15. In den Spiegeln

Linua war kurz nach Karims Abreise auf ihren Eisenvogel gestiegen und hatte Guna den Rücken gekehrt. Dass sie Karim das Leben gerettet hatte, nachdem die Götter ihm die Flucht aus der Skorpiongrube ermöglicht hatten, musste genügen. Sie war eine ausgebildete Feuerreiterin, wie beinahe jeder Wüstendämon, dennoch wollte sie sich nicht mit den Belangen der Feuerreiter auseinandersetzen. Dabei hing alles zusammen: Karim, die Feuerreiter, die Eisenvögel und die Mine, in der die gefährlichen Brandsteine schlummerten. Es war, als hätte das grüne Land der Berge eine eiternde Wunde, die irgendwann zu Gunas Tod führen würde. Aber sie war nicht die Heilerin des Landes. Sie hatte getan, was sie konnte, um alles Weitere mussten ihre Freunde sich kümmern.

Versonnen betrachtete sie ihr Gesicht im Wasser, das sie aus dem Bach schöpfte. Es war ein Wunder, das ihre Narben verschwunden waren, ein Wunder, das sie hinter der jahrelang fest verschlossenen Tür ihrer Seele einen ganzen Himmel voller Sterne gefunden hatte. Ihre Kräfte waren nicht mit menschlichen Maßstäben zu messen. Eine Weile hatte sie geglaubt, sie könnte eine Lichtgeborene sein, die Tochter einer menschlichen Frau und eines Gottes, doch es musste noch mehr dahinterstecken.

Dass sie dennoch wie ein ganz gewöhnlicher Mensch Hunger und Durst verspürte, war ein wenig lästig, denn sie verbrachte ihre Zeit lieber damit, den Flugwind zu genießen, als auf die Jagd zu gehen oder Beeren zu sammeln. Auch an diesem Morgen fiel das Frühstück karg aus. Sie bereitete sich einen Brei aus den Körnern des wilden Hafers zu, der hier im Norden des Kaiserreichs an vielen Stellen wuchs, und wünschte sich, sie hätte Honig dazu gehabt oder noch besser Salz. Seit sie Guna vor einigen Wochen verlassen hatte, machte sie einen Bogen um alle Orte, an denen Menschen lebten, um ihre Märkte, ihre Höfe und Gärten. Aber dass sie sich an die karge Kost, die die Wildnis bot, gewöhnt hätte, würde sie dennoch nicht behaupten.

Der Eisenvogel schlug freudig mit den Flügeln, als sie auf seinem Rücken Platz nahm. Auf dem Flug über die Weiten des Landes wuchs eine seltsame Freude in ihrem Herzen – und eine nicht weniger seltsame, aber dennoch verständliche Angst. Sie war auf der Suche nach ihrer Herkunft, nach dem großen Rätsel hinter dem Namen »Linua«, und es fühlte sich richtig an, nach Osten zu fliegen. Die Antwort war ganz nah. Sie hoffte so sehr, die fehlenden Teile des Geheimnisses in Gojad zu finden.

Der Anblick des Nebelmeeres, das irgendwann zu ihrer Linken sichtbar wurde, berührte sie seltsam.

Irgendwann vor vielen Jahren hatte sie es schon einmal gesehen, in frühester Kindheit. Auch die Berge, die ihre weißen Gipfel durch die Wolken stachen, kamen ihr vertraut vor. Die Nacht brach herein, während sie über das Gebirge flog, doch sie hatte den Eisenvogel fest im Griff und fürchtete weder den Mond noch die Sterne.

Unbemerkt in Gojad einzufliegen war nicht schwer, da die dicken Rauchwolken, die über der Stadt hingen, ihren kleinen Eisenvogel zuverlässig verbargen. Das Schloss des Königs war in den Berghang hineingebaut und erhob sich aus dem Qualm, doch die Schmieden darunter waren wie gesunkene Schiffe, die auf dem Meeresgrund ruhten. Linua tauchte hinab.

Unter der Decke aus Qualm war es heller als erwartet. Rote Flammen, die aus den offenen Türen der Schmieden zuckten, spiegelten sich in zahlreichen Fenstern und verglasten Türen. Die Häuser duckten sich, breit verteilt zwischen den Hallen, die halb in den Berg hineingebaut waren. Es war überraschend warm, obwohl der Winter hier oben schon hereingebrochen war. Eine Schneeflocke segelte an ihr vorbei.

