. Früher oder später müsst Ihr nach Daja gehen. Hätte ich die Macht, ich würde Euch einen Ort im Süden geben, irgendwo in Lhe’tah. Dort ist es sonnig und warm, trocken, und es gibt keinen Sand. Es wäre ideal. Lebte Fürst Wihaji noch, er könnte Euch Land überschreiben und alles, was Ihr Euch wünscht. Doch ich kann Euch nur bitten, auf Karim zu warten.«

Sie redete zu viel, da war zu viel Verzweiflung in ihren Worten. Selas fehlte ihr; er hätte mit mehr Gelassenheit reagiert.

»Wir werden auf ihn warten«, sagte Mernat. »Aber nicht endlos lange. Ich gebe ihm noch einen Monat. Kommt er dann nicht zurück, werde ich die Feuerreiter versammeln und ihnen meinen eigenen Vorschlag unterbreiten.«

»Daja«, sagte sie müde.

»Ganz recht.« Er rieb sich das Blut von der Wange. »Daja. Wir erteilen Prinz Matino eine Lektion, die er nicht so schnell wieder vergisst. Er mag der Bruder des Kaisers sein, aber wir sind die Herren der Luft und des Feuers. Wir werden auf unseren Eisenvögeln in den Krieg ziehen.«

Matino ließ seiner Wut freien Lauf. Er hatte mehr erhofft, viel mehr. Sahen sie nicht, wie großzügig er sich gab, wie gnädig es war von ihm, den Verrätern die Rückkehr ins Kaiserreich anzubieten? Wie konnten sie einfach ablehnen? Die Feuerreiter hätten Daja zur mächtigsten Stadt von ganz Kanchar gemacht.

Sein Zorn war während des Fluges von Königstal nach Daja nicht erloschen, sondern immer weiter angewachsen, und als er den Eisenvogel auf dem höchsten Gebäude der Stadt landete, brodelte es in ihm.

Mit einem zornigen Funkeln winkte er die Wächter, die ihm auf dem Palastdach entgegeneilten, zur Seite. Sie fielen zu Boden, drückten ihre Stirn in den Staub. Genauso sollte es sein. Denn Kanchar gehörte ihm. Er war Kaiser Arivs ältester Sohn, er hätte der Erbe des Throns sein müssen. Er war dazu bestimmt, zu herrschen und die Geschicke der Völker zu lenken, und niemand, nicht einmal die Götter, würde ihn daran hindern.

Sein Eisenbein trug ihn schwungvoll vorwärts, zu schwungvoll. Er kam aus dem Tritt, beinahe wäre er gestolpert. Hatte irgendjemand das bemerkt? Nein, sie knieten, sie lagen, niemand wagte, ihn anzuschauen. So war es richtig.

Seine Wut schwelte weiter, während er in den Palast marschierte. Wächter griffen nach ihren Waffen, erkannten ihn, erbleichten, warfen sich zu Boden. Er schritt über sie hinweg, riss die Tür zum großen Saal auf. Türen! Wie er sie hasste. Jedermann konnte sich dahinter verbergen, konnte versuchen, ihn auszuschließen, sich zu verstecken. Auch das würde er nicht dulden, sämtliche Türen würde er herausreißen lassen.

Die Feuerreiter wollten ihm nicht dienen? Sie würden angekrochen kommen, sobald ihnen bewusst wurde, dass Karim nie wieder zu ihnen zurückkehren würde. Matino hatte seine eigenen Spione, er wusste Bescheid. Die Falle war längst vorbereitet. Karim, der Gesegnete der Götter! Oh, wie dumm die Wajuner waren! Ihren Thronerben dem Urteil der Götter zu überlassen? Der Erbe musste immer behütet werden, ganz gleich, ob man ihm zugetan war oder nicht. Natürlich kümmerten sich gute Könige zuerst um die unliebsame Verwandtschaft, so wie Tenira es getan hatte und wie es im Kaiserreich seit Jahrhunderten üblich war. Verwandte, die sich als Rivalen herausstellen könnten, musste man rechtzeitig aus dem Spiel nehmen.

