23. Der Preis

Wabinar war größer als alle anderen Städte. Die Stadt war ein versteinertes Meer, aus dem der Palast ragte wie ein Berg, und Lanis Furcht vor dem, was geschehen könnte, wandelte sich zu stiller Ehrfurcht.

Oh ihr Götter, Wabinar! Sie hatte nie herkommen wollen, und sie fürchtete sich entsetzlich davor, dem Kaiser zu begegnen. Es fühlte sich an, als würde sie den Göttern selbst von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Lani machte diese Reise nur, weil Selas sie vor wenigen Tagen dazu überredet hatte. Die Bedrohung durch Nehess rückte näher, Tenira riskierte einen neuen Krieg gegen Kanchar, und Guna würde zwischen den Parteien zerrieben werden. Es fühlte sich falsch an, Wabinar um Hilfe zu ersuchen, auch wenn Selas ihr deutlich gemacht hatte, dass dies die beste Möglichkeit war, ihr Volk zu schützen. Doch er war in Kanchar aufgewachsen, wahrscheinlich empfand er es deshalb anders als sie.

Ob sie Kirian treffen würde? Sie wünschte es sich, aber gleichzeitig hatte sie Angst davor. Ihr kleiner Bruder war längst erwachsen. Solange sie davon geträumt hatte, ihn zu finden, war er immer noch Kir’yan-doh gewesen, der Junge, um den sie sich gekümmert hatte, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Doch sobald sie ihn wiedersah, war er das nicht mehr. Dann musste sie sich der Realität stellen. Einem Fremden.

Der Feuerreiter, der den Wüstenfalken zu einer der Dachterrassen lenkte, war ein guter Bekannter. Während der Revolte der Feuerreiter hatte er in ihrem Haus gegessen und in ihrem Tal gelebt, bis Mernat den Flug nach Daja angeordnet hatte. Als er nun den Lederhelm abnahm und sich zu ihr umdrehte, wirkte er besorgt.

»Der Kaiser hat diese Reise gebilligt, um sich mit Euch zu treffen«, sagte er. »Und dennoch fürchte ich, er ist nicht gut auf Feuerreiter zu sprechen. Vergebt mir, aber ich wünschte, ein mutigerer Mann als ich hätte Euch hergebracht.«

Sie nickte nur. So gerne sie ihm versichert hätte, dass er in Sicherheit war und der Kaiser ihn nicht hinrichten lassen würde – sie wusste es nicht. Dass Wabinar Daja in Ruhe ließ war eine Sache, doch einen einzelnen Feuerreiter für die Rebellion aller zu bestrafen, als Zeichen und Warnung, das konnte einem Kaiser durchaus einfallen. Lani wusste nichts über den neuen Mann auf dem Thron. Es hieß, er sei sehr jung, aber das musste nicht bedeuten, dass er milde gestimmt war. Gerade als junger Herrscher musste er so schnell wie möglich seine Macht stärken und allen Zweiflern beweisen, dass mit ihm zu rechnen war.

»Viel Glück«, sagte er leise. »Wir beide wünschen, es wäre anders gekommen.«

Wenn Karim nur zurückgekehrt wäre. Er hätte den Thron von Wajun beansprucht und Laikan aus dem Land gejagt.

Es half ihr nicht weiter, darüber zu lamentieren, dass Karim alle seine Verbündeten im Stich gelassen hatte. Sie griff nach der Hand des Feuerreiters und kletterte aus dem Sattel nach unten. Ihre Knie waren weich, und trotz der Sonne, die auf das Dach herunterbrannte, war ihr kalt.

Der Mann fürchtete um sein Leben, und sie fürchtete, dass sie die falsche Entscheidung getroffen hatte. Am liebsten wäre sie wieder auf den Eisenvogel gestiegen und zurückgeflogen. Sie hatte versucht, Selas zu diesem Flug zu überreden, nachdem ihr klar geworden war, dass Kirian, wenn er klug war, sich ihr gar nicht zeigen würde. Doch Selas war König. Er konnte sein Leben nicht gefährden, indem er nach Wabinar flog, während sie als seine ungeliebte Königin nicht einmal als Geisel taugte. Er brauchte sie nicht, und dabei hatte sie noch vor Kurzem gedacht, dass sie ihm einen großen Gefallen tat, wenn sie an seiner Seite herrschte.

»Dort stehen schon die Männer des Kaisers, um Euch zu begrüßen«, sagte der Feuerreiter leise und lenkte ihren Blick auf ein niedriges Gebäude, das sich in der Gartenanlage auf dem Palastdach erhob. »Ich bin Euch gerne wieder zu Diensten, wenn Ihr zurückfliegen möchtet.«

Für diesen tapferen Versuch, seine Angst zu überwinden, schenkte sie ihm ein Lächeln. Dann wandte sie sich den Kancharern zu, die auf sie warteten.

Ihr Herz schlug schneller, während sie ihren Blick über die zwei Männer wandern ließ, doch keiner von ihnen konnte Kirian sein. Beide waren zu klein und zu dunkelhäutig.

»Königin Lan’hai-yia von Guna«, sagte er kleinere Mann und verbeugte sich, jedoch nicht zu tief. »Ich bin Hulio, Protokollmeister des Edlen Kaisers, und heiße Euch hiermit willkommen.«

Sie erwiderte das Nicken und versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen. Eine Hürde war bereits gemeistert. Hätte er sie mit »Gräfin« angesprochen, wäre klar gewesen, dass Kanchar die Krönung nicht anerkannte. Das hätte ihre Verhandlungsposition vehement geschwächt.

»Wir kennen uns ja bereits«, sagte der Zweite. Sein Lächeln war wunderschön, so wie vor einigen Wochen, als er mit seinem gigantischen Eisengeier in Königstal gelandet war und Tod und Zerstörung gebracht hatte. »Euer Aufstieg zur Königin ist unnachahmlich. Ich gratuliere Euch dazu, so wie zu Eurer Hochzeit.«

Lani hatte nicht vor, Prinz Matino zu zeigen, wie sehr seine Anwesenheit sie störte. Sie dachte an Feuer, das vom Himmel fiel, an zerberstende Eisenvögel und Blut, das herabregnete, und an die Häuser, die immer noch nicht wieder aufgebaut waren. Aber hier stand er, in ein kostbares, mit goldener Stickerei und bunten Edelsteinen geschmücktes Gewand gehüllt, die Schärpe eines kaiserlichen Prinzen über der Brust, und lächelte. Er war der Bruder des Kaisers, und sie konnte ihn weder zum Duell fordern noch ihm mit Worten deutlich machen, was sie von ihm hielt. Also lächelte sie zurück.