Sie lenkte den Vogel tiefer hinunter und landete in einem finsteren Hinterhof. Die roten Augen verloschen, als sie auf die rutschige, von Asche und Schnee bedeckte Erde sprang. Nun musste sie sich von ihrer Erinnerung leiten lassen.

Joaku hatte ihr viel zu wenig gesagt, er hatte nur angedeutet, dass hier ihr Weg begonnen hatte, also grub sie in ihrem Geist nach Bildern aus ihrer vergessenen Kindheit. Sie fand nichts. Da war nur der Anblick des Nachthimmels, Sterne, die aufstrahlten, der Mondgürtel, der wie ein Perlenhalsband den Himmel schmückte. Sie erinnerte sich an dunkles Wasser und an dunkle Augen und eine dunkle Stimme, aber je angestrengter sie in sich hineinhorchte, umso verschwommener wurde alles.

Zögernd schritt sie voran. Vor ihr lag eine Brücke, jemand huschte an ihrem Versteck vorüber. Linua blinzelte, sie war kurz davor, einen Namen zu rufen. Kirian von Guna – was machte er hier? War ihr Schicksal so eng miteinander verwoben, dass sie sich an den unmöglichsten Orten trafen? Entschlossen wandte sie sich der entgegengesetzten Richtung zu. Was Kirian anging, hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Er war zu wichtig als Kaiser Liros Berater, um ihn aus seinem Leben in Wabinar herauszureißen und nach Guna zu bringen. Mochte er der wahre Erbe sein oder nicht, das zählte nicht. So leid es ihr auch tat, ihre Freundin Lan’hai-yia zu enttäuschen – Kir’yan-doh musste seinen eigenen Weg gehen. Doch sie wusste, dass er mit seinem Schicksal haderte, und sie hätte es nicht ertragen, wenn er sie erneut darum gebeten hätte, ihm zur Flucht zu verhelfen.

Auf der anderen Seite des Flusses erhob sich eine Burg aus dem Gestein. Die Mauern waren so grauschwarz wie alles in diesem Tal. Eine Ahnung – oder war es eine Erinnerung? – sagte ihr, dass sie hier richtig war. Während sie sich dem Tor näherte, das in das trutzige Gebäude hineinführte, wurde Linua zu einem Schatten, unhörbar, unsichtbar. Sie löste sich nicht auf, sondern verbarg sich nur magisch vor den Blicken anderer, und dennoch fühlte es sich so an, als hätte sie keine Substanz mehr.

Doch der Mann, der plötzlich die große Tür aufriss und mit ihr zusammenprallte, war genauso lebendig und wirklich wie sie. Und er hatte keine Schwierigkeiten, sie zu sehen.

»Ah!«, rief er überrascht. »Du! Zu dumm, dass ich gerade in Eile bin. Warte hier, ich werde mich gleich mit dir befassen.«

Falls er gerade Kirian hinterherlaufen wollte, hatte ihr Besuch hier zumindest einen Sinn erhalten, indem sie dem kleinen, schmächtigen Mann den Weg versperrte. Er war offensichtlich ein Magier; der typische Umhang hüllte ihn ein, und er war immun gegen den Schleier, den sie um sich gelegt hatte.

»Ihr kennt mich?«, fragte sie. Der Magier schlug die Kapuze zurück. Er hatte braune Haut, ein spitzes Kinn, seine Augen waren dunkel – und vertraut. »Und woher kenne ich Euch?«, fügte sie hinzu.

Er seufzte. Sein Blick schweifte an ihr vorbei über die Brücke. Kirian war längst verschwunden.

»Nun denn«, meinte er. »Das musste ja irgendwann geschehen. Ich bin Eisenmeister Spiro. Komm.« Er hielt ihr die Tür auf, und Linua betrat die dunkle Burg.

Im Inneren war es so hell, dass das Licht in ihren Augen schmerzte. Sie folgte Spiro durch einen langen, geraden Flur, dessen Wände verspiegelt waren. Nur wenige Leuchtkugeln erhellten den Gang, tausendfach vervielfältigt. Ihr eigenes Bild, teilweise von der dunklen Gestalt des Magiers verdeckt, umgab sie. Zehntausend andere Linuas gingen neben ihr her, kamen ihr entgegen und verfolgten sie. Sie fragte sich, wie man in so einer Burg leben konnte. Wäre sie hier auch nur ein paar Tage zu Gast, sie würde wahnsinnig werden.

