28. In den verschneiten Wäldern

Seit acht Jahren träumte Yando von Ruma. Seit acht Jahren verfolgte ihn die Liebe eines Mädchens, das sich aus dem Fenster gestürzt hatte. Wenn er mit dem Kaiser und seinem Schüler zusammen nach Guna reiste, hoffte er, ihr zu entkommen. Doch er konnte zwar Wabinar und den Palast hinter sich lassen, aber niemals Ruma. Sie wohnte in seinem Herzen; immer würde sie darin wohnen.

So auch in dieser Nacht. Er sah sie, jung und schön wie immer. Sie drehte sich zu ihm um, blickte ihm entgegen, sehr ernst, und lächelte dann. »Yando«, sagte sie. »König Kir’yan-doh von Guna. Dein Name ist Musik in meinen Ohren.«

»Nichts kommt deinem Namen gleich.« Er streckte die Hand nach ihr aus, er konnte nicht anders. Vorsichtig berührte er ihr weiches Haar, das im Sternenlicht glänzte. Sie schmiegte ihre Wange in seine Hand, und ehe er es sich versah, hing sie an seinem Hals und ihre Lippen fanden seine.

Yando schloss die Augen und schmeckte ihren Mund, und seine Hände gruben sich in ihre seidigen Locken.

Der Wunsch, sich in ihr aufzulösen, kam mit einer solchen Gewalt über ihn, dass er selbst davor erschrak. Hier war der Trost, den er so dringend brauchte, die Versicherung, dass alles gut war, hier war Vergebung. Er versuchte, Herr über sich selbst zu bleiben, und sagte mit rauer Stimme: »Du überraschst mich.« Er sagte es dicht an ihrem Ohr, Wange an Wange mit ihr, während seine Hände schon begannen, ihren Körper zu erforschen. »Hast du heute keine Angst, dass man uns ertappt?«

Sie machte einen Schritt von ihm fort, und er wollte schon aufheulen über den Verlust, ohnmächtig in einem Schmerz, für den er kein anderes Heilmittel wusste als sie. Aber sie blies nur die Kerzen aus, und es war dunkel. »Sag nichts«, flüsterte sie. »Bitte, sag nichts.« Dann schälte sie ihn aus seinen Kleidern heraus wie eine köstliche Frucht, und er tat das Gleiche mit ihr. Er fühlte ihre Haut überall, warm und weich, und vergrub sich in ihrem süßen Fleisch. Und war zu Hause, wie er noch nie zu Hause gewesen war. Entrückt, wie er noch nie entrückt gewesen war, ganz daheim und ganz bei den Sternen. Doch da hielt sie auf einmal inne und fragte: »Yando, liebst du mich?«

»Ja, Ruma«, flüsterte er, »ja, ich liebe dich.«

»Ich habe eine Bitte.«

»Alles«, keuchte er, »alles, was du willst.«

»Schwöre«, befahl sie, und er schwor, ohne nachzudenken. Er hielt sie im Arm, er klammerte sich an sie und sagte: »Bei den Göttern, ich schwöre alles, alles, was du willst.« Er bedeckte ihr Gesicht mit seinen Küssen und verschlang ihren Mund, und alles war ein Wunder. Sie lebte, und er hatte sich geirrt. Tränen rannen ihm über die Wangen vor Glück.

»Was wünschst du dir, mein Herz?«, fragte er. »Soll ich dich mitnehmen? Willst du von hier fort? Ich fliehe mit dir, wohin du auch willst.« Er würde den Vertrag, den er mit Liro geschlossen hatte, zerreißen. Und wenn ihn sämtliche Soldaten des Kaiserreichs verfolgten, es war ihm gleich. Sie konnten einfach leben, im Verborgenen irgendwo. »Ich brauche nichts, wenn ich nur dich habe, Ruma.«

Er erwartete, dass sie zustimmte. Er hielt sie immer noch in seinen Armen, eng an sich gepresst, und dachte: Wir könnten fliehen, wir beide. Er wusste, dass es das war, was sie sich erhoffte. Sie war hier nie glücklich gewesen. Aber nun würde das Glück kommen. Sie würden weggehen, gemeinsam. Er würde alles planen.

