Karim schrak aus dem Schlaf hoch, als ihn ein Tritt in die Seite traf.
»Ich habe eigentlich mehr erwartet«, sagte Amanu. »Warst du nicht angeblich der Beste von uns? Und nun schau her, kein Fortschritt. Der Helm sitzt wie angegossen, die Ketten sind in tadellosem Zustand. Was hast du die ganze Nacht über getan?«
Karim erinnerte sich lebhaft an den Traum von der alten Frau und ihren Katzen. Erstaunlicherweise fühlte er sich gestärkt und voller Hoffnung, und deshalb fiel es ihm leicht, ein spöttisches Lächeln auf seine Lippen zu zaubern. »Ich habe deinen Tod vorbereitet, Bruder. Weil ich nicht mehr lange hierbleiben werde.«
»Wie wahr«, meinte Amanu ungerührt. »Denn der Meister ist bereits unterwegs. Und damit du bis dahin bei Kräften bleibst, habe ich dir ein schönes Frühstück mitgebracht. Ein wenig Wasser zum Trinken und Wasser. Damit solltest du sparsam umgehen. Und einen Eimer mit einem Deckel. Benimm dich manierlich, werter Prinz.«
Amanu war nicht allein gekommen. Die anderen waren an der Schwelle stehen geblieben; er hörte das unbehagliche Scharren ihrer Schuhe, das leise Rascheln ihrer Kleidung. Sie fürchteten ihn, obwohl er blind war und angekettet. Und darin taten sie recht. Es erfüllte ihn mit Genugtuung.
Während Amanu sprach, erforschte Karim mit seinem Willen den Raum nach einer möglichen Waffe. Da, der Krug mit dem Wasser, er spürte ihn ganz deutlich. Einen Stein nur durch die Kraft des Willens zu schleudern war eine einfache Übung für einen Magier. Mit einem Aufbäumen seines Geistes bekam er den Krug zu fassen und schleuderte ihn in Richtung Tür. Noch während der Krug flog, zerbrach Karim die Glasur und zerteilte den harten Ton, und dann blieben von dem Krug nur noch Splitter.
Jemand schrie. Zwei Stimmen, die in hohen Tönen kreischten, während die messerscharfen Stücke sich in ihre Gesichter bohrten.
»Verdammt! Mein Auge!«
Er vernahm ein dumpfes Geräusch; ein Körper war zu Boden gefallen.
Karim hatte ein ziemlich genaues Bild davon, was geschehen war. Offenbar hatte er den ungeschützten Hals eines seiner Wüstenbrüder getroffen. Die Schwester hingegen hatte eine mit glänzender Glasur überzogene Scherbe ins Auge bekommen, die wie eine Pfeilspitze geformt war.
Amanu schrie vor Wut. »Raus hier, sofort! Alle raus!«
Karim konnte spüren, wie der andere vor ihm zurückwich. Er griff mit seinem Willen nach den Scherben, die auf dem Boden lagen, doch da schlug schon die Tür zu, und die Splitter, die er losschickte, prasselten wie Hagelkörner gegen das verwitterte Holz.
»Willst du, dass wir dich betäuben?«, schrie Amanu durch die Tür.
»Versucht es!«, rief Karim und lachte. Dieses Lachen hatte er sich verdient. Ein toter Assassine und eine Schwerverletzte – keine schlechte Bilanz noch vor dem Frühstück. Kurz packte ihn das schlechte Gewissen. Unya, die alte Großkönigin, hatte ihm gesagt, dass er Zeit brauchte, damit sie ihn unterrichten konnte, und gerade eben hatte er seine Zeit drastisch verkürzt. Kein Wüstendämon ließ über sich lachen. Falls sein Traum doch kein Traum gewesen war, hatte er unklug gehandelt, denn nun würden seine Wärter ihn mit größtmöglicher Vorsicht behandeln, ihn betäuben oder Schlimmeres.
Aber er hatte einen Ruf zu wahren.
Mit klopfendem Herzen wartete Karim, bis er sicher sein konnte, dass sich seine Wüstengeschwister zurückgezogen hatten. Dann tastete er nach den Dingen, die Amanu ihm gebracht hatte. Da, der Eimer. Keine unliebsamen Überraschungen was das betraf. Kein Wasser, um sich zu waschen, aber das war zu erwarten gewesen. Mit dem Krug, den er zerschmettert hatte, hatte er sein einziges Wasser geopfert, doch das war es wert gewesen. Und er hätte ohnehin nicht aus dem Krug getrunken. Denn er hatte den leicht fauligen Geruch sofort wahrgenommen: nur ein paar Tropfen Faulbeerensaft genügten, um einem Menschen heftige Bauchkrämpfe zu bescheren. Die Wüstendämonen pflegten ihre Gefangenen nicht zu verwöhnen. Und was gab es zu essen? Auch das würde ihm nicht gefallen, er ahnte es jetzt schon.
Die Ketten spannten, als er sich vorbeugte, um den Gegenstand, den er vor sich erahnte, zu berühren. Erschrocken zuckte er zurück, als er in etwas Weiches fasste. Oh ihr Götter, das musste ein schlechter Scherz sein! Federn, ein langer Schnabel, kleine Füße mit spitzen Krallen. Ein Rabe, eine Krähe, eine Elster? Der Vogel war noch warm, in der Brust steckte ein abgebrochener Pfeil.