Vielleicht, kam ihr der Gedanke, sollte sie etwas mit ihren Haaren machen. Von hinten wirkten sie nicht so vorteilhaft wie erhofft. Jeder Grasfleck in ihrer Kleidung, jeder Riss in ihrem Flugmantel wurde ihr unbarmherzig vor Augen geführt.

»Stört Euch das nicht?«, fragte sie.

»Oh, aber nein. Man gewöhnt sich daran. Bitte, mein liebes Kind, hier entlang.« Er holte ein Schlüsselbund hervor und öffnete eine schmale Tür, die Linua gar nicht als Tür identifiziert hätte, so unauffällig fügte sie sich in die Spiegelwand ein. Sie fühlte das merkwürdige Brennen gespannter Erwartung, als sie hindurchtrat.

»Was …?«

Noch mehr Spiegel. Das konnte sie noch sehen, bevor Spiro die Tür hinter ihnen schloss. Gleich darauf herrschte völlige Dunkelheit. Kälte wehte sie an und ein Flüstern, das hallte wie in einem riesigen Gewölbe. Hier und dort ging ein Raunen und Knistern durch die Luft, als stünde sie allein in einem nächtlichen Wald, durch den Eulen und Mäuse huschten.

»Ich mache gleich Licht.« Spiros Stimme, so dicht an ihrem Ohr, ließ sie zusammenzucken. Für einen Moment hatte sie das Gefühl gehabt, als sei diese Dunkelheit für niemand anderen bestimmt als für sie allein.

Dann erhellte Licht den Raum, und Abertausende von Lichtern blendeten sie, von allen Seiten, sogar von der Decke und dem Boden, Abbilder der einen Lampe, die über der Tür erstrahlte.

»Komm, liebes Kind.« Spiro fasste sie am Ellbogen und zog sie weiter. Sie gingen über den Spiegelboden wie über einen Abgrund, der in unfassbare Tiefen hinabragte. Wieder hört Linua ein Rauschen und ein Wispern. Sie starrte hinunter, starrte an ihren Beinen entlang, die sich jenseits des Fußbodens fortsetzten, bis sie sich selbst in die Augen blickte, die einer Fremden zu gehören schienen, fern und schwarz wie Brunnen unter einem verhangenen Winterhimmel.

»Was siehst du?«, fragte Spiro.

»Mich«, flüsterte Linua leise, denn auf einmal fürchtete sie, ihre Stimme könnte sich genauso vervielfältigen wie ihr Abbild, ein tausendfaches Echo, und fremd zu ihr zurückkehren, »und doch nicht mich.«

Spiro kicherte. »Ja, das ist schon ein seltsamer Raum, hier in diesem Schloss der seltsamen Räume. Vergiss nicht, wir sind in Gojad. Hier zerstören wir das Bild der Dinge und errichten die Welt neu. Hier bauen wir Spielzeug, das fliegen kann, Steckenpferde, die rennen und kämpfen. Hier bauen wir die Kerker für die Seelen, die sich nach den Göttern sehnen.«

»Wer seid Ihr?«, fragte sie. Ihre Kehle war plötzlich zu trocken zum Schlucken. »Woher kennt Ihr mich? Ihr seid nicht aus Gojad, Ihr seid nicht einmal ein Kancharer. Euer Akzent verrät Euch – ich bin weit herumgekommen, aber Ihr klingt anders als jeder Mensch, den ich zuvor getroffen habe.« Ihre eigentliche Frage verebbte zu einem Flüstern. »Und wer bin ich?«

»Wer ich bin und wer du bist … eine gute Frage.« Hunderttausend Spiros nickten. Linua blinzelte; in manchen Spiegeln sah es aus, als würde er gleich anfangen zu lachen, und in manchen so, als würde er den Kopf schütteln. Jedes der Bilder, das sie ins Auge fasste, wenn auch nur flüchtig angesichts der Menge, schien einen anderen Eisenmeister zu zeigen.