»Danke, Ihr seid zu gütig.«

»Der Kaiser ist bereit, Euch zu empfangen, Königliche Hoheit«, sagte Protokollmeister Hulio. »Zuvor zeige ich Euch Euer Gemach.«

Die Reise hatte ihren Tribut gefordert. Sie hatte gefroren und geschwitzt, und die Rast mitten in der Wüste, in Erde und Staub, hatte ihre Kleider in Mitleidenschaft gezogen. So eilig sie es auch hatte, die Audienz hinter sich zu bringen, so dankbar war sie für die Möglichkeit, sich ein wenig königlicher herzurichten. Ein auffälliges Kleid hatte sie nicht mitgebracht, nur die Uniform der Rebellen, in der sie gegen Tenira gekämpft hatte. Der Kaiser musste begreifen, warum sie die Leute der Großkönigin nicht ins Land lassen konnte.

Prinz Matino plauderte unentwegt, während er an ihrer Seite hinter dem Protokollmeister herhinkte. Lani hatte den Verdacht, dass sie einen möglichst langen Weg durch die verschlungenen Gänge und Zimmerfluchten nahmen, um sie mit der verschwenderischen Pracht und der erlesenen Schönheit der Einrichtung zu beeindrucken und ihr ihre eigene Unwichtigkeit vor Augen zu halten. Und beeindruckt war sie, das konnte sie nicht leugnen. Wann hatte sie jemals solchen Prunk gesehen?

Tizaruns Krönungsfeier war lange her, und dennoch konnte sie sich gut daran erinnern, wie märchenhaft ihr Wajun vorgekommen war. Der Palast der Sonne ein Traum aus Musik und Lichtern. Auch der Palast in Daja bot alle Annehmlichkeiten, die Räume waren erlesen eingerichtet und verwöhnten die Sinne, und ihr Aufenthalt dort als König Laons Gast war ihr noch gut im Gedächtnis. Doch nichts hatte sie auf Wabinar vorbereitet. Worauf ihr Auge auch fiel, es betonte den Reichtum und die Macht und die gottgleiche Autorität des Kaisers. Dagegen war Le-Wajun nichts als ein zorniger Hund, der zu Kanchars Füßen kläffte. Und hier wohnte Kirian? Hier, wo sogar die Sklaven prächtiger gekleidet waren als sie selbst, die Königin von Guna? Sie kam sich vor wie in Lumpen gehüllt im Vergleich zu der Tracht eines einfachen kancharischen Palastwächters.

Sie blieben vor einem Vorhang stehen, der in kunstvollen Farbverläufen eingefärbt war, in tiefdunklem Blau, Gold und Grün.

»Ich warte auf Euch«, flüsterte Prinz Matino verschwörerisch. »Der Edle Kaiser hat nicht viel Zeit.«

Er trieb sie nur zur Eile, um sie einzuschüchtern. Es war ihr klar und machte sie dennoch nervös. Die Uniform, die sie aus ihrem Reisesack holte, war zerknittert und voller Sand, und ihre Selbstsicherheit schmolz dahin. In einem Spiegel, der mit seinem vergoldeten Rahmen wertvoller war als ihre ganze verlorene Farm in der Kolonie, sah sie sich selbst: ihr müdes Gesicht, die trockenen, aufgesprungenen Lippen. Die schäbige Uniform. Oh ihr Götter, sie hatte wie eine Soldatin aussehen wollen, eine Anführerin, die den Krieg kannte und nicht aus Feigheit davor zurückschreckte. Stattdessen kam sie sich vor wie eine verkleidete Dienerin.

»Herrin? Darf ich Euch helfen?« Ein Mädchen schwebte lautlos heran. Aus welchem Winkel sie wohl kam? Es gab keine Türen, nur leise raschelnde Vorhänge. Keine Möglichkeit, sich zu verschanzen, sicher zu sein.

»Ich weiß nicht«, sagte Lani matt. Sie malte sich Prinz Matinos herablassendes Lächeln aus, wenn sie in der Uniform wieder auf den Gang trat.

Die Dienerin oder Sklavin – woran unterschied man sie? – trat näher, blickte ihr über die Schulter, lächelte und schüttelte den Kopf. »Herrin, Ihr seid eine Königin. Gestattet.« Sie eilte davon, um gleich darauf wiederzukommen, über dem Arm etwas Glitzerndes, einen Traum aus Stoff und Schleiern und goldenen Fäden.

Lan’hai-yia hatte sich nie in wallenden Röcken wohlgefühlt. Sie war als eine der Edlen Acht durch die weiten Landschaften von Lhe’tah geritten. Sie hatte wie ein Mann gekämpft und ihre Zärtlichkeit den Büchern geschenkt, ihre Sehnsucht Prinz Winya, ihr Leben ihren Freunden. Sie sträubte sich. »Nein, das kann ich nicht anziehen.«

»Das«, sagte das Mädchen, »wird aus Euch eine Königin machen. Es ist eine Verkleidung, mehr nicht.«

»Der Kaiser wartet.«

»Dann zeigt ihm, dass sich das Warten gelohnt hat.«

Ob Kirian sie geschickt hatte? Der Palast war riesig, und sie hatte keine Ahnung, wo er sich befinden mochte, ob die Dienstboten über die Ankunft der Königin von Guna Bescheid wussten. Falls er es erfahren hatte, war dies vielleicht seine Art, sie zu unterstützen? Seufzend gab Lani nach. Sie ließ zu, dass die Dienerin ihr aus der Uniform half und ihr das prächtige goldene Gewand überstreifte. Sie duldete, dass das Mädchen ihr die Haare bürstete und sie mit diamantenbesetzten Spangen hochsteckte. Dass ihr Gesicht gepudert wurde und kleine Schmucksteinchen auf ihren Wangenknochen glitzerten.

»Jetzt seid Ihr fertig«, verkündete das Mädchen schließlich. Sie lächelte breit, fast schon verschwörerisch, und Lani konnte nicht anders, sie lächelte zurück. Im Spiegel drehte sich eine Fremde um sich selbst. Sie war verpackt und mit Schmuck behängt, und bei jedem Schritt rauschte und raschelte es. Glücklicherweise würde Selas sie nie so zu sehen bekommen.