»Töte Matino«, sagte sie.

»Was?« Er fühlte sich wie jemand, der aus dem warmen Zimmer in den Schnee springt, mit den bloßen Füßen ins Eis.

»Du hast mich verstanden.« Dann verblasste ihr Gesicht auf einmal, es verschwamm wie ein Antlitz in einer Wasserschale. Sie war da und war es doch nicht. Der Traum löste sich auf, und zurück blieb das schreckliche Gefühl seines Versagens.

Er hätte Matino töten sollen – wenn nicht für sich selbst, dann für sie. Er hätte mit ihr fliehen sollen. Sein Pflichtbewusstsein war ihm wichtiger gewesen als die Frau, die er liebte. Guna. Kanchar. Liro. Sadi.

Manchmal kam es ihm vor, als sei Ruma erst seit gestern tot. Und manchmal, in Träumen wie diesen, durfte er für kurze Zeit daran glauben, dass es noch nicht geschehen war, dass er ihren Sprung noch verhindern konnte. Doch es gab kein Zurück, nur Bedauern.

Wie ein Albtraum senkte sich die Wirklichkeit über ihn, die wie eine kalte Nacht voller Sterne und Schnee war. Er saß aufrecht in seinem Bett, reglos, eingefroren wie ein Betrunkener in eisiger Winternacht.

»Ruma«, flüsterte er, »das kann ich nicht tun. Ich konnte es nicht. Ruma, ich konnte es nicht.« Sie hatte ihn nie darum gebeten, dennoch hätte er es tun sollen. Hatte er nicht oft genug darüber nachgedacht?

Warum schickten ihm die Götter solche Träume? Wollten sie ihn quälen, war er nicht schon gestraft genug? Was wollten sie denn noch von ihm?

»Ich bin kein Mörder«, flüsterte er.

»Doch«, widersprach Ruma. Sie wisperte ihm die Worte ins Ohr, die Schuld, die er nicht auf sich genommen hatte und dennoch bis an sein Lebensende tragen musste. »Doch, Yando, das bist du. Du hast mich ermordet.«

Er vergrub sein Gesicht in den Händen, als könnte er dort Schutz finden vor der Nacht seiner Seele.

»Ich liebe dich, Ruma«, sagte er. »Oh ihr Götter, Ruma!«

»Tu es«, befahl sie. »Ich will, dass du Matino tötest.«

Übelkeit stieg in ihm hoch. Er griff sich an den Hals, schluckte. Ihm war schwindlig. Seine Hände begannen wieder zu zittern, heftig, unkontrollierbar. »Nein«, flehte er. »Nein, oh bitte, Ruma, nein.«

Er stieg aus dem Bett, um den Traum abzuschütteln. Draußen ging bereits die Sonne auf, rot und glühend kam ein neuer Morgen.

Dort unten auf einem der Dächer lag Ruma. Er sah sie jedes Mal, wenn er aus einem Fenster hinausblickte, obwohl sein Verstand wusste, dass da nichts war. Sie lag da, mit ausgebreiteten Armen, und er konnte sie nicht retten. Er musste weiterhin seine Pflicht tun. Es gab keinen Ausweg.

Im Laufe der Jahre waren seine Träume von Ruma seltener geworden, und dennoch suchte sie ihn immer wieder heim, um ihn an seine Versäumnisse zu erinnern. Jeden Morgen stand Yando auf und war sich bewusst, dass er auf einem sehr schmalen Grat balancierte. Er hatte gehofft, hier würde es besser sein, doch das war es nicht. Auch in Guna gab es keine Erlösung.

Ein Geräusch aus dem Nebenzimmer ließ ihn aufhorchen. Der Kaiser. Die Pflicht rief.