»Amanu, du verfluchter Hund«, flüsterte Karim. »Das soll ich essen?«
Er war der bessere Magier gewesen, doch Amanu hatte Joakus Grausamkeit in sich aufgesogen wie ein Schwamm. Zudem diente diese Art, ihm seine Mahlzeit in rohem Zustand zu servieren, der Beschäftigung. Solange er sich damit befassen musste, das Vieh zu rupfen und auszunehmen und es mit Hilfe des göttlichen Funkens zu garen, konnte er sich weder seinen Ketten noch dem Helm widmen.
Schlaff hing der tote Vogel in Karims Händen. Die Vorstellung, auch nur einen Bissen davon zu nehmen, widerte ihn an. Er sollte also selbst dafür sorgen, dass er bei Kräften blieb? Das konnten sie vergessen.
Karim legte den Vogel zurück auf den Boden und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Helm. Die Ketten mochten wichtiger sein, doch das Gewicht an seiner Stirn bereitete ihm ständiges Unbehagen. Er konnte die Dinge in seiner Umgebung beherrschen, auch ohne sie zu sehen, aber er ertrug es einfach nicht, blind zu sein.
Das Eisen widerstand dem ersten Versuch, es aufzubiegen. Das würde noch schwieriger werden als der Kampf gegen die Ketten. Der Angriff mit dem Krug hatte Karim bereits zu sehr ausgelaugt – ihn mitten im Flug zu zerbrechen hatte ihn viel Kraft gekostet. Aber wenigstens hatte er seine Feinde damit überraschen können.
Jetzt konzentrier dich auf den Helm! Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, während er versuchte, das Metall zu verändern, eine Nahtstelle zu finden, an der er ansetzen konnte.
»Dafür ist keine Zeit«, sagte Unya.
Karim stieß einen erschrockenen Schrei aus. Niemand sollte sich so an einen Wüstendämon heranschleichen können. »Du bist also wieder da? Träume ich schon wieder?«
»Dies ist kein Traum.«
»Natürlich nicht.« Das hätte jede Traumfigur von sich behauptet.
»Sag mir, was du draußen siehst.«
»Ich kann nichts sehen, verdammt!«
»Du bist ein Magier. Sag mir, was du siehst.«
Heiße Wut mischte sich in seine Verzweiflung. »Was wisst Ihr denn über Magier, Großkönigin! Ihr seid eine Lichtgeborene, ein Kind der Götter – Euresgleichen verachtet alles Magische!«
Sie lachte leise. »Mein dummer Junge! Was ist der göttliche Funken in dir anderes als das Erbe der Götter? Was ist dein Wille anderes als die Macht der Götter, die Welt nach ihren Wünschen zu formen? Lichtgeboren zu sein oder ein Magier – das ist dasselbe.«
»Nein«, protestierte er, »nein, das ist nicht wahr!«
»Glaub einer alten Frau, die schon viel länger lebt als du. Ich sollte längst tot sein – ist es nicht das, was du über mich zu wissen glaubst? Dass ich ein Traum sei oder eine Ausgeburt deiner Fantasie? Denk über mich, was du willst, doch du bist hier, in meinem Rosenzimmer hinter der blauen Tür, und ich habe eine neue Kanne Tee auf meinem Tisch stehen. Meine liebe Schwiegerenkeltochter Lugbiya hat mir diesen Tee gekocht aus den Kräutern aus meinem Garten.«
»Lugbiya war die Gemahlin von Prinz Nerun. Sie ist tot.«
»Das ist sie, doch es spielt keine Rolle. Nicht in Kato. Hier geben sich Lebende und Tote die Hand. Mach die Augen auf, sieh, worauf es ankommt!«
»Ich kann nicht!«, rief er.
»Natürlich kannst du. Ich bin blind und sehe mehr als du. Wenn du es nicht versuchst, hast du schon verloren.«
Sie hatte ihn bei seiner Ehre gepackt. Also versuchte er es, obwohl nichts von dem, was sie sagte, für ihn einen Sinn ergab. Er öffnete sich, so gut er es vermochte. Zunächst nahm er die Welt mit seinen eingeschränkten Sinnen wahr – nicht das Tischchen und die Porzellantasse, doch er konnte den Duft der süßen, minzigen Kräuter riechen. Und er hörte die Katzen toben. Mit leisem Fauchen jagten sie einander durchs Zimmer.
Hören, riechen, fühlen, das waren seine natürlichen Sinne. Nun griff er nach der Magie und ließ sich auf das Gefühl ein, das seine Augen ersetzte, das ihn die Gegenstände ringsum erkennen ließ.
Er sah die Krähe tot zu seinen Füßen liegen. Schwarz, das Auge gebrochen, die Brust getränkt von Blut.
Der magische Sinn weitete sich, mit ihm erspürte Karim, dass es noch mehr gab. Und ihm wurde bewusst, dass er sich nicht in einem Traum befand, dass er keineswegs zugleich wachte und träumte, dazu war das, was er wahrnahm, viel zu wirklich.