Prinz Matino war verschwunden, als sie den Vorhang schließlich wieder zurückschob. Nur der Protokollmeister lehnte an der Wand. Er erhob sich sofort und blinzelte überrascht. Sein Mund öffnete sich und schloss sich wieder.

»Jetzt dürft Ihr mich zum Kaiser führen«, erklärte sie.

Yando hielt sich verborgen. Er war kaum sichtbar in den Schatten, die die Säulen warfen, und seine Schwester bemerkte ihn nicht.

Lani sah aus wie eine Göttin, so ganz anders, als er sie in Erinnerung hatte. Eine Fremde. Nicht seine Vertraute, seine Freundin, sein letztes Familienmitglied, sondern eine Königin. So herausgeputzt hatte er sie noch nie gesehen. Das sah ihr gar nicht ähnlich, und ihm entging nicht, dass Liro sie anstarrte. Yando hatte Lani immer für schön gehalten, auch wenn sie stets behauptet hatte, ihr Kinn sei zu eckig oder ihre Nase zu spitz. Nun konnten alle sehen, wie hübsch sie war – und eine wahre Königin. Yando ballte die Hände zu Fäusten, um nicht auf sie zuzustürzen und sie in die Arme zu schließen. Er wollte rufen: »Hier bin ich, hier!«, und tat es doch nicht. Stattdessen biss er sich auf die Lippen. Seit Tagen hatte er kaum gegessen oder geschlafen. Liro war sich nicht sicher gewesen, was er von der Bitte um ein Gespräch hatte halten sollen, doch Yando hatte ihm zugeredet, Königin Lan’hai-yia von Guna zu empfangen.

Nun bereute er es beinahe. Es war zu viel, sie zu sehen und sich fernzuhalten. Am liebsten wäre er geflohen, doch da es um Guna ging, wollte er anwesend sein. Was immer Lani zu sagen hatte, er wollte es hören.

Liro lehnte sich in seinem prächtigen Sessel zurück und verschränkte die Arme. Er war nervös, und Yando konnte sehen, dass auch Lani unruhig war. Ihre Augen weiteten sich überrascht. Vielleicht hatte sie nicht erwartet, dass der Kaiser so jung war.

Ehrerbietig verbeugte sie sich, aber nicht zu tief, schließlich war sie eine Königin.

»Bitte, setzt Euch«, sagte Liro. »Ich hoffe, der Flug war nicht zu anstrengend.«

»Sie beeindruckt ihn jetzt schon«, murmelte eine Stimme neben Yandos Ohr, und er verpasste die weitere Begrüßung. Matino war neben ihm aufgetaucht und lehnte sich ebenfalls an die Wand. »Ich frage mich, wer ihr dieses prächtige Kleid zugespielt hat. Es sind winzige magische Leuchtkugeln in den Stoff eingearbeitet. Sie verströmt mehr Glanz als ganz Guna.«

»Was tut Ihr hier?«, zischte Yando. »Das ist eine private Audienz. Ihr habt kein Recht …«

»Was?«, fragte Matino. »Hier zu sein? Auf diese Weise ist es viel einfacher, als wenn ich mir von dir Bericht erstatten lassen würde. Wer weiß, wie ehrlich du zu mir bist.«

Jeden anderen hätte Yando umgehend aus dem Salon entfernt, aber gegen den Prinzen konnte er nichts ausrichten. Zudem irritierte ihn der wissende Blick, mit dem sein Peiniger ihn bedachte. Als wüsste er, was Yando und die Besucherin verband.

Spiro hatte es gewusst, woher auch immer. Einem Magier seines Ranges entging nichts. Was, wenn er Matino vor seinem Tod eingeweiht hatte? Seit der Prinz wenige Tage später als Yando aus Gojad zurückgekehrt war, hatte er sich seltsam verändert. Er war krank gewesen, hieß es, und vielleicht hatte er nicht die ganze Wahrheit über den Tod des Eisenmeisters erzählt.

Liro schaffte es unterdessen, recht entspannt mit der Königin von Guna zu plaudern, doch obwohl jede Einzelheit wichtig war, konnte Yando sich kaum darauf konzentrieren, was Lan’hai-yia erzählte. Matino war ihm zu nah, das Lächeln seines Feindes schimmerte durch den Schatten. Yando brach der kalte Schweiß aus.

»Ich war in Guna«, sagte Matino. »Ich fürchte, ich habe mich dort nicht beliebt gemacht. Und ich fürchte, du wirst dich noch unbeliebter machen, denn was auch immer die liebe Königin wollen mag: Du wirst es ihr verwehren.«

Yando hatte seine Gesichtszüge unter Kontrolle. Er würde sich nichts anmerken lassen, weder seine wachsende Angst noch seine Freude darüber, seine Schwester zu sehen. Auch nicht seine Scham darüber, wer er war. Einst der Thronerbe von Guna und einer der Edlen Acht, jetzt ein Sklave.

»Ihr seid Euch sicher?«, fragte Liro gerade. »Nehess verbündet sich mit Le-Wajun?«

Es war nicht klug, sich bei Verhandlungen anmerken zu lassen, dass man etwas nicht wusste. Wäre es nicht ausgerechnet Lani gewesen, er hätte sich längst dazugesetzt und die Gesprächsführung übernommen.

Matino versetzte ihm einen Stoß, und Yando stolperte ein paar Schritte nach vorne, ins Licht. »Sieh, verehrter Bruder, ich habe deinen Ratgeber aufgespürt, der es beinahe versäumt hätte, zu dieser wichtigen Unterredung zu erscheinen.«

Stolz wie ein Hahn spazierte Matino in den Salon, deutete eine Verbeugung an und nahm ungeniert Platz. Verunsichert warf Liro Yando einen fragenden Blick zu. Er nickte knapp, um dem Jungen anzuzeigen, dass es in Ordnung war, und wandte sich seiner Schwester zu. »Verzeiht die Verspätung, Königliche Hoheit.«

Lan’hai-yia starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sie schien sich zu fragen, ob er es wirklich war oder ob sie träumte.

»Ihr kennt den Ratgeber des Edlen Kaisers bereits?«, fragte Matino munter. »In der Tat, die Familienähnlichkeit ist frappierend.«

Er würde nichts sagen. Er würde nicht zusammenzucken, nicht lächeln, sich nicht nach ihrem Wohlergehen erkundigen. Irgendwie gelang es ihm, sein Gesicht zu einer kühlen, unbeweglichen Maske erstarren zu lassen.