Obwohl Yando schon lange nicht mehr als Leibdiener arbeitete, sondern nur noch als Ratgeber und Erzieher des wajunischen Prinzen, frühstückte er jeden Morgen mit Liro. Er war Liros Halt gewesen in den schweren Wochen nach Rumas Tod, und keinen Moment lang wäre Liro auf den Gedanken gekommen, dass auch Yando trauerte. So sollte es auch bleiben.

Yando öffnete die schwere Holztür und trat in den schmalen Gang hinaus. Fahlweißes Morgenlicht sickerte durch die Fenster. Durch die Fugen zog es leicht, und ihn fröstelte. Doch der Duft nach dem starken süßen Kräutertee, den Maira jeden Tag zubereitete, malte ihm ein Lächeln auf die Lippen. Etwas brutzelte in einer Pfanne, und schon wehte der kräftige Geruch von Schinken und Eiern durchs ganze Haus.

Maira stand in der Küche und drehte sich zu ihm um, sobald sie ihn hörte. Während die Welt um sie herum zerfiel, wie ihm manchmal schien, wurde die junge Frau von Tag zu Tag schöner. Ihr Grinsen ehrlicher, das Leuchten ihrer Augen heller.

»Speck, Yando?«

Auf den schlichten Holzstühlen hockten die Jäger, die sie begleiten würden. Die Königin schickte ihnen immer dieselben griesgrämigen Männer. Sie sprachen nicht viel und ignorierten ihn völlig, doch manchmal hatte er das Gefühl, dass sie ihn heimlich beobachteten. Dabei konnten sie nicht wissen, wer er war. Das war die Bedingung dafür gewesen, dass er überhaupt gunaischen Boden betreten durfte. Lani hatte nicht vergessen, dass sie ihn verbannt hatte. Nur weil sie es nicht wagte, den Kaiser zu brüskieren, duldete sie zähneknirschend, dass er ihr Königreich betrat.

»Gerne.« Er nickte den Männern zu, die nur kurz aufblickten, und setzte sich an den Tisch. Draußen schneite es wieder. Große weiche Flocken legten sich auf das Sims.

»Ein wundervoller Tag!« Liro gähnte ausgiebig. Er war kein Frühaufsteher, auch wenn er sich an die Regeln der Jäger hielt. Die Gunaer neigten ehrerbietig die Köpfe. »Ich mag gar nichts essen, meinetwegen können wir gleich los.«

So früh hatte Liro noch keinen Appetit. Später, wenn sie unterwegs waren, würde er Hunger bekommen. Maira packte ihnen stets reichlich Wegzehrung ein. Während die Männer ihren Tee schlürften, schichtete sie Äpfel, Käse, dunkles Nussbrot und helle Gewürzkuchen in einen Lederbeutel.

»Kommt Sadi heute mit?«, fragte Liro.

»Ich schau mal, ob er schon auf ist.« Yando schob seinen Teller zur Seite. Der Junge kam jedes Mal mit, wenn der Kaiser seinen Jagdausflug antrat – die einzige Möglichkeit für ihn, weite Strecken zu fliegen. Sadi war zwar erst dreizehn, ließ es sich aber trotzdem nicht nehmen, den Eisenvogel selbst zu lenken, mit dem sie herkamen. Matinos Unterricht hatte Früchte getragen, so ungern Yando es auch zugeben mochte. Jedes Mal, wenn der Junge Zeit mit dem Prinzen verbrachte, fühlte Yando sich wie eine Glucke, die die Flügel über ihr Küken legt, um es vor dem Habicht zu beschützen.

»Sadi?« Er klopfte und öffnete die Tür.

Das Bett war leer. Yando seufzte innerlich. Der Versuch, dieses Kind zu bändigen und an Regeln zu gewöhnen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Immerhin war die Seele dieses Jungen ein verwöhnter Kaisersohn, der Bruder von Matino. Mittlerweile musste Yando sich diese Tatsache jedoch beinahe mit Gewalt in Erinnerung rufen, so sehr war ihm Sadi ans Herz gewachsen.

