13. Wege durch Mauern

Karim stand am Fenster und fühlte den Wind im Gesicht. Dort draußen glitten die Schiffe über das Wasser und schmückten das Meer mit ihren Fahnen. Wind blähte die Segel, doch sie schienen sich kaum von der Stelle zu bewegen.

Lehnte Karim sich weiter vor, soweit die Ketten es zuließen, bis er aus einem der anderen Fenster blicken konnte, sah er jemanden auf einem der Dächer sitzen. Goldene Locken blitzten unter einem übergroßen Hut hervor. Der Anblick ließ ihn erschauern.

»Guten Morgen, Karim.«

Er drehte sich zu Unya um und lächelte. »Ihr seid früh wach.«

»In meinem Alter braucht man nicht mehr viel Schlaf.«

Sie hatte wieder ein Tablett dabei, welches sie nun auf den Boden stellte, neben das halbe Brot, das die Krähe ihm an diesem Morgen gebracht hatte. Unya reichte ihm eine Teetasse. Er fühlte ihren Blick auf sich, während er das Brot aß.

»Wie sehe ich aus?«, fragte er. »Wild, hungrig und verzweifelt?«

»Du bist jung und stark. Verzweifelt siehst du nicht aus, aber wild – ja, wild könnte passen.«

Er berührte sein stoppeliges Kinn. »Entschuldigt, dass ich keinen angenehmeren Anblick biete.«

»Heute wirst du dieses Zimmer verlassen«, sagte sie in einem Befehlston, der keinen Widerspruch erlaubte.

»Wenn Ihr meint, Königin.«

»Erzähl mir von deiner Mutter«, sagte Unya.

»Nein, das werde ich nicht.«

»Erzähl mir von ihr, Karim. Ich möchte verstehen, warum du die Dinge getan hast, die dich bis hierher gebracht haben. Hat Laon dich dazu angestiftet? Oder war es der dunkle Meister, der sich sogar aus meinen Träumen stiehlt und immerzu unsichtbar bleibt?«

Er wollte nicht antworten. Mit einer Traumgestalt hätte er reden können, doch er glaubte schon lange nicht mehr, dass er sich seine ungewöhnliche Besucherin ausgedacht hatte. »Zeig mir, wie ich hier fortkomme. Die Zeit drängt!« Die Feuerreiter in Guna. Der Thron in Wajun. Tenira auf dem Rückweg. Joaku, der seine Seele vernichten wollte.

»Tut sie das?«, fragte Unya sanft.

Die Schiffe. Laikan. Dinge verschoben sich. Er dachte an Winya, an die Krähe, an die Schlacht von Daja.

»Wie kann Nehess so schnell hier sein? Ich bin mit einem Eisenvogel geflogen, aber Laikan hat nur ein Pferd. Und selbst wenn er ein Eisenpferd gehabt hätte, könnte er es niemals in nur ein paar Tagen geschafft haben, nach Hause ins Sultanat zurückzukehren und mit einer Flotte aufzubrechen. Ist das, was ich sehe, nur ein Traum, obwohl es mir so wirklich vorkommt? Wird es in der Zukunft passieren? Oder passiert es jetzt?«

Mitleid lag in ihrem Blick. Zu viel Mitleid. Warum konnte sie ihn überhaupt sehen? Hatte sie ihm nicht erzählt, sie sei blind? Was hatte er noch vergessen? Seine Hand fuhr an sein Kinn, an den Bart, der viel zu lang war.

»Wie lange bin ich schon hier? Ich muss gehen, sofort!«

»Du kannst sehen trotz des Helms, und du blickst aus dem Fenster trotz deiner Ketten. Aber um durch die Mauern zu gehen, musst deine Seele leicht sein. Erzähl mir von deinen Eltern.«

Aber er konnte nicht. Der Name seines Vaters wollte ihm nicht über die Lippen kommen, und der Gedanke an seine Mutter, die vor seinen Augen ermordet wurde, war eine einzige Qual.