Liro hingegen keuchte erschrocken. »Was?«

Nie Unkenntnis zugeben. Nie Schwäche zeigen. Und niemals Überraschung. Der Kaiser durfte keinesfalls als jemand erscheinen, der über die wichtigsten Dinge nicht Bescheid wusste. Yando zwang sich zu einem winzigen Lächeln. Er wusste, wie kalt er wirkte, und der tiefe Schmerz, der in Lanis Augen aufschimmerte, brach ihm das Herz. »Vergebt, Königliche Hoheit, verwandtschaftliche Verbindungen sollten außen vor bleiben. Ich bin hier, um den Edlen Kaiser in dieser Angelegenheit zu beraten. Würdet Ihr kurz darlegen, wofür Ihr Hilfe wünscht?«

Er atmete, und sein Herz schlug weiter, und Matinos leises, unterdrücktes Lachen spielte keine Rolle. Auch nicht, dass Lanis Hände zitterten und sie die kunstvoll gelegten Falten ihres goldenen Kleides zerdrückte. Nur Liro war wichtig, der Yando ansah, als hätte dieser ihn verraten.

Nur Liro, Kaiser von Kanchar. Was seine Gefühle dazu sagten musste hintenanstehen. Mochten sie schreien, seine wahren Gefühle, er würde nicht auf sie hören.

Seine Pflicht galt Kanchar. Doch sein Herz! Sein Herz wollte etwas ganz anderes. Er wollte seine Schwester umarmen, sie an sich drücken, sie nie wieder loslassen. Und dann wollte er mit ihr um Guna kämpfen.

Er schloss halb die Augen, um sich zu sammeln. Seine Ratschläge mussten Kanchar dienen. Das war nie wichtiger gewesen als in diesem Moment.

Aber es war Guna, von dem Lani sprach. Guna, das zu Le-Wajun gehörte und es dennoch gewagt hatte, Selas, ehemals Graf von Trica, zum König zu krönen. Guna, das vor der Wahl stand, sich zu verteidigen oder sich zu ergeben, und das auf die Abschreckung durch die Feuerreiter hoffte, um eine weitere Schlacht zu vermeiden.

Es war Guna, aber er musste sein Herz töten und tun, als sei es irgendeine Provinz des Nachbarlandes, die ihn nichts anging. Die Kanchar und den Kaiser nichts anging. Weil ein sadistischer Prinz ihn in der Hand hatte und es so verlangte.

Daher sagte er in dem kühlen, nüchternen Tonfall, der ihn vor einem Gefühlsausbruch bewahrte: »Guna gehört der Großkönigin.«

Lani zuckte zusammen, fasste sich jedoch wieder. Nun blickte sie ihn mit unverhohlener Wut an. »Guna gehört Guna. Und soviel ich weiß, hat Tenira bei der Schlacht um Daja verloren und regiert von Kanchars Gnaden.«

»Wie wir auf Teniras Abkommen mit Nehess reagieren, werden wir gewiss nicht mit Euch besprechen, Königliche Hoheit«, sagte er kalt. Er war sich bewusst, dass ihn alle drei beobachteten. Seine Schwester entsetzt, Matino amüsiert über seine Qualen und Liro verwirrt.

»Die Feuerreiter wohnen in meiner Stadt«, warf der Prinz ein. »Deshalb bin in gewisser Weise ich für sie verantwortlich. Sie in einen Kampf mit Nehess zu schicken ist ein unwägbares Risiko. Ich würde meine Leute ungern gefährden, zumal nicht gewiss ist, mit welcher Streitmacht Prinz Laikan anrückt. Eure Auskünfte diesbezüglich sind reichlich vage.«

Yando hätte sich am liebsten zum Nachdenken zurückgezogen, doch dafür war es noch zu früh. Noch hatte Lani nicht alles preisgegeben, was für eine Entscheidung relevant war.

»Die Stärke der anrückenden Truppen können wir mithilfe der Feuerreiter und Magier feststellen«, sagte er. »Die Frage ist: Warum seid Ihr hier, königliche Hoheit?« Er merkte selbst, wie anders seine Stimme klang, wie harsch, beinahe feindselig. Lani wurde jetzt richtig ärgerlich.

»Ich biete Euch Brandsteine an, Edler Kaiser«, sagte sie zu Liro und ignorierte Yando. »Brandsteine im Gegenzug für Eure Unterstützung.«

Matinos Augen leuchteten auf. »Das«, meinte er, »klingt doch gleich viel besser.«

»Wie viele denn?«, fragte Liro eifrig.

Yando seufzte innerlich. Liro sollte ihn reden lassen, gerade bei einem so heiklen Thema. Kanchar brauchte sehr dringend Nachschub, wie Yando in Gojad selbst erfahren hatte, doch das sollten die Gegner nicht unbedingt wissen.

Die Gegner. Als wenn Guna Feindesland wäre! Er verfluchte sich selbst und das Schicksal, das ihn und seine über alles geliebte Schwester auf verschiedene Seiten gestellt hatte. Liro wusste nun, dass er aus Guna kam, Matino wusste es, bald würden es alle wissen. Yando konnte Guna nicht retten, er durfte es nicht – jedenfalls nicht offensichtlich.

»Ein paar Brandsteine für die Unabhängigkeit von Guna?«, fragte er mit schneidender Stimme. »Für die einmalige Gelegenheit, sich von Le-Wajun zu trennen? Für das Recht, einen eigenen König zu haben?«

»Ich habe nie gesagt, dass es um unsere Unabhängigkeit geht«, meinte Lani rasch.

»Worum sollte es sonst gehen? Die Regentin von Le-Wajun muss laut Vertrag im Einvernehmen mit Kanchar handeln.« War am Ende er selbst schuld daran, dass Guna nun in Schwierigkeiten war? Hätte er nicht stets besänftigend auf Liro eingewirkt, hätten sich die Fürsten und Generäle, die darauf drängten, Tenira viel stärker zu bewachen und Le-Wajuns Macht durch höhere Abgaben einzuschränken, längst durchgesetzt. »Ein Abkommen mit Nehess verstößt dagegen, doch falls ein neuer Krieg gegen uns geplant ist, wäre es nicht an Guna, uns dies kundzutun. Seid Ihr hier, um Verrat zu üben, Königliche Hoheit?«

»Nein!« Seine Schwester funkelte ihn fassungslos an. »Wenn hier irgendjemand ein Verräter ist«, zischte sie, »dann gewiss nicht ich.«

Er ignorierte den Vorwurf. »Euer Besuch beweist, dass Ihr Euch aus dem Reich der Sonne lösen wollt. Dazu braucht Ihr kancharische Unterstützung, das ist uns sehr wohl bewusst. Für ein paar Wagenladungen Brandsteine strebt Ihr nach einem neuen Königreich, das auch in Zukunft Bestand haben soll?«

Sie atmete tief durch. »Wir bieten mehr als ein paar Wagenladungen. Gewährt uns zehn Jahre lang Schutz, um eine eigene Armee auszubilden. Für den Einsatz der Feuerreiter wären wir bereit, ein Drittel der Brandsteine, die in den nächsten zehn Jahren geborgen werden, an Euch abzutreten, und Euch für das zweite Drittel ein Vorkaufsrecht einzuräumen.«

Matino stieß ein leises Schnauben aus.