Mit einem resignierten Kopfschütteln kehrte er in die Küche zurück. Die Jäger waren bereits auf dem Sprung, nur Liro saß noch mit zusammengepressten Lippen am Tisch. So gerne er auf die Jagd ging, so aufgeregt war er jedes Mal davor. In den Wäldern war es nicht ungefährlich, vor allem jetzt im Winter. In Talandria wäre es zwar noch weitaus riskanter gewesen, mit dem Edlen Kaiser durchs Gebirge zu streifen, doch auch in Guna konnte etwas Unvorhergesehenes passieren. Die Ponys waren trittsicher wie Bergziegen, aber wenn sie in eine Schneewehe gerieten, konnten auch sie stürzen. Die Bären hielten Winterschlaf, aber seit einigen Jahren kamen die Schneepanther aus den höheren Regionen herunter. Eine größere Gruppe griffen sie nicht an, doch wehe, jemand verlor die anderen im Schneetreiben. Die Panther sprangen aus den Wipfeln herab, und wenn sie einen Reiter erwischten, rissen sie ihn vom Pferd und bissen ihn ins Genick.

Wäre es nach Yando gegangen, hätten sie ganz auf diese Ausflüge verzichtet, doch Liro konnte erstaunlich stur sein. Und Sadi war ein Überlebenskünstler, der die Gefahr geradezu suchte.

»Er ist weg«, sagte er laut.

Liro stöhnte. »Oh ihr Götter. Nicht schon wieder.«

»Ihr solltet trotzdem auf die Jagd gehen. Die Königin muss hiervon nichts erfahren. Sie wird es nicht gerade schätzen, wenn einer ihrer ungeliebten Gäste ohne Aufsicht durch die Wälder streift.«

Yando hatte nicht mehr mit seiner Schwester gesprochen, seit Guna ein Teil von Kanchar geworden war. Lan’hai-yia konnte nichts dagegen unternehmen, dass der Kaiser seinen Winterurlaub in ihrem und Selas’ Königreich verbringen wollte und Yando mitbrachte, doch sie hatte sehr deutlich gemacht, dass sie keinen persönlichen Kontakt zu ihrem Bruder wünschte. Um keinen Streit zu provozieren, bezogen sie ein Haus in einem Nachbartal und nicht in Königstal, und wenn der König und die Königin zu ihrem Begrüßungsbesuch kamen, zeigte er sich nicht.

»Ich werde Sadi suchen.«

»Allein?«, fragte Liro skeptisch. »Wir sollten ihn gemeinsam suchen.«

»Ihr kennt Sadi. Er wird sich von den Jägern nicht fangen lassen, dazu genießt er es viel zu sehr, uns alle an der Nase herumzuführen. Ich hole ihn.«

»Der Schnee hat die Spuren bedeckt.«

»Ich weiß«, sagte Yando, »aber ich habe so eine Ahnung, wo er sein könnte.«

Liro wirkte alles andere als glücklich, aber er nickte. »Sei vorsichtig.«

Auch Maira seufzte. Sie fand, dass er Sadi viel zu viel durchgehen ließ. Manchmal schien es ihm, als fürchtete sie immer noch, dass er dem Jungen etwas antun könnte. Als hätte er sie all die Jahre in Sicherheit gewiegt, um irgendwann aus dem Hinterhalt zuzuschlagen. Es verletzte ihn mehr, als er ihr je sagen würde. Er hatte sich geschworen, dieses Kind zu beschützen. Vor allen Feinden. Vor Matino im Besonderen. Sadi würde nicht zerschmettert auf dem Pflaster enden – oder im Rachen eines Leoparden.

