Karim sog zischend die Luft ein, während er an Anyanas Seite die Treppe in die riesige Fertigungshalle hinunterstieg. Das Eisenschiff war überwältigend groß, ein Koloss aus Metall und Kraft. Die Luft roch nach heißem Metall und Blut, doch das Stöhnen der Sklaven ging im Hämmern und Dröhnen der Werkzeuge und Blasebälge unter.
»Hier.« Anyana führte ihn am Fuß der Treppe zur Seite, wo sie niemanden störten. Sie stand so dicht neben ihm, dass sie einander fast berührten. Er gab der Versuchung, seine Hand um ihre zu legen, nicht nach. Sie trugen die Kettenhemden und Helme von Soldaten und waren bislang nicht aufgefallen, und obwohl er ahnte, dass dies bald der Fall sein würde, wollte er das Schicksal nicht herausfordern. Stattdessen nickte er ihr zu. Sie waren an Ort und Stelle. Zeit, Wihajis Brief zu lesen.
Obwohl er Anyanas Gesicht nicht sehen konnte, spürte er ihre Anspannung. Sie zog die kleine Schriftrolle aus einer Seitentasche ihrer Tunika und öffnete sie. Mit gerunzelter Stirn las sie das Schreiben. Ungeduldig wartete Karim darauf, dass sie es ihm überreichte.
»Und?«, fragte er, obwohl er nicht sicher war, dass sie ihn bei dem Lärm hören konnte. »Was ist unsere Aufgabe? Oder wollte er uns einfach bloß aus dem Weg haben?« Auch das war seinem ehemaligen Herrn zuzutrauen. Die Schlacht in der Wüste mochte für den Aufrechten Mann bloß eine von vielen sein, doch er mochte es Karim nicht unbedingt zumuten, gegen seinen eigenen Vater anzutreten.
Stumm reichte Anyana ihm den Brief. Die Worte verschwammen vor seinen Augen. »Was?«, murmelte er entsetzt. Unmöglich.
Was Wihaji von ihm verlangte, war undenkbar. Und er hatte recht – wenn irgendjemand das tun konnte, dann Karim. Anyana war schon zweimal in einen Brunnen gesprungen, doch er war derjenige, der die Türen durchschreiten konnte.
»Geh nach Guna«, so lautete die knappe Anweisung. »Hol dir so viele Brandsteine wie nötig, um das Schiff zu zerstören.«
Nach Guna gehen. Am liebsten hätte Karim laut gelacht und dann gegen die Felswand geschlagen und geflucht.
Wie stellte Wihaji sich das vor? Selbst wenn er es schaffte, genau dort herauszutreten, wo er hinwollte – bei allem Üben mit Unya war es ihm nicht jedes Mal gelungen –, wie sollte er an Brandsteine kommen? Wenn er nicht den richtigen Zeitpunkt traf, würde es schwierig werden. Außer Selas und Lan’hai-yia kannte er niemanden, der ihm ohne Gegenleistung einen Stein verschaffen würde. Also musste er sich auf seine Vorfreude, seinen Bruder zu sehen, konzentrieren, damit der richtige Wunsch ihn durchs Tor brachte. Gelang es ihm nicht, hatte er ein Problem, doch auch für diesen Fall brauchte er einen Plan. Sich in die Mine schleichen und die Steine einfach stehlen? Denn niemand betrat eine Brandsteinmine und stellte Forderungen. Und selbst wenn er die Mission erfolgreich ausgeführt hatte, stand ihm die knifflige Aufgabe bevor, ohne Zeitverlust hierher zurückzukehren. Mit einem Brandstein im Gepäck konnte jeder kleine Fehler katastrophal enden.
Andererseits hatte Wihaji recht, das musste er widerwillig zugeben. Brandsteine waren die einzige Möglichkeit, um das Schiff zu vernichten oder wenigstens so stark zu beschädigen, dass Tizarun um Jahre in seinem Vorhaben zurückgeworfen wurde.
Er blickte sich nach einer Tür um. Durch offene Portale im Fels, die sich unter der Galerie befanden, gelangte man in andere Hallen oder nach oben in den Palast. Dies war Wabinar, wenn auch ein anderes, verzerrtes, albtraumhaftes Wabinar. Es gab keine Türen.
Anyana berührte ihn am Arm. Sie zeigte auf das Schiff, und dort sah er endlich, was er brauchte: eine in die Metallwand eingelassene Tür. Er nickte. Es gab tausend Einwände und doch kein Zurück. Wenn man sie hier unten entdeckte, lag dort sein einziger Fluchtweg – in ein anderes Land oder zu einem anderen Kontinent. Wenn er es schaffte. Anyana hingegen hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Die Furcht um sie schnürte ihm die Kehle zu. Angst war ein schlechter Begleiter, also musste er diese Tür besser unerkannt erreichen, indem er möglichst lässig dorthin spazierte.