Die Neffen des verstorbenen Königs von Daja sprangen auf, als er in den Saal platzte. Einer von ihnen hatte es sich auf dem Thron gemütlich gemacht, einem mit üppigen Polstern bezogenen Stuhl, die anderen standen über einen Tisch gebeugt, auf dem Stammbäume und Karten ausgebreitet lagen.

Wie eifrig – und wie vergeblich.

»Sucht Ihr nach einem Fall, in dem ein König ohne direkten männlichen Erben gestorben ist? Einen Fall, in dem entfernte Verwandte auf den Thron gelangt sind? Einen solchen Fall werdet Ihr in keinem einzigen Königreich von ganz Kanchar finden. Gibt es keinen geeigneten Sohn, übernimmt es der Kaiser, für einen Regenten zu sorgen, bis ein legitimer Enkel dem Leib der Tochter entsprossen ist.«

Die jungen Männer starrten ihn an. Matino erkannte genau den Moment, in dem der Jüngling auf dem Thron seinen bevorstehenden Tod erahnte. Seine Augen ruhten auf der Wüstenblume auf seinem Mantel und weiteten sich.

»Der Edle Kaiser schickt Euch? Keiner unserer Magier hat Euren Besuch angekündigt.«

Matino verfluchte sein Bein, als er näher trat. Er hasste es, dass jeder auf den Beweis für seine Unvollkommenheit starrte. Dass jeder ihn daran erkannte. Dieses winzige Lächeln, das sich in den Schrecken der Männer mischte, als sie sich daran erinnerten, dass er versehrt war. Als ob sie deswegen eine Chance gegen ihn gehabt hätten.

»Der Edle Kaiser Liro schickt mich, in der Tat«, sagte Matino.

»Auf dass Ihr einen Regenten ernennt, Kalazar?« Hände wanderten verstohlen zu den Dolchen an ihren Gürteln.

»Auf dass ich Daja regiere. Dachtet Ihr im Ernst, der Kaiser würde unerprobten Knaben die Krone eines seiner wichtigsten Königreiche anvertrauen?«

Sie waren zu viert. Klingen blitzten auf. Einer erdreistete sich, nach den Wachen zu rufen, aber die Wachen würden nicht kommen. Matino drehte sich um und griff nach einem mannshohen Leuchter, der neben der Tür stand. Er schloss sie sorgfältig, dann klemmte er das Ding unter den kunstvoll verschnörkelten Knauf, damit sie sich nicht von außen öffnen ließ. Vielleicht waren Türen doch nicht so verkehrt.

»Was wird das?«, rief der Jüngste, er war fast noch ein Knabe.

Matino bückte sich und streifte den Stiefel von seinem linken Bein, damit er nicht beschädigt wurde. Sein Lächeln war voller Vorfreude. »Dies«, sagte er, »wird die Eroberung von Daja.«

Mit einer Stadt unter sich, die sich furchtsam duckte, und einem Eisenvogel, der seinen Wünschen Flügel verlieh, war das Leben beinahe wieder annehmbar. Doch Matino hatte weitaus größere Pläne. Seine Träume hießen »Kanchar«, sie hießen »Wabinar« und »Gojad« und »Ruma«. Daja hatte nie dazugehört. Daja war nichts als Staub.

Mit seiner persönlichen Leibwache schritt er die Mauern ab. Auf den Zinnen hingen die blutigen Leichname der Prinzen, und er achtete genau darauf, dass die Wächter hinsahen und den Anblick nicht mieden. Dies waren jetzt seine Leute, und sie mussten wissen, was sie erwartete, wenn sie ihm nicht vollkommen dienten. Die Menschen, die unten durch das Haupttor gingen, sahen ebenfalls hin. Jeden, der es nicht tat, erwartete ein Stockschlag auf den Rücken. Die Wachen achteten genau darauf, dass jeder sich an die Befehle des neuen Regenten hielt.