»Was meinst du, wo ist er hin?«, fragte Maira, sobald der Kaiser mit den Jägern aufgebrochen war. Er war ihr dankbar dafür, dass sie so lange mit dieser Frage gewartet hatte.

»Es gibt zwei Orte, die er unbedingt sehen will«, sagte Yando. »Königstal und Trica.«

»Bei dem Wetter kommt er nicht über den Berg. Er wird weder das eine noch das andere erreichen.«

Trica war in der Tat zu weit weg. Aber Königstal? Bei Schneetreiben ins andere Tal zu gelangen war gefährlich. Man sah kaum die Hand vor Augen. Jeder andere würde sich verirren; selbst einheimische Gunaer blieben bei diesem Wetter zu Hause. Doch sie sprachen hier von Sadi.

»Ich hole ihn ein«, sagte Yando zuversichtlich und fügte ein leises »Hoffentlich« hinzu.

Sadi fluchte laut vor sich hin. Die Plane, die den Steppenadler, mit dem sie gekommen waren, vor Frost und Schnee schützte, war am Boden festgefroren. So sehr er auch daran zerrte, er bekam sie nicht los. Seine Hände waren bereits rot von der Kälte, und einer seiner Fingernägel war eingerissen und blutete.

Das Pony, mit dem er auf die Lichtung geritten war, scharrte ungeduldig mit den Hufen. Es wollte zurück in den Stall, was er ihm nicht verdenken konnte.

»Tut mir leid, Dicker. Ich hätte dich zurückgeschickt, aber mein Vogel ist eingeschneit. Das heißt, wir müssen gemeinsam weiter.«

Das Pony musterte ihn kritisch. Seine langen Wimpern waren weiß vom Reif, in seiner Mähne bildeten sich Kristalle. Nach Trica war es weit, wenn man sich durch den Schnee kämpfen musste. Zwei Tage im Sommer, hatte Sadi gehört. Mit dem Steppenadler ein Katzensprung.

Die Kälte kroch in seine Stiefel, während er überlegte, ob er es trotzdem wagen sollte. Nein, das wäre Selbstmord. Er würde erfrieren, bevor er den Durchgang zwischen den Tälern gefunden hatte. Natürlich könnte er auch versuchen, nach Königstal zu gelangen. Vielleicht würde er den Hirsch wiedersehen. Einen Teil von ihm zog es zu dem wunderbaren Tier – ihn zu sehen gehörte zu den geheimen Freuden eines jeden Winters. Doch der Gedanke an Trica ließ ihn nicht los. Yando hatte ihm strikt verboten, sich den Minen auch nur zu nähern, aber das stachelte ihn nur umso mehr an.

Erneut wandte Sadi sich dem Eisenvogel zu, der unter der Schneeschicht wie ein unförmiges Ungeheuer wirkte. Er formte eine Schneekugel in den behandschuhten Händen und ließ sie leuchten. Das war einfach. Matino hatte ihm erklärt, wie es ging, nachdem er bemerkt hatte, dass Sadi eine große magische Begabung besaß. Der Prinz war selbst kein Magier, aber er hatte genug Erfahrung mit hochrangigen Meistern, um das eine oder andere weiterzugeben.

Sich Licht zu wünschen war leicht. Doch was Sadi brauchte war Wärme. Er musste die leuchtende Kugel erhitzen, so. Ja, so fühlte es sich richtig an. Kindliche Freude erfüllte ihn, als sie ihm geschmolzen durch die Finger floss.

Sehr gut, auf diese Weise konnte es gehen. Sadi streifte die durchnässten Handschuhe ab und legte die bloßen Finger auf die weiße Masse, dann ließ er Wärme hindurchströmen. Es war kniffelig, sich Hitze zu wünschen, während er doch so sehr fror, aber wenn er an Wabinar dachte, an die flimmernde Sonne über den Dächern, konnte er sie sich gut genug vorstellen.