Anyana folgte ihm durch das Gewölbe.
Der Lärm. Der Rauch. Die unzähligen schwitzenden, in Lumpen gehüllten Körper, das Fauchen der Peitschen. Die leeren Gesichter der Sklaven weckten einen Zorn in Anyana, den sie kaum niederzwingen konnte. Sie wollte all das hier zerstören. Sie wollte Tizarun vom Thron stürzen! Dieser elende Tyrann! Das hier waren seine Untertanen. Er war für sie verantwortlich, und er hatte kein Recht, sie für seine Sehnsucht zu opfern.
Fest den Blick auf das Schiff gerichtet, lief sie hinter Karim her.
»Jinan?« Eine Hand legte sich auf ihren Arm. Mago, zerlumpt, schmutzig, das Gesicht gerötet von Hitze und Anstrengung. Ein Mann von Anfang dreißig. An sein neues Alter hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt. Doch die Veränderung konnte ihre gemeinsame Geschichte nicht auslöschen.
»Du bist es doch, Jinan?«
Karim hatte das Schiff beinahe erreicht. Sie rief ihn nicht, denn sie lenkte jetzt schon die Aufmerksamkeit auf sich. Überall ringsum hoben sich die Köpfe der Sklaven. Zum Glück war noch keiner der Wächter zu ihnen unterwegs, um Mago für die Unterbrechung zu bestrafen.
»Was tust du hier?«, zischte er. »Weißt du nicht, dass der Flammende König dich suchen lässt? Er hat die Anweisung erteilt, dass alle nach dir Ausschau halten sollen. Glaubst du, dieser lächerliche Helm macht dich unkenntlich? Du musst sofort verschwinden. Wenn es nicht schon zu spät ist.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Anyana, wie die Arbeiter sich aufrichteten. Sie behielten ihre Werkzeuge in der Hand – gewaltige Hämmer, Eisenstangen, anderes Gerät, das sich bestimmt hervorragend zum Zuschlagen eignete.
Mittlerweile war Karim an der Tür im Schiffsrumpf angekommen und drehte sich zu ihr um. Sein Helm verbarg, was immer er empfand, als er sie umringt von bewaffneten Sklaven sah. Der Auftrag war das Wichtigste. Sie mussten Tizarun stürzen, und deshalb musste Anyana dafür sorgen, dass niemand Karim beachtete.
Also griff sie nach ihrem Helm und nahm ihn ab. Rotes Haar ergoss sich über ihre Schultern. Um sie herum verzerrten sich die Gesichter zu Masken des Zorns. Auch Mago, dessen bärtiges Männergesicht ihr so fremd war, starrte sie an.
»Ich bin hier, um euch zu befreien!«, rief sie. »Ihr seid bewaffnet. Ihr seid stark. Die Wächter sind in der Unterzahl. Folgt mir nach draußen! Folgt mir in den Wald von Anta’jarim, wo sich der Aufrechte Mann um euch kümmern wird!«
Natürlich war es nicht so einfach. Rebellionen entstanden nicht aufgrund einer kurzen Brandrede, mochte sie noch so viel Wahrheit enthalten. Die Sklaven kamen drohend näher. Der Aufseher, der sich durch die Reihen schob, hatte zwar kein Schwert, jedoch einen Knüppel, den er in der Hand wog. An seinem Gürtel klemmte eine lange Peitsche.
Mago sprang vor und schob Anyana hinter sich. »Keiner rührt sie an!«, brüllte er.
Sie wagte einen raschen Blick über die Schulter. Karim stand auf der Leiter, die hoch zum Rumpf führte, und legte die Hand an die Tür. Er hatte den Helm abgenommen und nickte ihr zu, seine dunklen Augen funkelnd im Licht der magischen Kugeln. Seine Lippen formten Worte, die sie erraten musste.
Vertrau mir.
Vielleicht sagte er auch: Ich liebe dich.
Dann öffnete er die Tür und verschwand im Inneren des Schiffs.
Keine Angst. Du kannst rechtzeitig zurück sein.
Er durfte sich nicht fürchten, oder die Tür würde nur in das Schiff führen – und was sollte er da? In dem Fall wären sie beide verloren. Karim mochte einer der besten Kämpfer von Kanchar und Kato sein, aber gegen eine solche Übermacht hatte auch er keine Chance.
Er sammelte sich, drückte gegen die Metalltür und trat hindurch. Und sofort war alles anders. Kälte wehte ihn an, auf einen Schlag war er völlig durchgefroren. Milchiges Licht tröpfelte durch die Äste der Tannen. Auf der Lichtung, auf der er stand, reichte ihm der Schnee bis zu den Knien, durchweichte seine Hose und kroch ihm in die Stiefel.
Karim fluchte leise. Offensichtlich hatte es geklappt, und er war in Guna gelandet, doch ein weniger verschneites Guna wäre ihm lieber gewesen, schließlich hatte er sich erst Stunden zuvor in der Wüste aufgehalten.