»Und wie viel gedenkt Ihr abzubauen?«

»In den letzten Jahren hatten wir stets einen Ertrag von einer Wagenladung im Monat.«

»So wenig?«, warf Liro ein.

»Es ist noch weniger, als Ihr denkt«, sagte Yando, »denn dieser Wagen, wie jeder Gunaer weiß, enthält sowohl kleine Splitter als auch größere Brocken, und jedes einzelne Stück wird in eine schützende Hülle gewickelt, die mehr Platz einnimmt als der Brandstein selbst. Ein Wagen kann mitunter mit nur zwölf Steinen beladen sein.«

»Jeder Gunaer weiß auch, dass man die Menge nicht gefahrlos erhöhen kann.«

Yando erwiderte Lanis zornigen Blick. Sie war nicht hier, um zu handeln. Das war ihr Angebot, und mehr würde sie nicht bieten. Das letzte Drittel an Brandsteinen sollte für die Sicherheit Gunas im Land verbleiben.

Liro wirkte bereits leicht erschöpft.

»Man wird Euch Erfrischungen reichen, Königliche Hoheit.« Yando beendete die Audienz mit einer Schroffheit, die ihm selbst übel aufstieß. »Der Protokollmeister führt Euch in Euer Gemach, wo Ihr Euch ausruhen könnt. Der Edle Kaiser wird Euer Ansinnen überdenken.«

Er hatte sie Jahre nicht gesehen und war doch erleichtert, als sie mit hochgerecktem Kinn hinausrauschte, das goldene Kleid raschelnd und glänzend.

Sobald sie fort war, verlor Liro seine Haltung und begann zu schreien. »Guna? Du bist mit der Königin von Guna verwandt? Bei den Göttern, warum hast du mir nie gesagt, dass du aus Guna kommst!«

»Weil er ein kleiner, elender Verräter ist, der es zu sehr genießt, dich zu manipulieren«, sagte Matino.

»Hinaus!«, brüllte Liro. »Raus hier! Ich will allein mit ihm reden!«

Er hatte Liro noch nie so erlebt. Der Junge tobte, und er konnte es ihm nicht einmal verdenken. Yando wartete, bis auch Matino den Salon verlassen hatte, und trat ans Fenster. Unter ihnen wogte das graue Häusermeer von Wabinar. Seine Heimat. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, dies waren seine Berge. Nicht mehr die grünen Hänge von Guna, die Wälder, Königstal. Sondern das hier – die schiefen Dächer, die Eisenvögel, Liro. Ruma. Sadi.

»Ich wollte nie, dass Ihr Euch verraten fühlt, Herr«, sagte er in die plötzliche Stille hinein.

»Du bist aus Guna. Es stimmt also.«

»Ja, Herr, es stimmt.«

»Warum hast du mir das nie gesagt?«

Darauf hätte es ein Dutzend Antworten geben können. Weil Ihr nie gefragt habt. Weil Kinder sich für ihr eigenes Leben interessieren, nicht für die Vergangenheit ihrer Lehrer. Weil wir keine Freunde sind, weil wir niemals gleichberechtigt waren, weil Sklaven immer Geheimnisse haben. »Ihr wisst, dass ich aus Le-Wajun komme. Das wusstet Ihr immer.«

»Ach«, sagte Liro höhnisch, »aber wenn die Königin von Guna zum Tee eingeladen ist, hältst du es nicht für nötig zu erwähnen, dass ihr verwandt seid? Während ich mich darauf verlasse, dass du mich weise berätst?«

»Ich würde Euch nie falsch beraten, Herr. Meine Loyalität gehört Euch.«

»Das sagst du so!«, rief Liro. »Aber woher soll ich denn wissen, ob das stimmt? Ich habe sonst niemanden, dem ich vertraue! Und jetzt erfahre ich, dass du mich schon immer belogen hast. Du kommst aus Guna, und du bist adelig!«

»Ja, Herr.« Ein Mitglied der Edlen Acht, der Helden im Krieg um Guna, hätte man in Kanchar damals, als er in die Sklaverei geraten war, unverzüglich hingerichtet. Er hatte keine andere Wahl gehabt, als seine Identität zu verschweigen.

Es war, als hätte jemand einen Schwarm Brieftauben fliegen lassen. Nun würden sie sich in die Höhe schwingen, sich zerstreuen, nach Hause fliegen. Die Nachricht verbreiten. Es blieb nur noch, ihnen hinterherzustarren.

»Wie? Wie nah bist du mit ihr verwandt?«

Die Wahrheit. Diese Wahrheit, die schlimmer war als alles, die seinen Tod bedeutete, sobald Matino davon erfuhr. Er hatte immer gewusst, dass es eines Tages dazu kommen würde.

»Ich bin ihr Bruder, Herr.«

Liro ließ sich in seinen Sessel fallen und verbarg die Stirn hinter seinen Händen. »Oh Götter.«

»Es tut mir leid, dass ich Euch das verschwiegen habe. Es wäre wichtig für Euch gewesen, das vorher zu wissen.«

»Was?« Der Junge sprang wieder auf. »Es tut dir leid? Du bist der Bruder der Königin, und du bist mein Sklave! Ich kann doch nicht den Bruder einer Königin als Sklaven halten! Ich muss dich freilassen!« Er weinte fast. »Ich muss dich freilassen, Yando. Du bist ein Prinz. Warum hast du nie etwas gesagt? Ein Prinz, du! Du bist überhaupt nicht mein Sklave, du hättest es nie sein dürfen. Du bist mein Freund.«

Yando starrte ihn entgeistert an. »Herr?«

»Hör auf, dich wie ein Sklave zu benehmen!«, schrie Liro. »Du bist ein Prinz aus Guna, der Bruder der Königin, und ich muss dich freilassen! Was wirst du jetzt tun? Wirst du mit ihr nach Guna gehen? Wirst du gegen Nehess kämpfen?« Er schluchzte laut, untröstlich, und Yando stand wie gelähmt am Fenster, fassungslos vor dem, was hier geschah.