Es waren zwei Räume, die sich an ein und demselben Ort befanden. In dem einen stand ein Bett aus geschmiedetem Eisen, ein Schaukelstuhl knarrte, von dem Blumenstrauß in der Vase fielen die Blütenblätter. Die Katzen konnte er nur hören, ebenso das leise Summen der alten Königin. Sie sang ein Lied, das er nicht kannte und das ihm doch seltsam vertraut war. Als hätte er geahnt, dass er es einmal hören würde.
In dem anderen Zimmer gab es nichts außer ihm selbst, seinen Ketten, einem Eimer, in Blut getauchte Tonscherben und einer toten Krähe. Der Wind pfiff durch die Fensteröffnungen. Mit wackeligen Knien stand er auf und trat an das Fenster, das ihm am nächsten war.
Er schloss die Augen, streckte seine Sinne aus und sah. Vom Turm aus blickte er auf die Wipfel der Bäume, die wie ein grünes Meer vor ihm wogten, und dahinter lag das Meer. Er wusste nicht, wie das sein konnte, aber er konnte das Meer sehen, die Wellen, die sich am Ufer brachen, die gerade Linie des Horizonts unter einem blaugrauen Himmel. Er sah, wie Nadeln aus dem Wasser ragten und den Horizont zerstachen, Nadeln, die sich entfalteten und sich beim Größerwerden in weiße Segel verwandelten. Es sah aus, als wären unzählige weiße Schmetterlinge auf dem Wasser gelandet. Es wurden mehr und immer mehr. Sie tauchten am Horizont auf, als würden sie langsam über eine Kante kriechen, und dann ergossen sie sich auf das Meer, eine endlose weiße Flut. Er sah zu und fühlte, wie ihm kalt wurde und ein Schauder seinen Rücken hinunterlief. Seine Hände krallten sich um die Brüstung. Der Wind, der die Schiffe auf ihn zutrieb, stach ihm wie spitze Nadeln ins Gesicht und ließ seine Augen tränen. Er riss sich von dem Anblick los und kehrte zu seiner Matte zurück.
»Was war das? Was sind das für Schiffe?«
Er erwartete nicht, dass Unya ihm antwortete. Eine Flotte aus dem Westen konnte nur eins bedeuten: Nehess sandte seine Soldaten in den Krieg gegen Le-Wajun.
»Oh ihr Götter!«, murmelte er. Er musste die Feuerreiter ausschicken, um die drohende Invasion aufzuhalten, doch wie sollte er sie erreichen?
Wie ein wildes Tier zerrte er an seinen Ketten, an seinem Helm. Dann hob er den Kopf – und vor ihm stand eine Frau. Er nahm sie so deutlich wahr, als könnte er sie tatsächlich sehen.
Sie schaute ihm direkt ins Gesicht. Er konnte das dunkle Blau ihrer Augen erkennen, ihr feines Lächeln. Ihr Haar war weiß, und sie schien ihm uralt, so alt wie die Erde selbst und wie der blaue Himmel und wie das Meer, dessen Wellen sich am Ufer brachen.
»Unya?«, fragte er verwirrt.
Nun war er ganz verrückt geworden. Dass er das Meer und die Schiffe sehen konnte war völlig unmöglich – selbst ohne Helm hätte der Blick von diesem Turm aus nie so weit gereicht. Doch dass er die ehemalige Großkönigin leibhaftig vor sich sah erschien ihm noch viel unmöglicher.
»Ich sehe dich«, sagte sie ehrfürchtig. »Ich sehe dich, mein Junge. Der erste Schritt ist getan.«
»Der erste Schritt?«
»Sagte ich dir nicht, dass du herkommen musst, hierher nach Kato? Du musst deine Ketten abwerfen und den Brunnen suchen, mein Junge. Denn das ist es, was du dir wirklich wünschst.«
»Ihr kennt mich nicht«, flüsterte er. »Wie könnt Ihr wissen, was ich mir wünsche?«
»Ich weiß alles über dich.«
Furcht keimte in seinem Herzen auf. Wenn sie ihn kannte, dann wusste sie auch, wer er war und was er getan hatte. Wenn das stimmte, dann schaute sie ihn an und sah die Metflasche in seinen Händen, den schönen, goldenen Met, in dem das tödliche Gift für den Großkönig lauerte. Sie sah Ruma in seinem Herzen und seine Mutter und Selas. Anyana. Sie sah seinen Hass und seine Verzweiflung und seine Liebe und die Schuld, die er auf sich geladen hatte. Worauf hoffte er? Dass sie ihn freisprach? Dass sie zu ihm, dem Gefangenen, sagte: ›Geh?‹ Aber sie lächelte nur, ganz leicht und vielleicht ein kleines bisschen spöttisch, und er dachte: Worüber beschwere ich mich? Dies ist der Turm, in den ich gehöre als Strafe für meine Verbrechen.
Aber dann dachte er an die Schiffe, die über das Meer kamen, um Anta’jarim zu erobern, und er rief: »Nicht jetzt! Lass mich später büßen, aber nicht jetzt! Ich kann nicht hierbleiben!«
Sie trat einen Schritt zurück, und dann war wieder alles dunkel, der Eisenhelm machte ihn blind. Seine dunklen Gefühle verdrängten die magische Sicht, und es war viel zu schwer, sich erneut darauf zu konzentrieren. Alles war schwärzeste Finsternis, in seinem Herzen dunkelste Verzweiflung, und er war verloren, denn Joaku war unterwegs.