Der Schnee schmolz unter seinen Händen, lief an der eingewachsten Decke herunter und versickerte. Das Pony wich erschrocken den fließenden Rinnsalen aus. Sadi zog nochmals mit aller Kraft an der Plane. Er weckte den Adler, der darunter schlummerte, und die Flügel hoben sich und lösten den Rest ab, der noch am Boden haftete. Es war anstrengend, die schwere Decke vollständig von dem Vogel herunterzuzerren, aber die Mühe lohnte sich. Rote Augen blickten ihn glühend an. Dolchartige Krallen durchfurchten die harte Erde.

Ein lautes Lachen quoll aus Sadis Kehle. So musste es sein, genau so. Er und ein Eisenvogel und die Freiheit, überall hinzukommen, wo er hinwollte. »Lass uns fliegen, Großer.«

Das Pony stürmte davon und verschwand im Schneegestöber. Nun waren nur noch Sadi und der Adler da, der seinen scharfen, gebogenen Schnabel gegen Sadis Hand presste.

»Ich weiß. Ja, ich weiß, du magst die Kälte und den Schnee nicht. Nicht mehr lange, dann fliegen wir zurück nach Wabinar. Aber heute brauche ich dich für etwas anderes.«

Das Metall war so kalt, dass seine Hosen daran festklebten, doch das würde natürlich nicht genügen, um ihn sicher auf dem Eisenvogel zu halten. Schon griffen die Eisenklammern nach ihm und hielten ihn im Sattel fest. Die Flügel bewegten sich stärker, Eisklumpen flogen in alle Richtungen davon. Sie hoben ab. Um sie herum tanzten die Schneeflocken, wehten Sadi ins Gesicht, die Kälte war so groß, dass sie ihm den Atem aus den Lungen trieb. Dann durchbrachen sie die Wolkendecke. Über ihnen schien die Sonne in einem kühlen Weiß, und unter ihnen breitete sich wie ein graues Meer die Wolkenschicht aus. Nur an wenigen Stellen waren die Gipfel der Berge zu erkennen, in Schnee getaucht, während die Tannen dunkle Schatten warfen.

Trotzdem wusste Sadi, wo Trica lag. Es war, als wäre ein Seil zwischen ihm und den Brandsteinminen gespannt, zwischen seinem Herzen und dem Ort, an dem die flammenden Steine schliefen. Der Adler hatte in der Ferne das goldene Leuchten der dajanischen Wüste erspäht; ihn zog es dorthin. Ohne die geringste Anstrengung wölbte Sadi seinen Willen über den des magischen Tieres. Außerdem wünschte er sich Wärme, er rief sie in seine Kleider, in die Luft, die ihn umgab, bis er die Hitze der Wüste um sich trug wie einen Mantel. Er wartete, bis sich die Wärme auch auf den Vogel übertrug. Der Brandstein in dessen Brust loderte auf, und hastig lenkte Sadi die Wüstenhitze von dieser Stelle fort. Mit Brandsteinen durfte man nicht spaßen. Matino hatte ihn eindringlich davor gewarnt. Einmal, ein einziges Mal, hatte der Prinz ihn verprügelt. Das war, nachdem Sadi einen der kostbaren Eisenvögel in Flammen hatte aufgehen lassen. Sadi hatte seine Lektion gelernt.

Behutsam ließ er die Wärme von der Leibesmitte des Adlers fortfließen und bis in die Flügelspitzen fluten.

»Trica.«

Der Eisenvogel glitt wie ein Schiff über das Wolkenmeer. Sadi konnte Trica fühlen, konnte die Brandsteine spüren wie ein schlagendes Herz, die Seele der Welt. Er lenkte den Steppenadler tiefer, wieder tauchten sie ins Grau, Schnee wirbelte um sie herum, und Graupelkörner stachen ihn wie Nadeln. Baumwipfel ragten wie bizarre Felsen aus dem Schneegestöber. Sie konnten nirgends landen. Durch die Äste zu brechen war zu gefährlich, und bei diesem Blindflug hätte er keine Lichtung gesehen, selbst wenn es eine gegeben hätte. Wo die Baumwipfel zu verschwinden schienen, mochten Dächer unter der Wolkendecke liegen oder ein Gebirgsbach. Er konnte den Adler nicht tiefer gehen lassen, ohne ihrer beider Sicherheit zu riskieren.