Vor dem Wunder.

»Ihr … lasst mich frei?«

Die endlosen Quälereien, die Matino sich ausdenken würde, die unweigerlich kommen mussten. Das Misstrauen, das ihm von allen Würdenträgern im Palast entgegenschlagen würde. Das alles wischte Liro mit ein paar Sätzen fort, mit Tränen und Wut und Enttäuschung. Dieser Junge war nicht wie sein Vater Ariv oder wie sein Bruder Matino. Er war nicht wie Kanchar, das auf Macht und Magie und Grausamkeit beruhte. Dies war der Junge, den er, Yando, erzogen hatte, so gut er es eben vermochte. Dies war sein Junge, Schüler, Freund, Bruder, Sohn. Seine Familie.

Er löste sich von dem Fenster, hinter dem der weite Himmel sich ausbreitete, die Freiheit, der Wind, und kniete sich vor den Sessel. Er fasste nach Liros Händen, die dieser vors Gesicht geschlagen hatte. »Herr …«

»Nenn mich nicht so! Prinz von Guna. Yando. Wenn das überhaupt dein richtiger Name ist!«

»Ich heiße Kir’yan-doh von Guna«, sagte Yando. »Ich bin der Neffe des früheren Königs von Guna und wurde von Sklavenhändlern entführt und verkauft. Und ich habe Euch nie wissentlich falsch beraten, das schwöre ich bei allen Göttern.«

»Du wirst mich verlassen«, flüsterte der Junge. »Und dann?«

»Ihr habt eine wundervolle Gemahlin, Herr.«

»Ja, und sie hat auch schon versucht, mich zu beraten. Aber sie ist nicht wie du. Sie ist überhaupt nicht wie du.« Er zog die Nase hoch. »Wie Ihr, Prinz Kir…?«

»Yando reicht völlig. Möchtet Ihr meine Meinung zu Guna und dem Angriff von Nehess hören?«

»Nenn mich Liro.«

»Liro«, sagte Yando sanft. Der Junge war erstaunlich. Er war bereit, das, was ihm am wichtigsten war, wegzugeben. Seinen Sklaven. Und mit diesem Sklaven die Aussicht darauf, ein weiser Kaiser zu werden, der die Anerkennung seines Volkes verdiente. Doch jemand, der eine solche Entscheidung traf, würde auch aus eigener Kraft ein herausragender Herrscher werden. In diesem Moment bewies er, dass er das bereits war. »Ihr werdet Kanchar zu einer Größe bringen wie kein Kaiser jemals vor Euch.«

Liro lächelte unter Tränen. »Was ist mit Guna?«

»Das Angebot ist gut«, sagte er. »Ein Drittel der Brandsteine, das entspricht einem Wert, der dem von ganz Daja bei Weitem übersteigt.«

»Ich weiß nicht, wie viele Brandsteine die Minen enthalten. Vielleicht ist es gar nicht so viel, wie du glaubst. Was, wenn sie bereits erschöpft sind?«

»Das ist ein guter Gedanke. Wir könnten jemanden hinschicken, der die Bergwerke besichtigt und eine Einschätzung abgibt. Doch gleichzeitig würde ich einige Feuerreiter dazu abkommandieren, die Bedrohung einzuschätzen. Und wir müssen Tenira einen Besuch abstatten und sie zur Ordnung rufen. Sie hat kein Recht auf einen Pakt mit Nehess, das kommt einer Kriegserklärung gleich.«

»Es gibt so viel zu tun.« Liro trocknete sich mit einem Ärmel die Wangen. »Ich weiß gar nicht, wie ich ohne dich … ohne Euch auskommen soll, Kalazar.« Er lachte leiser. »Ich hätte nie gedacht, dass ich Euch jemals so nennen würde.«

Liro konnte es alleine schaffen. Und Sadi? Yando dachte an das Versprechen, das er und Maira einander gegeben hatten. Den Jungen im Stich zu lassen kam ihm wie Verrat vor. Doch Matino hatte vor, einen anderen Lehrer aus Le-Wajun herzubringen. In Kürze würde man ihm die Erziehung der Geisel ohnehin entreißen.

»Darf ich stören?« Trotz seines Hinkens wirkte Matinos Gang geschmeidig. Das mochte an seinem entschuldigenden Lächeln liegen, an der Art, wie er die Hände hob, als würde er sich ergeben. »Nun, da sich alle wieder beruhigt haben?«

»Was willst du?«, fragte Liro schroff.

»Dein Ratgeber ist der Bruder der Königin. Mehr noch, er ist der einzig wahre König von Guna, wie man mir glaubhaft versichert hat.«

Der Junge blinzelte nicht einmal, obwohl ihm Letzteres neu sein musste. »Und?«

»Und wir haben eine Königin, die auf eine Entscheidung wartet. Ich meine nicht die herzzerreißende Entscheidung, ob sie nun ihren verschollenen Bruder umarmen darf oder nicht, sondern die Brandsteine. Da seine Meinung nun nicht mehr zählt, bist du vielleicht bereit, dir meine anzuhören, Liro.«

Liro neigte den Kopf zur Seite. »Ich höre.«

»Schick ihn erst weg, das ist nicht für seine Ohren bestimmt. Er steht nicht auf unserer Seite.«

»Solange er hier ist, wird er mich beraten, also sprich.«

Matino warf Yando einen hasserfüllten Blick zu. »Mit neuen Brandsteinen können wir die Eisenvögel, die der Fertigstellung harren, beleben. Die Eisenmeister werden einen neuen Schwarm bauen können.«

»Ihr wollt Euch Daja zurückholen«, stellte Yando fest.

»Und wenn? Die Feuerreiter sind ein Haufen Verräter, die sich schon einmal von Kanchar losgesagt haben. Sie haben gegen Daja gekämpft! Das muss bestraft werden.«

»Wir haben nicht genug unbescholtene Feuerreiter«, sagte Liro. »Außer dir und Prinzessin Jechna fällt mir überhaupt niemand ein.«

»Die bekomme ich zusammen.«

Wie denn?, hätte Yando am liebsten gefragt. Feuerreiter brauchten eine Ausbildung, man konnte nicht irgendjemanden dazu ernennen. Dieser Plan benötigte Zeit, das musste auch Matino klar sein. Zeit genug, um Guna zu retten. Yando dachte an den Eisendrachen, der in der Halle auf seine Belebung wartete. An den blutigen Feldzug, den Matino angekündigt hatte, und an sein eigenes Porträt in der Brust des Drachen. Plante er etwa, den Drachen zu beleben, sobald er die Brandsteine hatte? Um Daja zurückerobern? Denn gegen den Drachen konnte gewiss kein Eisenvogel bestehen. Der Prinz wollte ein starkes Kanchar und einen Thron. Und wenn er bekam, was er wollte, würde er vielleicht erst einmal Ruhe geben.