Unya drängte ihn nicht. Ruhig sammelte sie das Geschirr wieder ein. Bevor sie verschwand – er konnte nie sehen, wie oder wohin –, warf er ihr noch eine Frage nach: »Warum sehe ich Prinz Winya auf dem Dach?«

»Prinz Winya ist tot«, sagte Unya. »Das weißt du von allen am besten, Hüter seiner Seele.«

»Warum sehe ich ihn dann?«

»Du siehst ihn nicht«, verriet sie ihm. »Du blickst nicht auf das Dach, wie es jetzt ist, sondern wie es einmal war. Du schaust durch dieses Fenster in eine Zeit, die vergangen ist.«

»Und die Schiffe, was ist das? Die Zukunft? Oder die Gegenwart? Bitte, sagt mir, kommen sie nun oder nicht?«

In ihren Augen stand Mitleid. »Sie sind schon da.«

Fast den ganzen Tag verbrachte Karim am Fenster und sah hinaus. Er beobachtete, wie die Schiffe in die Bucht einliefen, wie die Nehesser die Beiboote zu Wasser ließen, wie sie an Land ruderten, Ladungen voller breitschultriger Männer mit wettergegerbter Haut. Er hörte, wie sie miteinander redeten in einer Sprache, die er nicht verstand. Sie lachten einander zu. Einer stand groß und ernst am Ufer, während ein Boot nach dem anderen anlegte. Er lächelte nicht. Seine Augen waren groß und dunkel, und sein Gesicht hob sich gegen den grauen Himmel ab wie aus Stein gemeißelt. Prinz Laikan überwachte, wie seine Armee das Ufer betrat, wie sie sich ausbreitete, eine endlose Schar von Feinden mit grimmigen Gesichtern.

Karim blickte über den Strand hinweg, aber nach Edrahim suchte er vergebens. Kein einziger Soldat des Königs stellten sich den Nehessern in den Weg.

»Was siehst du?«, fragte Unya.

Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Seht Ihr es nicht? Den Strand? Die Armee aus Nehess? Da, es nähern sich Reiter vom Landesinneren her! Ihr wisst doch sonst immer alles.«

»Es kommen niemals die gleichen Träume zu den Menschen. Das solltest du wissen, Karim. Wir sehen niemals dieselben Dinge.«

»Das ist kein Traum«, widersprach er hitzig. »Ich sehe, wie Prinz Laikan, der einmal mein Freund war, seine Leute befehligt. Wie sie sich formieren gegen die Reiter, die gerade über die Dünen kommen. Es sind keine Soldaten, sie tragen keine Uniformen. Nein, das sind nur einfache Bürger aus Rack-am-Meer, bewaffnet mit Lanzen und Heugabeln, mit Armbrüsten und Harpunen. Da, die Nehesser treten ihnen entgegen, ein Reiter fällt, reißt einen anderen mit sich! Die Pferde sind verletzt, doch es sind die Menschen, die schreien. Hört Ihr das nicht? Warum muss ich das alles sehen? Ich müsste dort sein. Das ist eine Schlacht, in der ich kämpfen sollte, Unya! Das ist auch mein Krieg. Ich kann nicht hier stehen und Tee trinken und zusehen, wie sie alle sterben!«

»Anta’jarim ist nicht dein Land«, sagte Unya. »Gönnst du deinem Freund nicht eine kleine Eroberung?«

»Verdammt, nein!«, rief Karim. »Das ist mein Land!«

»Ach ja?« Sie sah ihn von der Seite her an, mit diesem wissenden Blick, den er nicht ertrug. »Du bist ein Kancharer. Du hast hier nichts verloren.«

»Laon ist nicht mein Vater!«, rief er. »Wie Ihr sehr wohl wisst.«

»Kannst du den Namen nicht aussprechen, Karim?«

Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Schließlich sagte er es doch, leise, wie man ein Geheimnis preisgibt: »Tizarun.«

»Du musst schon lauter sprechen. Ich bin eine alte Frau, ich höre nicht mehr so gut.«

»Tizarun!«, rief er. »Tizarun war mein Vater, und ich bin sein Erbe!«

Unya schwieg dazu. Sie schaute an seiner Seite aus dem Fenster auf den Wald, der sich hinter der Wiese erstreckte, grün bis zum Horizont.

Seine Stimme war unfähig, das Unaussprechliche in Worte zu fassen.

»Und wenn er es bereut hat?«, fragte sie leise.