Seine Fingernägel bohrten sich in den rauen Steinboden, eine Feder streichelte seine wunde Haut, und ein Gedanke traf ihn, dunkler als alles.
Die Krähe war noch nicht lange tot. Und er besaß immer noch das Bild. Er konnte es fühlen, die Rolle knisterte in seinem Wams. Man hatte ihn auf Waffen durchsucht, aber die Wüstendämonen hatten ihm die Urkunde seiner Verlobung mit Dilaya gelassen, hatten dem Dokument keinerlei Bedeutung beigemessen. Denn natürlich würde es nie zu dieser Hochzeit kommen. Gleichzeitig war es das Schriftstück, auf dessen Rückseite er Winyas Gesicht gezeichnet hatte.
»Tu das nicht«, sagte Unya, oder vielleicht waren es nur seine eigenen Gedanken, die Stimme seines Gewissens. Er konnte nicht mehr sehen, ob sie noch vor ihm stand oder längst gegangen war. »Das solltest du nicht tun, Karim. Du bist nicht wie sie. Du bist nicht wie Laon und wie Joaku und wie die Eisenmeister. Du bist mehr als die dunkle Magie Kanchars.«
Aber das stimmte nicht. Er war wie Joaku. Karim hatte die Hälfte seiner Kindheit in Jerichar verbracht, und die Wüste wohnte in ihm. Er war auf Eisenvögeln geflogen und auf Eisenpferden geritten, und er hatte mit Brandsteinen gespielt, ohne sich daran zu verbrennen. Er hatte die Sonne auf ihrem Thron ermordet. Was konnte es da noch ausmachen, eine tote Krähe zu nehmen und den Pfeil aus ihrer Brust zu reißen und sie wie ein Geschenk in den Händen zu halten? Wie konnte das noch schlimmer sein?
»Nein«, flehte Unya, »nicht. Das ist ein Fehler.«
»Ich habe keine Zeit«, sagte er. »Wenn Joaku kommt, wird er mir die Seele aus dem Leib schneiden und sie in eine eiserne Kammer sperren. Er wird mich in einen Eisenvogel pflanzen und mich weggeben, damit ich Kanchar diene.«
Die Katzen zerrten an seinen Schnürbändern. Der tote Vogel war warm. Wie lange kniete er schon hier auf dem Boden? Amanu hatte gerade erst den Raum verlassen, nichts war geschehen, er hatte mit niemandem geredet, und dass er die Schiffe aus Nehess gesehen hatte musste ein böser Traum gewesen sein.
»Ich helfe dir. Hab noch ein wenig Geduld. Du kannst sehen …«
»Ich bin blind!«, schrie er. »Ich sehe gar nichts!«
Vorsichtig legte er den toten Vogel auf den Boden und holte die knisternde Rolle hervor. Die Zeichnung war klein, sie bedeckte nicht das ganze Blatt. Er musste sie erfühlen, die winzigen Vertiefungen und Kratzer in dem Pergament, und die entsprechende Ecke abreißen und in die offene Brust der Krähe betten.
»Lass ihn frei«, bat Unya. »Lass ihn gehen, er war lange genug dein Gefangener.«
»Ich habe ihm Flügel gegeben«, murmelte Karim. Er sprach gegen die Stimmen der Dunkelheit an, gegen das warnende Wispern der Götter. Niemand war jemals dankbar. »Ich! Er wollte fliegen, und ich gab ihm Flügel!«
Ihm fehlten Nadel und Faden, um die klaffende Wunde zu schließen. »Seid still, Königin! Ich muss nachdenken.«
Eine Nadel. Er hatte keine Nadel, und hätte er eine gehabt, hätte er sie blind benutzen müssen. Fäden konnte er aus seiner Kleidung ziehen, doch was konnte er als Nadel zweckentfremden?
Unya seufzte leise. »Du törichter Junge.«
»Ihr kennt ihn nicht. Er will fliegen. Er muss fliegen.« Und da begriff er es: Er brauchte keine Nadel. War er nicht ein Magier? Er konnte mit seinem Willen einen Eisenvogel fliegen. Er war auch dazu fähig, den blutigen Leib eines echten Vogels zu beherrschen, die Wunde zu schließen, Fleisch und Muskeln zusammenzufügen. Er mochte blind sein, aber während er arbeitete, konnte er die magische Sicht wieder entfachen und sehen, was er tat, klarer als je zuvor. Es war nur ein kleines Loch in ihrer Brust, dennoch dauerte es lange, bis es geflickt war. Die Krähe zuckte mit den Füßen, mit den Flügeln, mühte sich, auf die Beine zu kommen. Dann schüttelte sie ihre Schwingen aus und begann sich zu putzen.
»Haltet Eure Katzen fern«, sagte er zu Unya.
Die Krähe flatterte hoch, taumelte gegen die Wand, gewann an Höhe, erreichte das Sims und flog davon, ohne sich umzusehen.