»Das Le-Wajun der Bilder«, sagte Spiro, »der Gemälde und der Wandteppiche und der Mosaike und der Bücher – ist es nicht so? Das Le-Wajun der Träume, der unzähligen Gesichte und ihrer Deutungen? Hast du dich je gefragt, warum die Kancharer sich vor Bildern scheuen, als könnten sie ihre Augen daran verbrennen?«

»Nein«, antwortete Linua. »Bilder fangen verirrte Seelen, das ist Grund genug.«

»So wie Spiegel?«, fragte er. »So wie Teiche? So wie Wasser in einer Schale, über die sich ein Magier beugt oder irgendein dummer Ahnungsloser?«

Ihr Herzschlag stockte. Die Lieder hinter den Türen ihrer Seele brannten wie ein Feuersturm. »Wer seid Ihr?«, wiederholte sie. »Seid Ihr überhaupt ein Mensch? Woher kommt Ihr?«

Spiro zeigte mit dem Arm auf die unzähligen Spiegelbilder, und in einigen streckte er ihnen den rechten Arm entgegen, und in anderen, doppelt gespiegelten, den linken. Belustigt lächelte er sie an. »Ich bin über das Nebelmeer hergekommen.«

»Ihr seid aus Kato?« Linua trat einen Schritt zurück. »Niemand kommt je aus Kato zurück.«

In ihr flammte das Entsetzen auf, das man ihr von Kindheit an eingetrichtert hatte und das alle Menschen befiel, wenn sie an das Meer dachten und an das Graue Schiff, an die Leere und die Dunkelheit und das Wispern, die Stimme der Albträume.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich zurückgekommen bin.«

Linua trat einen weiteren Schritt zurück. »Warum seid Ihr dann hier?«

»Ich wurde verbannt«, antwortete er schlicht. »Doch ich habe mein Exil zu schätzen gelernt.«

Sie wich immer weiter vor ihm zurück, doch er folgte ihr. Was war er? Ein Gott? Ein Lichtgeborener? Die Götter hatten Kato für ihre Kinder geschaffen.

Seine Augen schienen immer dunkler zu werden. »Die Bilder«, raunte seine Stimme, »man muss sie fürchten, wir alle sollten sie fürchten. Weil sie euch zeigen, was da ist und was nicht da ist und sogar was sein könnte. Und irgendwann weiß niemand mehr, was Wirklichkeit ist und was Trugbild, was Wunsch und Traum. Wo die Gegenwart liegt und was in den Sternen steht und welche Zukunft sich abbildet in all den Spiegeln. – Sieh her.« Er wies in einem großen Bogen auf die Spiegel. »Weißt du nicht, wer du bist? Du kamst aus einem Brunnen, Linua, Kind der Sterne. Ein Stern fiel herab, und das Wasser kräuselte sich. Ich war schnell genug, denn darauf hatte ich gewartet. Es war eine Falle, meine Liebe. Ein neuer Gott wurde geboren, und ich war zur Stelle. Ich barg die namenlose Göttin aus dem Wasser und verwirrte ihren Geist mit Lügen. Ich schickte sie nach Jerichar, wo der Schlimmste von allen, der Meister des Todes, sie lehrte, mit dem Tod zu tanzen. Es fiel ihr leicht, so leicht! Es war geradezu ein Fest, ihr dabei zuzusehen.«

»Was?«, krächzte Linua.

Sie war keine Göttin. Nie hatte sie sich so menschlich gefühlt – verwirrt, geblendet von den Spiegeln, dem Licht, den unzähligen Gesichtern. Schweiß bildete sich an ihren Schläfen. Sie spürte ihre Füße in den Stiefeln, den harten Boden unter sich, das Gewicht des Ledermantels auf ihren Schultern, ihre Locken an ihrer Wange. Sie spürte sich selbst, ihren warmen, erschrockenen Leib.

»Niemand wird je deinen Namen träumen. Du hast keinen Namen, und du wirst niemals einen besitzen.«

Linua starrte ihn an.

»Es tut mir leid, liebes Kind«, sagte er, »so leid, dass du hergekommen bist. Das hättest du nicht tun sollen. Denn wie soll man eine Göttin bändigen, die erkennt, dass sie eine Göttin ist? Hier endet deine Reise nun. Du bist mir gefolgt wie ein Kind, das seinem Vater vertraut, der es in den Keller sperren wird.«

Sie hatte gedacht, dass er vor ihr stand, vier, fünf Schritte entfernt, aber plötzlich spürte sie einen Luftzug hinter sich. Und etwas ragte aus ihrem Bauch. Ungläubig starrte sie auf die rotglänzende Spitze, die aus ihrem Mantel wuchs. Sie war schmal zulaufend und lang wie eine Hand.