»Das könnt Ihr nicht ernst meinen. Seine Seele war schwarz wie Pech.«

»Was man nicht heilen kann, ist oft das, was man am meisten bereut«, sagte Unya. »Hast du jemals darüber nachgedacht, dass es ein Fehler war, was du getan hast?«

»Es war kein Fehler«, meinte Karim trotzig. »Es musste sein. Er musste dafür bezahlen.«

Unya seufzte. »Ohne zu wissen, wofür er starb?« Sie trat vom Fenster zurück. »Ich habe dir deinen Tee gebracht. Geredet haben wir für heute wohl genug. Ich hatte gehofft, du wärst endlich so weit, diesen Turm hinter dir zu lassen. Offenbar habe ich mich getäuscht.«

Sie verschwand, und er starrte weiter aus dem Fenster. Prinz Laikan war dabei, ein Lager am Strand zu errichten. Die Verteidiger hatten sich in den Wald zurückgezogen und schickten Boten zum Schloss.

Untätig musste Karim dabei zusehen, wie die Feinde immer näher heranrückten. Wie sie durch den Wald zogen, eine Armee ohne Gnade. Sie brannten die Dörfer nieder, durch die sie kamen. Sie metzelten nieder, wer sich ihnen in den Weg stellte. Die Verteidiger griffen immer wieder an, aber es gelang ihnen nicht, den Marsch für länger als einen Tag aufzuhalten. Der König sammelte in Panik seine Soldaten um sich, aber er war noch zu weit entfernt, um eingreifen zu können.

Karim sah den Hirsch, noch bevor Prinz Laikan ihn bemerkte. Ein großes, stattliches Tier mit einem mächtigen Geweih stand mitten auf dem Weg und blickte den Männern ruhig entgegen. Seine schwarzen Augen zeigten keine Angst. Er sprang nicht fort. Er stand da, ein Hindernis auf einem Weg, der direkt ins Herz von Anta’jarim führte. Karim sah ihn dort stehen, und Liebe zu diesem wundervollen Geschöpf erfüllte ihn. Das samtbraune Fell wurde vom Sonnenlicht gesprenkelt, das durch das Blätterdach fiel. Auf seinem Rücken tanzte ein Geflecht aus Licht und Schatten.

Prinz Laikan hob die Armbrust. Daraus werden Albträume wachsen, dachte Karim. Er wird ihn töten, und im Wald werden die Schrecken umgehen, und Träume werden die Nacht bevölkern, dunkel und entsetzlich. Der rote Hirsch wird von den Fahnen verschwinden, und die Menschen werden durch die Wälder irren, ohne Ziel, hilflos wie mutterlose Rehkitze.

Laikan legte an. Doch im letzten Moment, als der Bolzen schon flog, sprang der Hirsch vom Weg. Leichtfüßig machte er einen Satz ins Dickicht und verschwand im Dunkel unter den hohen Baumkronen.

»Verdammt«, sagte der Prinz.

Und Karim, der atemlos zugesehen hatte, fühlte, wie Erleichterung und Hoffnung ihn durchfluteten.

Er wandte sich wieder seinem Gefängnis zu und blickte sich um, als könnte er darin etwas Neues entdecken. Schließlich bückte er sich nach dem Bettzeug und begann daran zu zerren in der Hoffnung, einen langen Streifen abreißen zu können. Ich hätte Unya um eine Stoffschere bitten sollen – oder um ein Seil, dachte er. Doch dann hörte er, wie das dünne Tuch unter seinen Händen riss, er sah, wie die Fäden auseinandergingen, wie ein Loch nach dem anderen sich auftat. Die gestickten Rosen zerfielen, als welkten sie zu Staub. Die Federn darunter stiegen auf wie kleine, verwirrte Vögel. Sie verteilten sich über den Boden und ließen sich dann vom Wind hochtragen zu ihren ersten freudigen Flugversuchen.

Wie gelähmt saß Karim auf dem kalten Steinboden, und um ihn herum wirbelte alles wie in einem Schneesturm. Ihm war kalt wie nie zuvor. Er dachte an einen Hirsch, der angeschossen ins Dickicht getaumelt war, und an einen anderen Hirsch, der kraftvoll zurück in den Wald sprang, siegessicher. Und er fragte sich, was er eigentlich hier in Anta’jarim tat.