Sadi schimpfte leise über seine eigene Dummheit und überlegte. Trica lag in einem der südlichen Täler. Wenn er an einem Berghang landete und zu Fuß ging? Nein, das war zu weit. Oder wenn er ein Seil hätte und sich daran nach unten hangeln würde? Den Vogel konnte er über sich fliegen lassen, dieses Kunststück beherrschte er schon lange. Aber er hatte kein Seil. Ihm war klar, dass Yando ihm Hausarrest erteilen würde, sobald er ihn in die Finger bekam. Also musste er schnell eine Lösung finden, damit er vorher die Minen besuchen konnte und sich das alles auch gelohnt hatte.

Es blieb ihm nur eins übrig – er musste in einen Baum springen und hinunterklettern. Der Adler stimmte ihm zu und ging tiefer, so tief, dass seine Flügelspitzen die Bäume streiften. Das war das Gute an Eisenvögeln. Sie machten einem keine Vorhaltungen, sie sprachen keine Warnungen aus, sie taten einfach, was man ihnen befahl.

Die Klammern um seine Waden lösten sich. Er hangelte sich daran herunter, hielt sich mit dem einen Arm fest, bis er mit den Beinen zwischen zwei Tannen baumelte, und versuchte, mit den Füßen Halt auf einem der oberen Äste zu finden. Dann machte der Vogel eine ruckartige Bewegung nach oben, und Sadi streifte mit den Füßen die Spitze der Tannen. Zapfen lösten sich und fielen polternd nach unten. Seine Finger verloren den Halt, und er krachte durch die Äste. Sadi schrie vor Schreck, während der Boden ihm entgegenflog. Irgendwie bekam er einen rauen Zweig zu fassen, der ihm durch die Hände glitt und ihm die Haut aufriss. Er krachte durch weitere Äste, dann gelang es ihm, sich an einem Aststumpf festzukrallen. Ein abgebrochener Zweig bohrte sich schmerzhaft in seine Rippen. Kurz hing er da, keuchend, dann fanden seine Füße Halt auf einem dicken Ast unter ihm.

Eine ganze Weile bewegte er sich nicht und versuchte, sich von dem Schrecken zu erholen. Er lebte noch, immerhin, und er hatte sich auch nichts Schlimmeres als ein paar Kratzer und blaue Flecken zugezogen. Hoffte er jedenfalls. Der Schmerz lauerte irgendwo im Hintergrund. Er atmete tief durch und machte sich dann an den Abstieg. Die Tanne, auf der er gelandet war, schien endlos weit vom Boden entfernt. Einige Male bekam er mit den Stiefeln keinen Halt in den Astgabeln, rutschte auf vereisten Stellen aus und stürzte beinahe.

Dann, endlich, berührten seine Sohlen festen Grund. Er ließ sich auf die Knie sinken, bis sich seine zitternden Beine so weit erholt hatten, dass sie ihn wieder tragen konnten. Es regnete Schneeklumpen und Tannennadeln auf ihn herunter, doch die Bäume standen hier so dicht, dass kaum eine Schneeflocke die dunkle, von Nadeln bedeckte Erde erreichte. Sadi horchte auf das Knistern des Eises, während der Wind durch die Wipfel strich. Den Steppenadler über ihm in den Wolken konnte er kraft seines Willens fühlen, auch wenn er ihn nicht länger zu sehen vermochte.