Den ganzen Tag lang bekam Karim weder zu essen noch eine Decke, um sich hinzulegen, und niemand erschien, um den Eimer zu leeren. Am Abend trieb ihn die Müdigkeit dazu, sich auf die kalten Steine zu legen, aber er konnte nicht schlafen. Die Kälte fraß sich durch seine Haut bis in die Knochen. Er stand wieder auf und beschloss, seine Zeit sinnvoll zu nutzen. Es musste ihm noch schneller und zuverlässiger gelingen, auf die Weise zu sehen, wie Unya es ihm gesagt hatte – mit der Kraft seines Willens nicht nur Gegenstände zu ertasten oder zu bewegen, sondern sie zu erkennen. Nach einer Weile weitete sich das Dunkel vor seinen Augen. Er stand im Turmzimmer. Kalter Wind wehte herein. Der Himmel war bewölkt, kein Mondgürtel und keine Sterne durchdrangen die dichten Regenwolken.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Unya. Ihr weißes Haar fiel ihr lang über die Schultern. Sie war barfuß, trug ein helles Nachthemd und darüber einen Mantel. In beiden Händen hielt sie ein Tablett.
»Nein«, sagte er. »Die Krähe ist nicht zurückgekehrt. Was habe ich mir erhofft? Dass sie mir den Schlüssel für die Ketten bringt? Es gibt keinen. Es gibt kein Entkommen aus diesem Turm.«
»Hier«, sagte sie zu ihm. »Ich habe dir ein Kissen und eine Decke bereitgelegt. Und Tee. Es ist kalt hier.« Sie stellte das Tablett ab und reichte ihm eine geblümte Porzellantasse, in der eine aromatische heiße Flüssigkeit dampfte. »Leider kann ich dir nichts zu essen bringen. Du bist nah, aber nicht nah genug. Wasser ist stets die Brücke, doch Brot wurzelt in seiner eigenen Welt.«
Während Bettzeug vermutlich mit Träumen verwandt war.
Das ist doch völlig absurd, dachte Karim und nahm das weiße, mit Rosenblüten bestickte Kissen entgegen. Er konnte es sehen: ein Kissen mit einer zarten Borte aus Spitze, das Kissen einer Königin. Es duftete nach Lavendel. Die Decke war so groß und dick gefüttert, dass sie die Kälte des Fußbodens von ihm fernhielt und er sich gleichzeitig würde hineinwickeln können. Auch sie war weiß und mit großen Blüten bestickt. Auf dem Tablett stand zudem eine Kerze, die ihnen beiden Licht schenkte.
Sie tranken gemeinsam den Tee. Es fühlte sich alles so wirklich an, dennoch war Karim davon überzeugt, dass es ein Traum war. Nur in einem Traum brachte eine uralte Großmutter einem Gefangenen Tee und bestickte Kissen. In der Wirklichkeit hätte ein Helfer ihm eine Strickleiter gebracht und echte Nahrung wie Brot oder Fleisch und Wasser zum Trinken. Aber wenn er schon träumte, warum dann nicht von einem Schlüssel?
Wo war der Dichter, wenn man ihn brauchte?
»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte er. »Einen Tag, zwei? Es fühlt sich so an, aber es muss länger sein. Ich fühle die Schwäche in meinem Körper. Sie hungern mich aus. Sie wollen mich am Boden wissen, bevor sie erneut einen Schritt in dieses Zimmer tun.«
»Vier Tage«, sagte Unya. »Es wird Zeit, aufzubrechen. Du musst den Brunnen finden oder du wirst verhungern.«
Sie bemerkte sein kurzes Zögern, bevor er den ersten Schluck nahm. »Keine Sorge«, meinte sie, »ich bin keine Giftmischerin.« Aber ihr Lächeln war leicht spöttisch, als wäre sie es doch. Trotzdem trank er. Denn wenn dies ein Traum war, was konnte es ihm schaden? Und wenn es keiner war, was vermochte er gegen eine Zauberin auszurichten, die in seinem Gefängnis erscheinen konnte?
»Ich schon, ich bin ein Giftmischer«, sagte er in seinem Traum, aber sie lächelte bloß. Er hatte das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Schließlich hatte er es sich nicht zur Gewohnheit gemacht, Leute zu vergiften. Doch das eine Mal lastete schwer auf seiner Seele. Es nützte nichts, sich einzureden, dass er kein gedungener Meuchelmörder war, weil er selbst kein Geld für seine Taten erhalten hatte. Joaku bezahlte keinen seiner Schüler. »Außerdem«, sagte er zu ihr, »hatte ich gute Gründe dafür.«
»Tatsächlich?«
Bei jedem anderen hätte ihn dieses Lächeln bis zur Weißglut gereizt, aber bei ihr hatte er das dringende Bedürfnis, gut dazustehen.
»Ja«, sagte er, »wisst Ihr das nicht? Wenn Ihr sonst alles zu wissen scheint?«
Etwas kratzte am Fenstersims, Federn streiften Stein. Die Krähe landete vor ihm auf dem Boden, in ihrem Schnabel ein Stück Brot. Es war ein herrlicher Anblick, doch er traute seiner magischen Sicht immer noch nicht ganz. Daher lachte er laut, als er seine Mahlzeit in den Händen spürte. Er lachte noch mehr, als er sie zwischen den Zähnen spürte, echtes, leicht angetrocknetes Brot. Nein, das war bestimmt kein Traum. Sein Magen schrie nach mehr, und die Krähe legte den Kopf schief und beäugte ihn.