Eine Weile beobachtete Matino, wie die Händler und Fischer, die Hirten und Reisenden nach draußen strebten, wie sie innehielten, wenn sie die Aufforderung der Soldaten hörten, nach oben zu schauen, und ängstlich gehorchten. Von dieser Warte aus konnte Matino den einen oder anderen Gesichtsausdruck erkennen, die Abscheu, das Entsetzen, hin und wieder auch stumpfe Gleichgültigkeit. In der Schlacht von Daja waren viele Menschen gestorben, und so manch einer hatte sich an den Anblick übel zugerichteter Leichen gewöhnt. Zumal dann, wenn es sich nicht um die eigenen Freunde oder Angehörigen handelte.

»War König Laon beliebt?«, fragte Matino.

Eine Welle des Unbehagens lief durch die Männer. Sie kannten ihn noch zu wenig, um zu wissen, welche Antwort er sich wünschte.

»Die Wahrheit«, forderte er. »Immer die Wahrheit.« Denn auch wenn diese im nicht gefiel, wollte er sie doch kennen. Man konnte nicht regieren, ohne zu wissen, was die Untertanen dachten, was sie liebten und was sie fürchteten. Die Menschen zu durchschauen war das Wichtigste für einen Herrscher, daher waren verlogene Diener das Lästigste überhaupt. »Wer mich belügt, stirbt.«

Er wandte ihnen weiterhin den Rücken zu, überließ es ihnen, sich zu verständigen, wer die unliebsame Rolle des Sprechers übernahm. Er brauchte mutige Leute an seiner Seite.

»Kalazar.« Der junge Wächter, der sich als der tapferste erwies, hatte dennoch Angst. Seine Stimme zitterte. Gut, das war gut. Dennoch klang er nicht übertrieben schmeichlerisch, eine Eigenschaft, die Matino verabscheute. »König Laon war bei großen Teilen der Bevölkerung sehr beliebt, da seine Familie seit vielen Jahrhunderten …«

»Die Geschichte seiner Familie ist mir bekannt«, unterbrach Matino ihn brüsk.

»Verzeiht, Kalazar, natürlich. Laon hatte großen Rückhalt in der Bevölkerung. Doch es gab es auch viele Menschen, die sich über seine Unberechenbarkeit beklagt haben. Die Dajaner sehen dem Beginn Eurer Regentschaft mit großer Hoffnung entgegen.«

Matino drehte sich um. Der Wächter war noch ein halbes Kind, keine zwanzig Jahre alt, schmal, dunkelhäutig, mit einem rundlichen Gesicht. »Gut«, sagte er sanft. »Eine ausgewogene Antwort, voller Achtung sowohl vor dem verstorbenen König als auch vor mir. Wie ist dein Name?«

»Mirr, Kalazar.«

»Ich ernenne dich zum Hauptmann meiner Leibwache. Und nun gehen wir zurück. In einer Stunde will ich die besten dajanischen Magier im Palast sehen.«

Matinos Triumphgefühle lösten sich schlagartig in nichts auf, als er sein neues privates Ruhezimmer betrat, denn auf den edlen, mit seltenem Leopardenfell bezogenen Sitzkissen saß ein Fremder. Er hatte eine Flasche vor sich auf dem niedrigen runden Tisch mit der Mosaikplatte stehen sowie zwei Becher. Der Mann mochte um die fünfzig sein, vielleicht auch älter. Er war hager, das Gesicht faltig von der unbarmherzigen Wüstensonne. Daraus schloss Matino, dass er es nicht mit einem Adligen zu tun hatte, der im Palast lebte, sondern mit einem der rauen Gesellen, die draußen in der Wüste lebten. Er war einfach gekleidet und trug offene Sandalen.

»Wein?«, fragte der Mann und schob den zweiten Becher über den Tisch. »Weißer Garnt aus Kato. Er stammt aus dem königlichen Weinkeller, doch Ihr habt ihn nie gekostet. König Laon besaß nur diese eine Flasche. In ganz Kanchar gibt es keinen kostbareren Tropfen.«

Matino blieb mitten im Raum stehen. Er war kurz davor, die Wachen zu rufen oder sich selbst um den Eindringling zu kümmern, doch das lässige Selbstbewusstsein des Mannes warnte ihn. Das war weder ein Bittsteller noch ein Dieb.