Ihre Gedanken arbeiteten ohne ihr Zutun, sie dachte: ein Splitter. Glas vermutlich oder eine Spiegelscherbe. Dicke Tropfen rannen daran herunter. Dann erst kam der Schmerz.

»Wir Namenlosen«, wisperte er an ihrem Nacken, »wir irren durch die Welt. Niemand kennt uns. Niemand betet uns an. Niemand feiert unser Fest. Unsere Macht rinnt uns durch die Finger wie Wasser.«

Sie hörte ihm zu, gelähmt, das Blut lief. Es lief und lief, es tropfte, es regnete, es strömte. Doch gleichzeitig übernahm ihre langjährige Ausbildung die Kontrolle. Sie musste ihren Feind am Reden halten, um ihn abzulenken, während sie ihre Kräfte sammelte. Es würde eine Weile dauern, den Schmerz zurück hinter die Tür in ihrem Geist zu drängen, bis sie ihn nicht mehr spürte und wieder klar denken konnte. Sie verblutete, aber sie konnte nicht sterben.

»Ich werde nicht sterben«, sagte sie laut. »Nicht einmal Joaku konnte mich töten.«

Spiro stieß ein heiseres Lachen aus. »Dein Körper, meine Liebe, ist verletzlich. Götter, die auf der Erde wandeln, sind auch hier gewissen Bedingungen unterworfen. Anders wäre es gar nicht möglich für sie gewesen, Kinder mit Menschen zu zeugen.«

»Joaku hat mich vergiftet, und ich habe überlebt. Ich habe überlebt!« Linua verdrängte den Schmerz. Sie fühlte nach der Wunde, horchte auf ihren Körper, der tödlich verletzt war. Aber das konnte sie nicht glauben. Sie hatte ihn zuvor geheilt, sie hatte sogar Karim geheilt, obwohl er an der Schwelle des Todes gewesen war. Gewiss war sie keine namenlose Göttin, aber das Licht und das Lied in ihrer Seele waren zu stark, um einfach aufzugeben und sich dem Tod zu ergeben.

»Du verblutest«, sagte Spiro. »In der Tat kannst du dich von vielem heilen, wenn du Zeit hast. Aber diese Zeit hast du nicht. Ich muss nicht einmal bis hundert zählen, und du bist tot. Und ich sage dir noch etwas: Wenn ein Gott auf dieser Erde weilt, ist seine Seele in Sicherheit, selbst wenn der Körper stirbt. Sie hört den Ruf ihrer Brüder und Schwestern und wird zu ihnen aufsteigen ins Land hinter dem Flammenden Tor, wo Gestalten so unzerstörbar wie Träume sind. Doch nicht deine Seele, meine Liebe. Du hast keinen Namen, niemand wird dich rufen. Deine Seele wird aus deinem Körper austreten, sobald dein Herz aufhört zu schlagen. Gäbe es ein Bild von dir in der Nähe, würde sie dorthin eilen, um sich darin zu spiegeln. Doch es gibt hier kein Bild von dir. Ich habe dich nie zeichnen lassen. Könntest du in einen Spiegel blicken, würdest du dich daran festhalten und wärest ebenfalls sicher. Doch warum, was glaubst du, habe ich dich in diesen Raum geführt? Die unzähligen Spiegel hier werden deine Seele in Stücke reißen, sobald sie frei ist. Sie wird in so viele Facetten zersplittern, wie Sterne am Himmel stehen.«

Er lächelte selbstzufrieden, und hätte Linua die Kraft besessen, sie hätte zurückgelächelt, denn er hatte ihr alles gesagt, was sie wissen musste. Doch sie brauchte ihre Stärke für eine letzte Tat. Sollte er ruhig weiterreden, denn seine Stimme verriet ihr, wo er sich befand. Die unzähligen Spiegelungen verwirrten nur, daher schloss sie die Augen und konzentrierte sich allein auf seine Stimme. Ihre Hände schnellten vor, die Finger um den Griff ihres Dolchs geschlungen, den sie stets bei sich trug. Die Klinge durchtrennte Meister Spiros Kehle. Sie sah wieder hin – röchelnd stolperte er auf sie zu, erschrocken riss er die Augen auf.