»Aber Karim.« Unya schüttelte den Kopf, ihre Stimme klang enttäuscht.

Gereizt sagte er: »Dachtet Ihr wirklich, ich würde es nicht zumindest versuchen?«

»Ich habe gehofft, du würdest mir vertrauen.«

»Das war nur eine Decke«, verteidigte er sich trotzig.

»Ja, aber deine einzige.« Sie seufzte, als sie sich zu ihm setzte. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, dann streckte sie die Hand aus und fing eine der Federn, die durch die Luft schaukelten. »Du hast keine Geduld. Warum nicht? Mit etwas mehr Geduld wärst du schon längst am Ziel. Hat der Meister des Todes euch nicht Geduld gelehrt?«

»Laikan kommt immer näher«, sagte Karim. »Er wird dieses Schloss einnehmen. Edrahim ist völlig unfähig.«

»Ja, vermutlich.«

»Wie, Ihr wisst es nicht?«

Sie schaute ihn an, traurig. »Wenn ich alles wüsste, was geschieht, dann, glaub mir, wären viele Dinge nicht geschehen. Glaubst du nicht, ich wäre da gewesen an jenem Tag des Feuers, um sie zu retten, wenn ich es vorher gewusst hätte?«

Er schwieg. Über die Königsfamilie von Anta’jarim sprach er nicht freiwillig, von jener Nacht der Schrecken und von dem Entsetzen, das damals in seinem eigenen Herzen geboren wurde.

»Du siehst gar nicht mehr aus den anderen Fenstern«, stellte Unya fest. »Immer nur aus dem einen.«

Karim war froh, über etwas anderes reden zu können. »Ja«, sagte er heftig, »ich sehe lieber zu, wie die Gefahr näher und näher kommt, wie Laikans Armee durch die Wälder pflügt, wie sie uns überrennt – und ich will bei denen sein, die sich ihr entgegenstellen. Könnt Ihr das nicht verstehen?«

»Dass du den Heldentaten nachtrauerst, die dir entgehen?«

Diese Unterstellung erschreckte ihn zutiefst. »Hasst Ihr mich?«, fragte er betroffen.

Unya schüttelte wieder den Kopf. »Wäre ich sonst hier?«

Er zögerte. »Ihr sagtet einmal, Ihr könntet mich aus meinem Gefängnis nach Kato bringen, wenn ich in Eurem Herzen wäre. Aber das ist offensichtlich nicht der Fall, oder Ihr hättet es zumindest versucht. Wie also seht Ihr mich?« Er fürchtete sich vor ihrer Antwort. Sie kannten sich jetzt schon so lange – nichts war ihm jemals länger vorgekommen als die vergangenen Wochen –, und Unya hatte ihn nicht wenigstens ein bisschen in ihr Herz geschlossen? Nur ein klein wenig?

»Das willst du wirklich wissen?«

»Doch, das will ich.« Bewusst überhörte er den warnenden Unterton in ihrer Stimme. Dann musste er es aushalten, dass sie ihn lange betrachtete.

»Du bist ein hübscher Junge«, sagte Unya schließlich. »Und dazu einer, dem das bewusst ist. Ich bin mir sicher, dass du mit einem einzigen Blick deiner schwarzen Augen die Mädchenherzen zum Schmelzen bringen kannst. Du hast eine angenehme Stimme und ein höfliches Auftreten. Ja, du bist sehr charmant, Karim. Charmant und klug und sicherlich auch mutig auf deine Art. Ehrgeizig. Hartnäckig. Du verfolgst dein Ziel, auch wenn es Jahre dauert, es zu erreichen, und dabei verlierst du niemals dein freundliches Lächeln.«

»Ist das alles?«

»Leider ist das für dich schon alles.« Sie blickte ihn sehr ernst an. »Denn das ist, wie du dich siehst, Karim.«

Er schluckte. Das Bild, das sie von ihm zeichnete, war beschämend falsch. Er war kein charmanter, freundlicher Junge.