»Wer hat Euch geschickt?«, fragte er. »Verwandtschaft von König Laon?«

»In gewisser Weise, ja«, antwortete der Fremde. »Ich war ein … Freund des Königs.«

»Wie schade für Euch.« Gegen seinen Willen fühlte Matino sich verunsichert. Etwas war an diesem Mann, der so harmlos wirkte, das alle seine Instinkte in Alarmbereitschaft versetzte. Ob er ein Mörder war? Denn wer sonst würde in seinem privaten Salon auf ihn warten, wer sonst würde hier eindringen und den Bruder des Kaisers bedrohen?

»In der Tat, wie schade. Laon war durchaus ein angenehmer Trinkgenosse. Einen Schluck Wein, Kalazar?«

Mit einem gedungenen Mörder Wein zu trinken war ein tödliches Unterfangen, dennoch trat Matino vorsichtig ein paar Schritte näher. Ob der Mann ihn vergiften wollte? Er hatte immer noch ein As im Ärmel, von dem niemand etwas wusste. So schnell ließ er sich nicht umbringen.

»Ihr bietet mir meinen eigenen Wein an?«

Der Fremde lächelte. »Wäre es Euch lieber, ich würde Euch einen Schluck von Eurem eigenen Blut anbieten? Ihr habt gewiss bereits eine Vermutung, wer ich bin, Kalazar.«

Behutsam ließ Matino sich auf das dicke Sitzkissen sinken, das auf der anderen Seite des Tisches für ihn bereitlag. Unauffällig schätzte er die Entfernung zwischen sich und dem Assassinen ein. Wenn er von hier aus sprang, musste er nur knapp einen Meter überwinden. Er würde schneller sein müssen als je zuvor, aber was hatte er für eine Wahl? Es hieß Töten oder Sterben.

»Ich schätze, Ihr seid gekommen, um eine … Entschädigung zu fordern?«

»So könnte man es auch sagen.«

Diesmal nahm Matino keine Rücksicht auf seinen Stiefel. Er stützte sich mit seinen Händen am Sitzkissen ab, sammelte seine Kraft und sprang los, mit den Füßen voran. Die Krallen glitten durch das Leder wie durch Butter. Ein Augenblick lang strömte Freude durch sein Herz, der köstliche Triumph eines Mannes, der es gewöhnt war zu siegen. Im nächsten Moment ging ein Ruck durch seinen ganzen Körper, der Raum drehte sich, und dann lag er auf dem Boden. Sein Rücken schmerzte, als hätte er ein Messer darin stecken, und er konnte sich nicht bewegen.

Der Fremde beugte sich über ihn, ein kleines, böses Lächeln auf den schmalen Lippen. Eine Klinge funkelte im Licht der magischen Lampen, der Duft des goldenen Weines lag in der Luft, bitter und salzig, und Matino erblickte den Tod. Es waren die Augen des Todes über ihm, mitleidslos und kalt. Er selbst hatte immer Vergnügen dabei empfunden, anderen mitzuteilen, dass ihr Ende gekommen war. Dieser Mann nicht. Für ihn schien es nichts als eine Handlung, so wie Brotschneiden eine Handlung war oder das Satteln eines Pferdes oder einen Schritt aus der Tür heraus zu tun, um zu sehen, ob Wolken aufzogen. Matino hatte seinen Gegner nie zuvor getroffen, und doch war es in diesem Moment, als könnte er bis auf den Grund seiner Seele schauen, einer Seele, die tief und leer war wie ein trockener Brunnen.

Das Entsetzen ließ ihn winseln; er konnte nichts dagegen tun. Nichts gegen den Drang, um sein Leben zu flehen.

Er öffnete den Mund. Ein heiseres Krächzen kam aus seiner Kehle. »Bitte«, keuchte er, obwohl er nie irgendjemanden um irgendetwas gebeten hatte und obwohl er wusste, dass der Tod keine Gnade kannte.