»Sieh an«, meinte Unya.
»Er hasst mich nicht«, sagte Karim. Ihm war schwindlig vor Hunger und Schwäche und Erleichterung.
»Anscheinend lieben dich alle.« Die alte Großkönigin nippte an ihrer Tasse. »Sogar ich kümmere mich um dich, und die Götter haben einen Narren an dir gefressen. Wen wundert es, dass mein lieber Enkel dir treu ist, obwohl du ihn aus den Händen der Götter gerissen hast?«
»Ich brauchte einen Vogel, und er benötigte Flügel.«
Die Krähe flatterte hoch, zurück zum Fenster. Sie krächzte einmal, und Karim wünschte sich, er hätte seiner Dankbarkeit irgendwie Ausdruck verleihen können. Er hatte nichts zu geben. Hier als Gefangener konnte er nicht einmal versuchen, Anta’jarim zu retten, wenn das Meer die nehessische Streitmacht ans Ufer spülte. Nun, da das Brot sich als echt erwiesen hatte, war er sich sicher, dass auch die Schiffe, die er gesehen hatte, echt waren.
»Ich kann deine Taten sehen«, sagte Unya und nippte von ihrem Tee. »Aber in dein Herz können nur die Götter blicken.«
»Gehörst du nicht zu ihnen?«
Sie lachte. »Die Götter werden nicht alt und faltig. Ich bin durch die Türen gegangen, nach Kato und wieder zurück, deshalb weiß ich mehr als die meisten Menschen. Dennoch bin ich nichts als eine alte Frau.«
»Es fällt mir schwer, das zu glauben«, meinte er. »Warum nehmt Ihr mich nicht mit in Euer Rosenzimmer, dorthin, wo die Kräuter in Eurem Garten wachsen?«
»Durch die Tür kann ich nur mitnehmen, wen ich im Herzen trage.«
»Ach?« Sie erwartete offensichtlich nicht, dass er das begriff. Leider machte sie nicht einmal den Ansatz eines Versuchs, es ihm zu erklären.
»Die Magier, die noch übrig sind, schleichen um den Turm herum, als würde eine tödliche Krankheit von ihm ausgehen. Sie warten auf dein Ende.«
»Ich weiß. Was schlagt Ihr vor?«
»Du musst aus eigener Kraft durch die Tür gehen, sobald du so weit bist.« Er sah an ihrem ernsten Gesicht, dass sie keine Scherze machte. Das Lächeln war verschwunden. »Es kommt auf deine Stärke an, nicht auf meine. Vielleicht schließe ich dich ja so sehr ins Herz, dass ich dich von hier mitnehmen kann, aber ich bezweifle es, in Anbetracht der Dinge, die du getan hast. Also geh selbst.«
Dazu konnte Karim nichts sagen. »Ihr wollt mich also mit Tee am Leben halten?«, fragte er schließlich. »Nicht dass er nicht schmecken würde. Es ist ein sehr guter Tee, den ich durchaus zu schätzen weiß. Wann werdet Ihr mir sagen, wer Ihr wirklich seid? Unya von Wajun war Großkönigin vor – zweihundert Jahren etwa?«
»Du kennst die Jahreszahlen auswendig? Die Galerie der Großkönige, in die du so gerne eintreten möchtest! Wenn das wirklich der Wunsch ist, der dich umtreibt, und nicht ein anderer, den du dir nicht eingestehen kannst.«
»Ihr könnt nicht die Unya sein«, sagte er. »Sie beendete ihre Herrschaft als Sonne von Wajun vor einhundertsechsundneunzig Jahren, als ihr Mann starb. Erwartet nicht, dass ich das glaube.«
»Ich würde nie behaupten, dass ich über zweihundert Jahre alt bin.« Sie lächelte wieder. »Nun, Karim, ich werde dich jetzt allein lassen. Schlaf gut.« Sie nahm ihm die leere Tasse ab und stellte sie auf ihr Tablett. Dann stand sie auf.
»Warte!«, rief er noch einmal. »Was ist mit den Schiffen?«
»Welchen Schiffen?«
»Die Angreifer. Die Schiffe aus Nehess. Ich muss Edrahim warnen! Er muss endlich begreifen, wie dringend es ist.«
Sie blickte ihn beinahe verwundert an. »Es ehrt dich, mein Junge, dass du das nicht vergessen hast. Vielleicht werde ich dich mit der Zeit doch noch mögen.«
Ihre Güte erschütterte ihn, seine Konzentration ließ nach, und nun starrte er wieder in die Dunkelheit unter dem Helm. Vielleicht hatte sie ja auch die Kerze ausgeblasen und war im Schutz der Finsternis durch die Tür verschwunden, lautlos durch jahrelange Übung? Unya. Er schüttelte den Kopf. Entweder sie log, oder ihn hatte ein Gespenst besucht. Aber welches Gespenst verlieh blütenweiße Kissen und Decken, die ganz offensichtlich auf das Bett einer lebendigen Frau gehörten? Bevor er einschlief, fragte er sich noch, womit sie sich jetzt wohl zudeckte, und ob sie sich nicht erkälten würde, so alt und gebrechlich wie sie war.