»Aber ich«, sie beugte sich vor, »ich sehe einen anderen Karim. Ich sehe einen Mann, der so von Hass zerfressen war, dass er seinen eigenen Vater hinterrücks ermordete. Einen Mann, der es in Kauf nahm, dass ein Unschuldiger, sein Herr, dem zu dienen er geschworen hatte, für dieses Verbrechen büßen musste. Einen, dessen Intrigen zum Krieg zwischen Königreichen und Kaiserreichen geführt haben und der die Flammen entzündet hat, in denen meine Kinder und Kindeskinder umgekommen sind. Ich glaube, dass du deshalb nicht mehr durch dieses andere Fenster hier blickst, weil ich dir gesagt habe, dass es wirklich Winya ist, den du hier sehen kannst, und du willst ihn nicht sehen. Du willst nicht sehen, was du zerstört hast, denn du kannst dem, was du getan hast, nicht ins Auge blicken.

Ich sehe einen Mann, dem weder Treue noch Ehre etwas bedeuten, der nichts verfolgt außer seinen eigenen Zielen, der so zerfressen ist von Gier, dass ihn nur noch seine Verkettung in eine unglaubliche Verschwörung am Leben hält. Es ist der Hass, Karim, der dich leben lässt. Und immer noch ist es Tizarun, den du hasst. Es ist dir nicht gelungen, ihn auch in dir zu töten. Ich sehe einen Mann, der längst ein Mann sein sollte, der aber wie ein Kind Lust am Krieg verspürt und der sich am Untergang anderer befriedigt. Einen, der hin- und hergerissen ist zwischen seinen eigenen dunklen Wünschen und zwischen den Plänen des ruhmsüchtigen Herrschers, dem er hörig ist wie ein Hund. Ich sehe ein Kind, das die Hände nach einer Krone ausstreckt, nur weil sie so schön glänzt. Ich sehe einen gewissenlosen Mörder und Verräter, der nichts liebt außer sich selbst.«

»Nein, das ist nicht wahr!«

Ausgerechnet jetzt musste er an Ruma denken. Er hatte seine Schwester an Liro verkauft, obwohl er gewusst hatte, wen sie liebte. Das brachte ihn zum Schweigen.

»Deshalb bist du nicht in meinem Herzen«, fuhr Unya unerbittlich fort. »Ich sehe dich an und denke daran, wie diese Welt aussehen könnte, wenn es dich nie gegeben hätte.«

Fragt Tizarun, warum es mich gibt. Aber er sagte es nicht, er biss die Zähne zusammen und schwieg. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken. Er wollte sich verteidigen, gegen jeden einzelnen ihrer Vorwürfe, aber er konnte nicht, denn sie hatte recht.

»Wäre es Euch lieb, wenn ich jetzt aus dem Turm springe?«, fragte er bissig.

Da spürte er ihre Hand auf seiner Schulter.

»Es wird bald wieder besser.« Wie viel Wärme sie in ihre Stimme zu legen vermochte, obwohl sie ihn doch so sehr verachtete.

Ein Schauder lief über seinen Rücken. »Warum tut Ihr dann all das für mich?«

»So lange mein Leben auch schon währt, und so viel ich auch erlebt und gelernt habe, es hat mir nicht dabei geholfen, die zu retten, an denen mir etwas lag. Aber ich kann wenigstens dich retten.«

Wenigstens dich. Jedes ihrer Worte fühlte sich an wie ein glühendes Messer. »Vielleicht bereut Ihr das noch«, warf er ihr hin. »Was wisst Ihr, was ich noch alles anstellen werde. Wenn Ihr mir schon vorwerft, dass ich die ganze Welt zerstört habe! Oder«, er hob den Kopf, »oder wisst Ihr, was ich noch tun werde?«

Er konnte nichts aus ihrem alten, faltigen Gesicht herauslesen. Sie ließ ihn im Unklaren darüber, was sie wusste und ob sie sein Schicksal kannte.

»Trink deinen Tee«, befahl sie, »ich will die Tasse wieder mitnehmen.«

Er wollte sagen: Ich hab keinen Durst, nimm deine Almosen wieder mit!, aber das wäre gelogen gewesen, und deshalb trank er gehorsam und sah Unya dabei nicht an.