»Das habt Ihr nicht kommen sehen, was, Meister der Spiegel?«, wisperte sie. Ihre Zunge schmeckte Eisen und Kupfer.

Abertausend Spiegel riefen seine Seele. Sie konnte es sehen. Ihre Augen sahen mehr als seinen Körper, der erschlaffte. Sahen mehr als die Abgründe eines namenlosen Gottes, den Neid und Eifersucht zerfressen hatten. Die Spiegel riefen seine Seele, die zögerte, flatterte. Dann zerbarst sie in abertausend Stücke.

Ihre eigene Seele löste sich von ihrem Körper, langsam, aber unaufhaltsam. Es fühlte sich an, als würde sie auseinandergerissen. Sie fiel auf die Knie, sackte gegen die kalte, harte Wand. Wie seltsam tröstend war es, an ihrer Wange das Glas zu spüren. Sie wollte atmen und vermochte es nicht. Mit bebenden, klammen Fingern, die sich nicht biegen lassen wollten, tastete sie nach der Scherbe, die in ihrem Bauch steckte.

Verjage den Schmerz. Vergrabe den Schmerz. Sing den Schmerz in der letzten Nacht.

Ihre Finger rutschten an den nassen, klebrigen Kanten ab. Sie richtete ihren Blick auf den Leichnam des Eisenmeisters, versuchte die flirrenden Bilder der Spiegel auszublenden, die bei der kleinsten Bewegung mit einem Tanz von Millionen sterbender Linuas reagierten. Die Scherbe zerschnitt ihre Fingerkuppen, bohrte sich in ihre Hand, steckte fest in ihrem Fleisch. Aber sie war der einzige Weg, der letzte Halt, der ihr blieb.

Dieser Körper, das geliebte dunkelhäutige Mädchen, war nur noch eine zerstörte Hülle. Sie öffnete ihn kraft ihres Willens, riss die Scherbe aus dem widerstrebenden Fleisch. Nun lag die Wunde offen, noch mehr Blut strömte aus ihr heraus. Die letzte Luft entwich ihren Lungen. Ihr Herz schlug einmal, zweimal, stolperte …

Sie wandte den Blick von der Leiche des Eisenmeisters ab und richtete ihn auf die Scherbe. Wäre sie aus durchsichtigem Glas, wäre sie verloren gewesen. Doch es war eine Spiegelscherbe, und so war das letzte, was ihre Augen sahen, ihr eigenes Bild. Keine abertausend Bilder, nur ihr Gesicht: ein schmaler Ausschnitt ihres blutigen Lächelns, ihrer fahlen Haut, die in diesem grausamen Licht nicht schwarz war, sondern dunkelgrau wie das Nebelmeer.

Und sie ließ los.

Da war ihr Name – jemand rief sie.

Ihr Name. Sie hatte ihn vergessen, und er ging durch sie hindurch wie eine Frage. Mit plötzlich aufzuckender Freude erkannte sie ihn. Sie war nicht namenlos, wie Meister Spiro sie hatte glauben machen wollen. Wie er vielleicht selbst geglaubt hatte. Sie war nicht jung, sondern uralt. Und sie hatte einen Grund gehabt, hierherzukommen.

Ihr Name war so wunderschön, und doch segelte er durch sie hindurch wie ein Vogel durch die Wolken und blieb nicht bei ihr. Er flog, und sie streckte sich nach ihm aus, und einen Moment lang war ihre Seele überall und umfasste die ganze Welt.

Jemand rief und weinte und rief. Ein graues Schiff glitt durch den Nebel, durch die schäumenden Wogen. Graue Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Die Galionsfigur hielt eine Laterne in den Händen, die durch die Finsternis leuchtete, die lockte, die warnte, die einlud.

Komm nach Hause, meine Schwester. Ich warte auf dich. Es gibt keine Welt ohne dich.

In einem Haus in einem weit entfernten Land stand ein König am Fenster und lehnte die Stirn an die Scheibe. Sein schönes, dunkles Gesicht spiegelte sich im Glas, während draußen die Nacht vorüberwanderte.

Und da waren die Wünsche. Die Bedürftigen. Die Seelen, die den Weg nicht fanden. So viele riefen und schrien nach ihr, und sie wollte antworten, aber sie hatte keinen Mund und keine Stimme. Sie lehnte sich ihnen entgegen – und fiel in den Spiegel wie in einen Brunnen, der die Nacht und die ganze Welt verschluckte.