Am wichtigsten war es, zuerst Guna beizustehen.

Nein, am wichtigsten war es, im Sinne Kanchars zu handeln. Und für Kanchar war es verführerisch, Le-Wajun zu brüskieren und Guna bei seinen Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterstützen.

»Also«, fuhr Matino fort. »Ich will die Brandsteine. Aber nicht bloß ein Drittel. Und wer soll das zweite bezahlen? Fordern wir alle.«

»Das ist unverschämt«, sagte Liro.

»Nein, das ist nur folgerichtig. Sie erwarten unsere Hilfe, aber sie erwarten noch viel mehr. Jede Menge mehr. Alles Details, die unsere liebe Königin vergessen hat zu erwähnen. Nämlich dass wir uns in Zukunft heraushalten. Wir sollen uns mit Le-Wajun streiten, für sie, statt uns um Guna zu streiten. Das kostet mehr als das, was sie geboten hat. Oder wir nehmen jetzt, was sie freiwillig gibt, und holen uns den Rest später, wenn Nehess abgezogen ist. Sonst kommt sie noch auf die Idee, sich mit dem Feind gegen uns zu verbrüdern.«

Guna. Kanchar. Wem gehörte Yandos Herz wirklich? Linua hatte ihn im Palast gelassen, damit er hier seine Pflicht tat, aber worin bestand diese? Guna zu retten um jeden Preis? Sämtliche Brandsteine aus den Bergen zu schlagen würde Trica und die umliegenden Täler zerstören, und es würde Kanchar eine Macht verleihen, die seinesgleichen suchte.

Brandsteine. Eine Flotte aus Eisenvögeln, dazu der Drache, der die Seelen verschlang. Was Matino plante, ging weit über alles hinaus, was je ein Kaiser von Kanchar erträumt hatte. Mit dieser Macht konnten sie Le-Wajun in die Knie zwingen, Guna annektieren, sie konnten sich sogar nach den Ländern des Südens ausstrecken. Yando sah Armeen vor seinem inneren Auge aufziehen, Tausende von Eisenpferden stampften über Felder und durch Gärten, und ein Eroberungsfeldzug begann, dessen Enden nicht zu erahnen waren.

Guna war der Schlüssel.

Doch es ging um viel mehr als um Guna, und vielleicht hatte Linua das geahnt und ihn deshalb hier zurückgelassen, für diesen Augenblick, damit er jetzt sein Wort in die Waagschale legen konnte.

Er kniete immer noch vor Liro. Nun stand er auf. Er wappnete sich innerlich gegen das, was kommen würde. Matino war bereits sein Feind, und ihn herauszufordern konnte bedeuten, dass ihn ein Messer im Rücken erwartete. Und ein flammendes Grab in geflügeltem Eisen.

»Ich habe Eure Meinung gehört und zur Kenntnis genommen, Kalazar«, sagte er und straffte sich. Kein Sklave mehr, sondern nur noch der Ratgeber des Kaisers. »Lasst uns allein, ich muss mit dem Kaiser sprechen.«

Matino hob die Brauen. »Du überraschst mich. Müsstest du nicht darüber begeistert sein, dass wir Guna retten wollen? Die Unabhängigkeit sollte doch der königlichen Familie etwas wert sein.«

Auch Liro wirkte verwundert. »Es klingt doch gut, oder?«

»Allein«, beharrte Yando.

Matino musterte ihn finster, gehorchte jedoch. »Fühl dich nicht zu sicher«, flüsterte er auf dem Weg zum Vorhang.

Yando wartete eine Weile, dann überprüfte er, ob der Prinz wirklich gegangen war und nicht lauschte.

Dennoch senkte Liro die Stimme. »Das verstehe ich nicht. Ich meine, warum tut Ihr so geheimnisvoll, Kalazar? Ihr werdet mir raten, auf das Hilfsgesuch einzugehen und den Preis zu akzeptieren. Während Matino will, dass wir sämtliche Brandsteine verlangen. Er wird darauf beharren, sie sich später zu holen, wenn Guna das Angebot nicht erhöht. Auch das ist ziemlich offensichtlich.«

Yando hatte seinen Entschluss gefasst. Er drehte sich zu dem jungen Kaiser um. »Nein«, sagte er. »Wir lehnen ab.«

»Wir helfen Guna nicht? Dann wird Tenira sich die Brandsteine holen, mit der Hilfe von Nehess, und sie gegen uns einsetzen.«

»Natürlich helfen wir, aber zu unseren Bedingungen. Kanchar für Kanchar. So ist es immer gewesen.«

Liro zupfte nervös an seinen Haaren herum, eine Angewohnheit, die er eigentlich bereits abgelegt hatte. »Wir helfen Guna also?«, meinte er zweifelnd.

»Vertraut Ihr mir, Liro?«

Der Junge blickte ihm ins Gesicht. Dass er zögerte war nicht schmerzhaft, im Gegenteil, es fühlte sich für Yando wie eine Ehre an, die ihm erwiesen wurde. Der Edle Kaiser von Kanchar prüfte sein Herz und nickte dann. »Mehr als jedem anderen.«

»Dann verweigert Guna die Unabhängigkeit.«

»Aber … ich dachte …«

Dieser bittere Geschmack auf der Zunge, das üble Gefühl, während sein Magen sich zusammenkrampfte. Yando schluckte. Ihr Götter, dachte er, aber die Götter schwiegen wie immer. Er kannte sie nicht, weder ihre Gedanken noch ihre Wünsche. Er wusste nur, wozu sie ihn gemacht hatten.

»Le-Wajun ist geschwächt. Nehess mag sie unterstützen und einen neuen Krieg anzetteln, doch dieser Plan beruhte offensichtlich auf der Hoffnung, die Brandsteine in ihre Gewalt zu bringen. Was hat Kanchar von jeher getan, wenn Le-Wajun schwach war? Wir haben uns Guna geholt.«

»Aber«, sagte Liro laut, »aber ich verstehe nicht. Wir? Ihr seid ein Gunaer.«

Guna war nicht wajunisch, und Guna war nicht kancharisch. Guna war Guna.