Sobald sie fort war, trat er an das mittlere Fenster. Er erwartete, Winya draußen zu sehen auf seinem Platz auf dem Dach, schreibend, nachdenkend, die Beine über dem Abgrund baumelnd. Stattdessen sah er ein Mädchen. Sie spazierte über den First, konzentriert nach vorne blickend wie eine Seiltänzerin, ihr Lächeln voller Anspannung. Ihre Arme waren zu beiden Seiten ausgestreckt. Vorsichtig das Gleichgewicht haltend, balancierte sie über das Dach, hoch über den Dächern des Schlosses, weit über der Erde, die sich tief unter ihr im Ungewissen verlor. Ihre Haut war hell, fast weiß, und ihr Haar flammte rot über ihren Rücken, eine Flut von Haar wie ein Brand. Es spielte über ihre Arme wie Feuerzungen und leckte an ihren Wangen, und Karim wollte rufen: Pass auf, es brennt wirklich, pass doch auf! Aber er rief nicht. Vielleicht war sie eine Schlafwandlerin, die träumend, ohne zu wissen, wo sie war, über die Dächer kletterte. Doch als sie sich umdrehte, war ihr Blick klar und das Lächeln auf ihren Lippen triumphierend. Sie wusste genau, welches schwierige Kunststück sie dort bewältigte.

Er musste sich daran erinnern zu atmen. Anyana war so jung wie damals, wie das Mädchen, an das er sich erinnerte. Und so lebendig wie in jenem Sommer. Wenn dies ein Traum war, wollte er niemals aufhören, ihn zu träumen. Er wollte applaudieren, ihr zurufen, wie geschickt und tapfer sie war, und sie dann dazu überreden, wieder herunterzukommen und ihr Talent an etwas anderem, weniger Gefährlichem zu versuchen. Er würde mit ihr reden, als sei sie nie gestorben.

Doch dann wurde er wieder von ihrem Haar abgelenkt, von dem Feuer, das sie mit sich trug, ohne es zu merken. Ihr ganzer Leib brannte. Die Flammen hüllten sie ein, und sie schritt darin einher wie in einem Kleid, tänzelnd, lächelnd. Prinzessin Anyana, Tochter des Dichters Winya. Das Mädchen, das sich nicht zu fein gewesen war, mit Knappen zu reden und Brot zu backen. Einen kurzen Moment lang hatte er davon geträumt, sie zu heiraten, dieses wundervolle Mädchen mit dem roten Haar, die Prinzessin aus der Küche. Und nun tanzte sie hier über das Dach, brennend, ohne zu verbrennen. Er sah ihre weiße Haut, unversehrt, die hellen bloßen Arme, die aus ihrem Feuerkleid herausragten, und die Füße, die über die Ziegel hüpften. Sie war nicht mehr vorsichtig, sie sprang über die Dächer. Sie sprang und tanzte und tanzte und sprang.

Ganz langsam, um nicht durch eine schnelle Bewegung ihre Aufmerksamkeit auf sich und den Turm zu lenken, ließ Karim sich hinter dem Fenster auf die Knie fallen, ohne die Augen von ihr zu lassen. Dann warf er sich auf den Boden, mitten hinein in die unzähligen Vogelfedern, die sich dort häuften wie ein Hügel aus Schnee, und begann zu schluchzen. Erst leise und erschrocken, dann lauter, als wäre sein Körper nun mit dieser ungewohnten Tätigkeit vertraut. Es schüttelte ihn und warf ihn in den Federn hin und her, und schließlich begann er zu schreien, kurze, laute, abgehackte Schreie, die aus seinem Inneren kamen, als würde dort drinnen jemand unter unvorstellbaren Qualen gefangen gehalten.

Er hielt den Schmerz nicht länger hinter der Tür seiner Seele gefangen. Er öffnete die Tür zu dem Ort, an dem er alle Pein, die er durchlitt, aufbewahrte, und ließ ihn heraus.

Anyana war im Feuer gestorben. Für seine Rache. Sie war der Preis gewesen. Dies war seine Schuld, die er nicht wiedergutmachen konnte.

Tizarun. Das war die Frage, das war die Antwort.

Ich bin der Mann, der die Sonne ausgelöscht hat. Er starb, ohne zu wissen, wofür er starb.

Darüber dachte er lange nach.

Deshalb, sagte er zu seiner Mutter, deshalb habe ich es getan. Du wolltest es doch.