»Ich bin in der Tat hier, um eine Bezahlung einzutreiben«, sagte der Mann. »Laon war ein launischer Trunkenbold, aber er war Bestandteil meiner Pläne, und seine Entfernung daraus hat mir missfallen. Du hast mich nicht um Erlaubnis gefragt, Junge.« Das Gesicht kam Matinos noch näher, die Augen waren kalt, so schrecklich kalt. Er wollte instinktiv zurückweichen, über den Boden wegkriechen, aber er konnte nicht. Er war immer noch nicht in der Lage, sich zu bewegen, nicht einmal zu zucken.

»Bitte«, flüsterte er.

»Niemand greift ungestraft in meine Pläne ein. Ich habe mich über dich geärgert, und das nicht zum ersten Mal. Es ist nie klug, mich zu verärgern. Hat dir dein werter Vater je meinen Namen verraten? Nein? Sobald ihm klarwurde, dass du niemals Kaiser werden kannst, hatte er das gewiss auch nicht mehr vor. Dennoch lasse ich dich an meinem Geheimnis teilhaben. Ich bin Meister Joaku, der Herr von Jerichar.«

Niemand schickte den Tod hierhin oder dorthin. Er war kein Werkzeug, er war niemandes Diener. Er kam zu denen, die verloren waren. Matino hätte am liebsten die Götter angerufen, doch ihm fehlte die Kraft, an irgendetwas anderes zu glauben als an den Schmerz, der gleich über ihn hereinbrechen würde.

»Von nun an wirst du zu meinen engsten Vertrauten gehören, zu meinen Dienern. Ich werde dich am Leben lassen, mein Junge, doch es wird dich etwas kosten. Niemand bekommt etwas von mir geschenkt. Hast du verstanden?«

Wenn man dabei war zu fallen, fragte man nicht, wem die Hand gehörte, die einen festhielt. Man fragte nicht, wer einem Brot gab, wenn man kurz vor dem Verhungern war. Matino fühlte eine Woge aus Hass durch seine Adern fluten, aber er spie seinem Feind keine Verwünschungen entgegen. Er fragte nicht, welchen Preis der Wüstendämon forderte. Weil es offenbar erwartet wurde, flüsterte er ein tonloses »Ja«.

»Gut«, sagte Joaku. »Sehr schön. Ich werde dich wissen lassen, wann ich meine Bezahlung erwarte. Du darfst jetzt aufstehen.«

Die Lähmung fiel von Matino ab. Es kribbelte in seinem ganzen Körper, nur das Eisenbein hing an ihm wie ein totes Gewicht. Mühsam kämpfte er sich hoch. Die Weinflasche war umgekippt und einer der Becher auf den Boden gerollt. Eine helle Lache glänzte auf den Fliesen. Er ertappte sich dabei, dass er den Wert des vergossenen Weines überschlug. Ein hysterisches Lachen kämpfte sich seine Kehle hinauf. Und vielleicht hatte er auch die Kontrolle über seine Blase verloren, denn es roch ein wenig streng.

»Nun, Kalazar.« Joaku deutete eine Verbeugung an, ein spöttisches Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. »Ich denke, unsere Unterredung ist hiermit beendet. Habt Ihr noch Fragen?«

Matino hatte nie vorgehabt, sich mit dem Meister der Wüstendämonen anzulegen. Natürlich hatte er davon gehört, dass Laon einflussreiche Freunde besessen hatte. Dass Ruma Kaiserin geworden war, hatte Matino in der Annahme bestätigt, dass Laon jemanden geschickt hatte, um ihn zu verstümmeln oder gar zu töten. Denn er erinnerte sich zu gut an die Gerüchte, dass ein Fremder damals im Palast in Wabinar gesichtet worden war,. Doch er hatte nicht erwartet, dass Laon mit Jerichar paktiert haben könnte. Bis zu diesem Moment war ihm nicht klar gewesen, dass sogar ein Sohn des Kaisers die Taten der Wüstendämonen hinnehmen musste. Gegen die Assassinen konnte man keinen Krieg führen, man konnte nur hoffen, dass sie einen nicht bemerkten. Oder dass man sie auf seiner Seite wusste. Irrigerweise war er davon ausgegangen, dass er sich an Laon rächen konnte, ohne dass es Konsequenzen mit sich brachte. Er hatte, als er den König von Daja getötet hatte, nicht damit gerechnet, dass irgendjemand die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hatte, in Zweifel ziehen würde.