Gegen Morgen, als die Dämmerung schon feucht und kalt durch die Turmfenster kroch, weckte ihn die Krähe. Diesmal hatte sie ihm ein Stück Schinken gebracht.
»Edrahim warnen«, murmelte Karim verschlafen. »Wir müssen ihn warnen, du und ich.«
Edrahim fuhr hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Dann blickte er in das Gesicht seiner Frau Sira, die ihn an der Schulter gefasst hatte.
»Ich halte das nicht mehr aus«, sagte sie.
»Was ist passiert?« Er befühlte sein Gesicht, das, was die Vögel davon übrig gelassen hatten. Zu seiner Erleichterung war alles noch da. Die Augen. Die Nase. Die Wangen. Der Bart kräuselte sich um sein Kinn. Sein Gesicht war wie ein alter Freund, den er nach langer Zeit wiedergefunden hatte. Er strich sich zärtlich über die Haut, die heil war und nicht blutete.
»Du weckst das ganze Schloss mit deinen Schreien!«, rief Sira. »Unternimm doch endlich mal was dagegen! Frag deine Ärzte. Nimm einen Schlaftrunk. Fahr zur Erholung ans Meer. Aber hör endlich damit auf!«
»Du bist es, die hier schreit«, murmelte er. Der Albtraum steckte ihm noch in den Knochen.
»Sie reden schon über dich«, sagte sie und bemühte sich sichtlich um Fassung. »Sie stellen sich die Frage, ob du das Gesicht hast. Und ich stelle mir diese Frage langsam auch.«
Er und das Gesicht? Das war lächerlich. »Das ist doch Unsinn. Ich träume schlecht. Jeder hat ab und zu dunkle Träume.«
»Aber nicht jede Nacht. Und nicht jeder schreit dabei so laut, dass niemand mehr schlafen kann. Bei den Göttern, Edrahim, das muss ein Ende haben!«
Etwas war am Fenster, klopfte von außen gegen die Scheibe. Er blickte auf, und auf dem Sims hockte das Grauen: ein Vogel, die Flügel weit ausgebreitet, das Auge, oh ihr Götter, ein böses, wildes Auge schaute ihn an! Edrahim schrie, er schrie sich die Seele aus dem Leib.
»Es ist nur eine Krähe. Ich verscheuche sie, wenn sie dir solche Angst einjagt.« Sira stieg aus dem Bett und tappte zum Fenster.
Er wollte sie zurückhalten, er musste eingreifen, bevor etwas Schreckliches passierte, doch da stand Sira schon vor der Scheibe und öffnete das Fenster. Die Krähe blieb auf dem Sims sitzen. Sie stieß ein raues Krächzen aus, legte etwas in Siras Hand und warf sich dann in die Luft.
»Was?«, schrie Edrahim. »Was hat sie dir gegeben?«
»Einen Brief, wie es scheint.«
»Bei den dunklen Schwestern«, wisperte er.
»Beruhige dich, mein Lieber, jemand wird den Vogel gezähmt und abgerichtet haben.« Sie entrollte das Schreiben, ein zerrissenes Stück Pergament. Selbst vom Bett aus ließ ihn die dunkelrote Schrift schaudern.
»Mit Blut? Wer schreibt mir mit Blut?«
Sira ließ das Schreiben sinken. Sie war blass geworden, die aufgesetzte Fröhlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden. »Hier. Lies selbst.«
Mit zitternden Händen fasste er nach dem Blatt. Er konnte das Blut riechen, mit dem die Buchstaben geschrieben worden waren, aber er konnte die Botschaft nicht glauben.
»Nehess ist unterwegs – mit einer gewaltigen Flotte? Wer behauptet das?«
Der unbekannte Schreiber hatte nicht mit seinem Namen unterzeichnet, doch mit untrüglicher Gewissheit wurde Edrahim klar, wer dahintersteckte. Als hätte er etwas Giftiges berührt, ließ er das Pergament fallen.
»Kammerdiener!«, bellte er. »Meine Kleider!«
Es war noch früh, die Sonne hatte sich gerade erst auf ihren Weg über den Horizont gemacht, und sein Diener brauchte eine Weile, um ins Zimmer zu stolpern. Seine wirren grauen Haare waren ungekämmt, das Hemd nicht ordentlich in der Hose. An jedem anderen Morgen hätte Edrahim ihm dafür eine Ohrfeige verpasst, doch heute hatte er keine Zeit, sich mit seinem Untergebenen zu befassen. Sein Atem ging immer schneller, während er sich ankleiden ließ, dann stürzte er, die Schnürbänder seiner Tunika noch offen, in den Flur hinaus.
»Magier!«, schrie er. »Magier, zu mir!«
Amanu, der Sprecher der wajunischen Magier, die Tenira ihm zur Verfügung gestellt hatte, musste wohl hinter seiner Zimmertür gewartet haben, denn sofort öffnete sich eine der Türen auf dem Gang, und der Mann in dem dunklen Mantel trat heraus. Die Kapuze verbarg sein Gesicht. Edrahim konnte den Kerl nicht ausstehen, weder seinen schleichenden Gang noch seine heisere Stimme.