Enema, Gräfin von Trica, hatte nie von Rache gesprochen. Sie hatte auf dem Bett gesessen, die Hände auf den Knien, und geträumt.

Wer bist du?, fragte er seinen toten Vater. Wer bist du, den alle lieben, du mit deiner finsteren Tat? Der strahlende Großkönig, Sonne von Wajun, Gesegneter der Götter. Wie kannst du beides sein? Hast du manchmal an sie gedacht, an die Frau, die du vernichtet hast? An den Mann, den du erschlagen hast, weil er dir in den Weg trat – den Mann, der mein Vater hätte sein sollen? Wer bist du, Vater?

Nie zuvor hatte er mit Tizarun gesprochen. Nie hatte er ihm die Frage gestellt, die ihn sein Leben lang verfolgt hatte. Bereust du es?

Er sah das Gesicht des Mannes vor sich, den er umgebracht hatte. Und mit diesem Gesicht, das dem seinen so sehr glich, tauchte eine andere, nicht minder wichtige Frage auf: Bereue ich es?

Er wollte nicht darüber nachdenken. Hatte er nicht schon genug eiserne Ketten zu tragen? Außerdem, selbst wenn er es bereute, es war nicht seine Schuld. Laon hatte ihn dafür vorgesehen, von Anfang an. Und Joaku hätte kein Nein akzeptiert.

Aber es war seine Schuld, und er hatte es getan, und die Antwort war ja. Ja, er bereute es.

Ich wünschte, ich hätte Tizarun mit seinen eigenen Fragen allein gelassen. Ich wünschte, ich hätte ihn ein Mal, ein einziges Mal, als Vater erlebt. Ich wünschte, ich hätte ihn sagen hören: Es tut mir so leid, mein Sohn.

Die Sonne von Wajun, dunkel und hell zugleich, so bitter und so traurig, und Karim hatte ihm nie die Gelegenheit dazu gegeben, diese Worte zu sagen.

»Ich wollte, ich könnte die Uhr zurückdrehen«, flüsterte er. »Ich wollte, ich könnte wieder hier im Schloss sein, in jenem Sommer, als das rothaarige Mädchen in die Backstube schlich. Ich wollte … ich wünschte …«

Die Krähe wetzte ihren Schnabel an seinen Ketten. Er streckte die Hand aus und strich über die zerzausten Federn. Auch als Vogel war Winya nicht das, was man von ihm erwartete. Er krächzte, und Karims Herz zog sich vor Scham zusammen. Flügel? Er hatte dem Dichter die Worte genommen. Er hatte sich einen Diener geschaffen, der ihm zu essen brachte und vom endlosen Himmel träumte.

Magie war Wünschen, Magie war Wollen. Doch Unya hatte es nie eilig. Sie brachte ihm duftenden Tee und plauderte mit ihm und ging wieder. So, als würde sie nichts wollen, nichts begehren, nichts vermissen.

Seine Ungeduld verlor sich, während die Tage dahinflossen. Er sah immer mehr, immer weiter. Er spielte mit den Katzen, streichelte eine Krähe, kratzte sich den Bart.

Er hörte auf, etwas zu wollen. Er war hier. Er atmete. Die Götter hatten ihn nicht zerschmettert, obwohl sie seine Seele kannten, und die dunklen Schwestern tanzten mit ihm, ohne ihn mitzunehmen.

Es war gut.

Sein Herz war leicht.

Die Katzen kletterten über seine Beine, stritten miteinander, beäugten vorsichtig die Krähe, die auf seiner Schulter hockte. Eines Tages griff Karim nach seinem Helm und nahm ihn ab.

Als er es getan hatte, wunderte er sich darüber, dass er so lange dafür gebraucht hatte. Er konnte sich kaum vorstellen, dass einst schwierig gewesen war, was ihm nun so leicht schien. Er streifte die Ketten von seinen Hand- und Fußgelenken und stand auf. Die Schmerzen waren unbeschreiblich, doch er schluckte sie nicht hinunter, sondern kostete sie voll aus. Blutige Ringe zierten seine Haut, und als er seine Haare und seine Stirn befühlte, fasste er in offene Wunden.

Wie ein Kleinkind, das laufen lernte, tat er die ersten Schritte in den Raum. Wackelig, die verkrampften Muskeln schienen bei jeder Bewegung zu zerreißen.