»Gut«, murmelte er leise. »Trica. Sehen wir es uns an.«

Die Brandsteinmine musste ganz in der Nähe sein. Es hörte auf zu schneien, und nun konnte er den bitteren Schwefelgeruch der Steine wahrnehmen. Sobald sie aus ihrem Felsbett herausgeschlagen worden waren und mit der Luft in Berührung kamen, war ihr Duft unverkennbar. Yando hatte ihm erzählt, wie sie abgebaut wurden, und Matino war mit ihm in Gojad gewesen und hatte ihn kurz zusehen lassen, als ein Brandstein, nicht größer als ein Wachtelei, in ein Eisenpferd eingesetzt wurde.

Mühsam wankte er vorwärts. Einer seiner Knöchel tat ziemlich weh, und mit seinen Rippen stimmte etwas nicht. Bei jedem Atemzug fühlte er ein heftiges Stechen. Doch er biss die Zähne zusammen. Jede Stunde, die verging, würde Yando sich mehr aufregen. Wenn Sadi jedoch vor dem Mittagessen zurück war, konnte er so tun, als hätte er ganz in der Nähe der Jagdhütte im Schnee gespielt. Oder als hätte er sich verirrt. Hauptsache, sie merkten nicht, dass der Eisenvogel nicht an seinem Platz schlummerte.

Plötzlich stand ein blonder Mann vor ihm. Er war dunkel gekleidet, ähnlich wie die Jäger aus Königstal, und blickte überaus grimmig drein. Auf dem Rücken trug er ein Gestell aus langen Stäben, zwischen die etwas in einem Beutel geschnallt war. Sadi konnte das pulsierende Glühen spüren, das von dem Brandstein ausging.

»Du hast einen Brandstein bei dir?«, fragte er neugierig. »Darf ich ihn sehen?«

Der Mann bewegte sich nicht. Er starrte ihn eine Weile an, dann lächelte er breit. »Ich habe nichts dergleichen. Ich bringe Holzscheite heim.«

Sein Akzent verriet ihn. Er sprach ein flüssiges Wajunisch, aber aus Guna stammte er nicht. Nun fielen Sadi auch weitere Einzelheiten auf. Das blonde Haar des Mannes war gebleicht – an seinem Scheitel wirkte es dunkler. Trotz der Kälte trug er keine Pelzmütze. Welche Ausländer durften denn die kostbaren Brandsteine handhaben?

»Was tust du hier?«, fragte Sadi, und im nächsten Moment packte der Mann ihn am Kragen.

»Ein ganz schlaues Bürschchen bist du, was?«

»Wer ist das?« Ein zweiter Kerl kam aus dem Wald, auch er hatte ein Gestell auf dem Rücken, mit dem er Brandsteine transportiere. Sein Akzent war ebenfalls verräterisch.

»Nur ein Kind, das dumme Fragen stellt.«

Die beiden musterten ihn. Ihre Augen waren kalt, ihr Lächeln zu breit. Der Erste hielt ihn immer noch fest, und als Sadi versuchte, zurückzuweichen, riss er ihn sogar näher an sich heran. »Bist du allein, Junge? Wo sind deine Eltern?«

Sadi war bewusst, dass er sich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Die Männer würden ihn nicht gehen lassen. Sie hatten die Brandsteine gestohlen, das war ihm mehr als klar. Und so sehr er auch zappelte, er konnte sich nicht befreien. Wild vor Angst trat er dem Mann gegen das Schienbein, doch statt ihn loszulassen, versetzte ihm der Kerl einen Schlag ins Gesicht, der ihn vor Schmerz aufschreien ließ. Gleich darauf drückte sich eine Hand auf seinen Mund und erstickte seinen Schrei.

»Wir müssen ihn erledigen. Sofort, bevor er um Hilfe ruft.«

»Es ist nur ein Kind.«

»Ja, ein Kind, das uns gesehen hat. Verdammt, er könnte alles auffliegen lassen!«

Sadi suchte in sich nach seinen magischen Fähigkeiten und fand nur Todesangst. Instinktiv griff sein Wille nach der einzigen Waffe in Reichweite – nach den Brandsteinen.