»Der Gefangene!«, blaffte er ihn an. »Er schreibt Briefe, erklärt mir das! Was sagt Ihr dazu?«
»Ein Brief, Hoheit, an Euch?«, fragte der Magier.
Sie schlichen um ihn herum, diese verfluchten Zauberer, und flüsterten in den Nischen. Edrahim traute ihnen nicht, und doch verdankte er ihnen, dass er immer noch auf dem Thron saß. Die Rebellen attackierten ihn mit ärgerlicher Hartnäckigkeit, und die Magier hatten ihm mehr als einmal das Leben gerettet.
»Ja, verdammt!«, schrie er. »Ist er nicht blind? Ist er nicht gefesselt? Geht und seht nach, was er da oben im Turm treibt!«
Amanu stieß ein Zischen aus. Es war eine Erleichterung zu erfahren, dass er solche menschlichen Empfindungen wie Ärger kannte.
»Nun geht, geht endlich! Und sagt mir, wann der Meister, auf den wir warten, hier eintrifft. Wann ich diesen Kerl endlich loswerde! Sonst werfe ich ihn eigenhändig aus dem Turmfenster!«
»Was hat er geschrieben?«, wollte der Magier wissen, statt sofort die Beine in die Hand zu nehmen und zum Turm zu eilen.
»Dass Nehess an unserer Küste anlandet, um unser Land einzunehmen. Was für ein Unsinn!«
»In der Tat«, sagte der Mann leise, »nichts als eine Lüge, der Ihr hoffentlich keinen Glauben schenken werdet.«
»Natürlich nicht«, sagte Edrahim, obwohl die Sorge, Prinz Karim könnte recht haben, an ihm nagte. Immerhin war sein Gefangener nicht irgendwer. Vor Kurzem erst war er in Daja gewesen, im Zentrum der Kämpfe. Wenn jemand wie dieser Prinz ihn vor Nehess warnte, musste er das nicht ernstnehmen?
»Er will Euch nur dazu verleiten, dass Ihr mit ihm reden wollt. Löst seine Fesseln und lasst ihn herbringen, und er wird Euch ins Gesicht lachen und entkommen, ganz gleich, mit wie vielen Soldaten Ihr Euch umgebt. Und falls Ihr daran denkt, zu ihm nach oben in den Turm zu steigen, muss ich Euch warnen, Hoheit. Ihm reicht ein Strohhalm aus seiner Matratze, um Euch ein Auge auszustechen, ein Feder, die der Wind hereingeweht hat, um Euch ersticken zu lassen.«
Ein Frösteln lief Edrahim über den Rücken. »Und wie haltet Ihr ihn am Leben?«
»Gar nicht«, sagte Amanu. »Nun kommt es darauf an, wie schnell der Meister reist. Ich habe sämtliche Zugänge zum Turm sperren lassen, um jede Hilfe von außen zu unterbinden. Prinz Karim ist zäh, es ist nicht gesagt, dass er stirbt.«
»Kann es ihm gelingen«, Edrahims Stimme bebte, »sich seiner Ketten zu entledigen?«
»Natürlich. Er ist ein Magier.«
»Und wenn … und wenn er herauskommt? Hierher, in mein Schloss? Werdet Ihr mich dann beschützen?«
Der Mann stieß ein Schnauben aus, dass Belustigung bedeuten mochte. »Dann kann Euch niemand beschützen, Hoheit.«
Wie sehr Edrahim seinen Fehler bereute! Er hätte nie auf das Ansinnen der Magier, den Gefangenen am Leben zu lassen, eingehen dürfen. In jener Nacht, als er und diese verdammte Dilaya hier eingedrungen waren, war der Prinz von Daja in ihrer Gewalt gewesen. Edrahim hätte dafür sorgen müssen, dass dieser verfluchte Rebellenfreund sofort starb. Dann hätte er einen Grund zur Sorge weniger. Stattdessen wurden die fürchterlichen Albträume immer schlimmer. Sira war endgültig in ein anderes Schlafzimmer umgezogen. Und alle seine Diener und Wächter und Edelleute schienen ihn mit merkwürdigen Blicken zu verfolgen.
»Dieses Haus verlangt ein Opfer«, murmelte er, während er auf dem Thron saß und zwei Männern zuhörte, die es nach königlicher Gerechtigkeit verlangte. Worum es ging, hatte er bereits vergessen. Seine Gedanken waren woanders, sie wirbelten wie schwarze Federn durch die Luft.
»Bitte, Hoheit?«, fragte einer der Bittsteller.
Er lächelte versonnen. »Das würdest du doch nicht verstehen.«
Wenn diese Mauern so auf Blut und Schmerz aus sind, sollen sie es haben. Nehmt ihn. Bitte, nehmt ihn euch endlich. Edrahim dachte an den Gefangenen. Er stellte sich vor, wie er auf dem kahlen, kalten Boden lag und der Wind durch die Turmfenster fuhr, eine Armee aus Schnäbeln und Krallen. Holt ihn euch. Er erfreute sich an der Vorstellung, wie der geschwächte, verletzte, dahinsiechende Prinz hoffnungsvoll wartete, dass jemand kam und ihn rettete.