Oh ihr Götter! Und dennoch wollte er laut lachen. Frei, endlich frei!

Die Tür war verschlossen – oder schien es nur so? Karim öffnete sie mühelos und stieg die Wendeltreppe hinunter. Sein Körper hatte die Strapazen der Gefangenschaft überraschend gut verkraftet. Jetzt, wo er den ersten Schmerz überwunden hatte, fühlte er sich stark und gesund. Vorsichtig nahm er eine Stufe nach der anderen, horchte auf Stimmen, doch alles war ruhig. Die Tür am Fuß der Treppe leistete ihm zunächst Widerstand, doch als er die Hand dagegendrückte, schwang sie auf.

Er trat hinaus in einen düsteren Gang. Die Fenster waren unverglast, kalter Wind wehte herein. Frostüberzogene Blätter lagen auf dem Sims und auf dem Boden. Sie ließen seine Schritte knirschen. War etwa schon Winter? Dann hatte er längere Zeit in Gefangenschaft verbracht, als ihm bewusst gewesen war.

Unten im Hof eilten Menschen hin und her, die Köpfe gesenkt. Er war überrascht; einen Moment lang hatte er sich wie der einzige Mensch auf der Welt gefühlt. Gefangen in einem Traum. Nun holte die Realität ihn ein, und die Kälte ließ ihn frösteln. Ein schöner warmer Mantel wäre jetzt hilfreich.

Irgendwo schrie eine Krähe.

Karim wandte sich ab und durchquerte einen Säulengang, von dem aus eine weitere Treppe hinunterführte. Er gelangte in einen großen Saal, der zum Königsschloss gehören mochte, denn er war prächtig geschmückt. Was an Gold und wertvollen Stickereien in diesen zahlreichen Gebäuden zu finden war, schien hier einen Platz gefunden zu haben. Bild an Bild prangte an den Wänden; seinem kancharischen Ich gefiel das gar nicht. Auf Podesten und in Vitrinen stapelten sich Diademe und anderes Geschmeide, und inmitten all dieser Pracht stand ein Tisch. Einer der hohen Stühle an dieser Tafel war mit der kunstvollen Schnitzerei eines Hirsches verziert, auf der Lehne des nächsten prangte ein Turm, der Karim unschön an seine Gefangenschaft erinnerte.

Der Turm … woran erinnerte er ihn noch?

In diesem Moment öffnete sich eine der gegenüberliegenden Türen, und eine Frau trat ein. Sie war in ein üppiges, golddurchwirktes Gewand gehüllt, doch was seinen Blick auf sich zog, war ihr Gesicht – ihr zerstörtes Gesicht. Die eine Hälfte war das Antlitz einer schönen jungen Frau, von einigen schmalen Narben durchzogen, die andere Hälfte wurde von einer Maske verdeckt. Einer Maske aus Eisen, die ihre Züge nachbildete.

»Dilaya?«, fragte er erschrocken.

Sie blickte auf und schrie los, dann wirbelte sie herum und rannte zur Tür, die sich bereits öffnete – mehrere Soldaten stürmten herein.

»Ein Attentäter!«, schrie Dilaya.

Karim wich zurück und sammelte mit seiner Magie die Schatten um sich, die ihn verbargen. Vorsichtshalber duckte er sich in eine Nische, während die Soldaten vorbeistürmten. Sie durchschauten den magischen Schleier nicht. Zugleich verfluchte er seine Dummheit. Mit dem Bart und in den zerschlissenen Kleidern sah er nicht aus wie er selbst. Kein Wunder, dass Dilaya ihn nicht erkannt hatte.

Was machte sie hier im Schloss? Hatte Edrahim sie verschont, ihr gar die Rückkehr ermöglicht? Karim dachte an das Wappen des Turms neben dem geschnitzten Hirsch. Der Turm, das war das Zeichen von Prinz Neruns Familie gewesen. Also hatte Dilaya nun sogar eine angesehene Stellung bei Hofe? Wie verwirrend. Bevor er sich auf die Suche nach seinem Todfeind Edrahim und nach seinen Wüstenbrüdern machte, musste er herausfinden, was Dilaya dazu bewegt hatte, zurückzukehren.