Dabei hätte er es wissen müssen. Wer sonst als die Wüstendämonen hätte ihn vergiften können, als er noch Kronprinz gewesen war? Wie war er überhaupt auf die Idee gekommen, dass sein Rang ihn schützen konnte, dass der Edle Kaiser von Kanchar irgendeine Autorität über diesen unheimlichsten aller Magier und seine Schergen hatte – Magier, die zum Töten ausgebildet waren und deren Meisterschaft darin die Todesgöttinnen erfreute? Es gab keinerlei Schutz vor ihnen. Keine hunderttausend Soldaten konnten ihm helfen. Und dieser Mann hatte für sie beide Gläser bereitgestellt, damit sie miteinander plaudern konnten? Oh, natürlich. Er konnte sich wahrlich nichts Schöneres vorstellen, als Wein zu trinken mit diesem älteren Herrn, dem er offenbar alles verdankte, was ihm je an Bösem widerfahren war – den Verlust seines Beines und des Throns und seiner ganzen, herrlichen Zukunft. Vor Wut und Scham über die Demütigung konnte er kaum sprechen. Doch er würde die Chance, noch etwas zu sagen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.

»Wie soll ich Euch anreden, Meister?«, fragte er.

Joaku musterte ihn. Keinen Augenblick schien er an Matinos Ergebenheit zu glauben. »Meister ist gar nicht verkehrt. Und mach dir keine Gedanken darüber, wie du mich erreichst, wenn du einen Wunsch hast oder dich von Feinden bedroht siehst. Ich werde dir ein paar Magier schicken. Mir kam zu Ohren, du benötigst neue Magier, nachdem du Meister Arat gemeuchelt hast.«

Matino schluckte schwer. »Ich wusste nicht, dass er zu Euch gehört, Meister.«

Joaku legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Oh, gewiss nicht. Meine Schüler lassen sich nicht von einem Stümper wie dir überrumpeln. Doch mir scheint, du hast noch eine andere Frage.«

Er musste mitspielen. Er musste hier stehen, stinkend, beschämt, und so tun, als wäre nichts geschehen. Er musste den schwarzen, bitteren Hass in seinem Herzen verbergen.

»Der Preis«, sagte er, da Joaku offenbar darüber reden wollte, um ihn noch mehr zu quälen. »Was ist es, das ihr verlangt?«

Er erwartete keine Antwort. Da der Wüstendämon ihn demütigen wollte, war es nur folgerichtig, dass Joaku ihn mit der Qual leben lassen würde, immerzu mit dem Schlimmsten zu rechnen.

»Da du so gerne tötest, mein Junge, werde ich dir einen Auftrag geben, sobald die Zeit gekommen ist. Ich werde dir befehlen, eine bestimmte Person zu töten, und du wirst es ohne zu zögern tun. Andernfalls werde ich dir Qualen zufügen, wie du sie dir nicht ausmalen kannst – dir und deinem Opfer.«

»Und wen«, nervös befeuchtete er seine trockenen Lippen, »soll ich töten?«

»Welcher Preis wäre denn angemessen für dein Leben?«, fragte Joaku zurück. »Welches Leben – wenn nicht das des Menschen, den du am meisten liebst?«

»Ich … ich weiß nicht, wen ich am meisten liebe.«

»Oh, ich schon, Kalazar. Ich schon.«

Joaku bückte sich nach seinem Becher, trank ihn aus und marschierte aus dem Salon.

Matino starrte ihm nach. Zitternd. Fröstelnd. Dann sank er auf die Knie und übergab sich auf den Boden.