»Nehmt es Euch«, sagte Yando. »Jetzt. Die Königin ist hier, lasst sie Euch den Eid schwören, den jeder König von Kanchar schwört. Fügt dem Kaiserreich ein neuntes Königreich hinzu. Keine Provinz, sondern ein eigenständiges Königreich mit einer Stimme in Wabinar. Und dann verteidigt es mit dem Recht des Kaisers von Kanchar.«

Liro schwieg, während er nachdachte. Er ging ans Fenster und öffnete es. Das hatten sie beide gemeinsam – sie sahen gerne hinaus und genossen den Wind im Gesicht. Die Sonne tastete nach den Gipfeln der talandrischen Berge, die von hier aus nur eine gezackte Linie am Horizont waren.

»Ihr seid schlau«, sagte er schließlich. »Ungeheuer schlau, Yando. Beinahe hätte ich gedacht, es sei eine gute Idee.«

»Das ist sie. Ihr werdet der Kaiser sein, der Guna ein für alle Mal ins Reich einfügt.«

»Wo ist der Haken?«

»Es gibt keinen Haken.«

»Den muss es geben. Ihr seid ein Gunaer, ein Prinz von Guna, und ganz sicher habe ich etwas übersehen, das Ihr mir sagen müsstet, wenn Ihr wirklich mein Ratgeber wärt. Was ist es?«

»In der Tat gibt es etwas, das Ihr nicht seht. Die Brandsteine.«

»Was ist damit? Sie würden Kanchar gehören.«

»Nein, Liro. Die Schätze eines Königreiches gehören dem König. Der Kaiser kann keinen Anspruch darauf erheben.«

»Müssten sie nicht Steuern zahlen? Und diese könnten wir in Form von Brandsteinen einfordern.«

»Sie werden Steuern zahlen, gewiss, aber nicht einmal Tenira hat je gewagt, Steine von ihnen zu fordern. Die Minen öffnen sich nur für den Handel.«

»Das würde bedeuten, dass Guna sämtliche Brandsteine behält, und wir kriegen gar nichts. Wir retten Guna – für nichts?«

»Für ein neuntes Königreich«, sagte Yando. »Guna müsste auf seine Unabhängigkeit verzichten. Dazu war Guna bisher nie bereit, in seiner ganzen jahrtausendealten Geschichte nicht. Wir wurden von einem Fremdherrscher zum nächsten weitergereicht, doch wir haben uns nie freiwillig unter den Schutz einer Krone begeben.«

Auch darüber dachte der Junge nach. Yando fühlte einen seltsam wehmütigen Stolz. Er würde einen prächtigen Kaiser abgeben.

»Für nichts«, wiederholte er. »Nur für die Ehre. Nur für das Privileg, ein Land zu erobern, ohne einen Finger zu rühren.«

»Das ist gewiss nicht nichts. Es ist ungeheuer viel. Meine Schwester wird mich verfluchen, denn sie ist nicht hergekommen, um ganz Guna zu verkaufen.«

»Kann sie sich weigern?«

»Natürlich kann sie das. Doch wenn Kanchar sich nimmt, was sie nicht geben will, würde sie ihr Königtum wieder verlieren, die Berge und die Minen.«

»Das wäre auch ein Weg, an Guna zu kommen. Mit Nehess und Tenira müssen wir uns ohnehin auseinandersetzen. Und in dem Fall könnten wir frei über die Steine verfügen. Wir könnten Guna zu einem Teil von Daja machen. Wozu Guna einen eigenen König lassen?«

»Weil eine andere Lösung nicht lange halten wird. Das hat es nie. Man müsste die Gunaer immer davon abhalten zu rebellieren, was Männer und Geld kostet. Und ein paar Jahre oder Jahrzehnte später schlägt Le-Wajun zurück, und das Ganze beginnt von vorn.«

»Ich weiß nicht recht. Was, wenn es nicht so läuft, wie Ihr es Euch jetzt vorstellt? Dann ist niemand da, der mir sagt, wie es weitergeht.«

Und da – wie seltsam, dass ihm das erst jetzt klar wurde, dass es wie eine plötzliche Erleuchtung über ihn kam – wusste er, was fehlte. Was er zu dem Preis, den Guna darstellte, hinzufügen konnte, um Liro umzustimmen. Um die Brandsteine, von denen die Macht abhing und hundert Kriege und Schwärme von Eisenvögeln, wie etwas völlig Unwichtiges darzustellen, das in den Tiefen der Berge vor sich hinschwelte.

Yando kannte den Preis. Es auszusprechen war schwer. Es war beinahe unmöglich. Sein Körper begann zu zittern. Kälte zog schneidend durch seine Knochen, das Blut rauschte ihm in den Ohren. Er rief die Götter nicht an, er flehte sie nicht an, ihm zu helfen. Sie würden es nicht tun, denn sie verlangten nur, und alles, was sie gaben, war vergiftet.

»Ich bleibe bei Euch.«

Liro blinzelte erstaunt. »Was?«

»Ihr habt mich verstanden. Folgt meinem Rat, und ich bleibe Euer Ratgeber. Solange Ihr es wünscht, solange Ihr mich braucht.«

»Ihr seid ein freier Mann. Ein Prinz sogar. Was, wenn Euch auf einmal das Heimweh überkommt? Dann wärt Ihr plötzlich weg, und ich habe Guna gerettet, für nichts und wieder nichts.«

»Wie schlau Ihr seid«, flüsterte Yando. Das war Kanchar: Macht und Magie und Grausamkeit. »Ihr wünscht Euch, dass ich wieder Euer Sklave bin?«

»Nur dann kann ich mir sicher sein, dass Ihr hierbleibt. Dass Ihr mir dient und nicht der Königin von Guna, Eurer Schwester.«

Liro war zur Hälfte Talandrier, hellhäutig und blond und so ganz anders als Matino, und doch sah Yando zum ersten Mal in seinem Leben die Ähnlichkeit der beiden. Liro war Arivs Sohn, genau wie sein älterer Bruder. Und ohne Yandos Einfluss wäre vielleicht ein genauso fürchterlicher Mensch dabei herausgekommen. Er wurde hier gebraucht.

»Dann werde ich Euer Sklave sein.«

Nichts hatte sich geändert. Sklave und frei und wieder Sklave – es war ein bisschen, als hätte er das alles nur geträumt.