Während er drauflosstapfte, versuchte er, sich zu orientieren. Der Himmel war grau und verhangen, der Stand der Sonne dahinter nicht zu erkennen – irgendwann am Vormittag, schätzte er. Wie weit er von Trica entfernt war, konnte er ebenfalls nur vermuten. Sein Wunsch hatte ihn hergebracht, also konnte die Mine nicht weit sein. Eigentlich hätte er schon die Geräusche des Dorfes hören müssen, das Lachen der Kinder, die Rufe, all das, was das Dorfleben ausmachte. Doch alles war still. Nur der Frost knisterte in den Tannen. Ein kalter Wind wehte ihm die schweißnassen Haare aus der Stirn. Zwischen den Stämmen huschte ein grauschwarz geflecktes Eichhörnchen davon. Und vor ihm, beinahe wäre er darüber gestolpert, lag eine Tür. Eine breite, doppelflügelige Luke, nicht völlig flach am Boden, sondern schräg in den Hang eingefügt. Es konnte nicht lange her sein, dass jemand den Schnee darauf weggeschoben hatte, denn die fallenden Flocken hatten nur eine hauchfeine Schicht auf dem Türblatt gebildet. Ringsherum war der Schnee höher aufgetürmt. Wärme schien durch das Holz zu dringen, doch vielleicht bildete er sich das auch bloß ein. Manchmal fiel es ihm schwer, seine magischen Wahrnehmungen von seinen körperlichen Sinnen zu unterscheiden.
Es musste sich um einen Tunnel in den Berg handeln. Karim betrachtete die Spuren, die von der Luke wegführten; keine kam hierher. Er bückte sich und versuchte, die Luke zu öffnen. Sie war abgeschlossen, doch das war für einen Wüstendämon kein Hindernis. Im Handumdrehen hatte er das Schloss aufgebrochen und spähte in die Dunkelheit eines Schachtes. Es roch nach dem unverwechselbaren Schwefelduft von Brandsteinen.
Das war nicht der offizielle Eingang zur Mine von Trica. Es war ein anderer Zugang – geheim, an einer verborgenen Stelle auf der gegenüberliegenden Seite des Berges. Karim wollte schon hineinsteigen und sich seine Brandsteine holen, denn dafür war er schließlich hier. Sein Wunsch hatte ihn an einen Ort gebracht, an dem er nicht einmal an irgendwelchen Wachen vorbeimusste. Doch er zögerte. Die Fußspuren waren frisch, nicht einmal eine Stunde alt. Wenn er sich beeilte, konnte er die Männer einholen. Ihren Stiefelabdrücken nach zu urteilen waren sie zu zweit. Die Spuren waren tief, also trug jeder von ihnen eine schwere Last. Man brauchte keinen besonderen Scharfsinn, um zu erraten, dass sie Brandsteine bei sich hatten.
Brandsteine, die bereits aus dem Fels geschlagen waren. Es gab keinen Weg, einfacher an das heranzukommen, was er benötigte, als auf diese Weise. Und außerdem wollte Karim wissen, wer sich an der Mine bediente. Welche Schmuggler wagten es, mit solch gefährlicher Ware zu handeln? Er hatte ganz andere Sorgen und musste so schnell wie möglich zurück nach Kato, und dennoch konnte er diese Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen.
Sacht schloss er die Luke wieder und folgte den Spuren im Schnee.
Wer Brandsteine transportierte, konnte nicht schnell sein. Karim taute seine klammen Füße auf – sich Wärme zu wünschen genügte schon – und lief los, nicht zu schnell, um nicht zu rasch zu ermüden, und doch so stramm, dass er eine Chance hatte, die Schmuggler einzuholen. Der Wald wölbte sich über ihn wie eine knochige Hand. Seltsamerweise fühlte er sich trotzdem geborgen. Im Schnee wisperten die Stimmen Gunas, die wilden Geschichten von Lichtgeborenen und alten Helden. Doch plötzlich durchdrang eine viel lautere Stimme die schläfrige Winterstille. Zwei Männer stritten. Jemand gab ein schwaches Geräusch von sich. Karim rannte schneller. Ein Streit, bei dem Brandsteine im Spiel waren, konnte übel ausgehen. Da waren sie schon, er sah dunkle Gestalten zwischen den kahlen Stämmen der Tannen. Zwei große Kerle, jeder von ihnen mit einem aufwendig konstruierten Tragegestell auf dem Rücken. Und eine kleinere Gestalt, ein Junge oder eine Frau. Der Mantel, den sie trug, war zu unförmig, um es genau zu erkennen. Einer der Männer hatte die Hände um den Hals dieses Dritten gelegt, während der andere lauthals auf ihn einredete.
Karim spürte die Gefahr, bevor er den verräterischen Duft wahrnahm. Die Steine! Sie entzündeten sich gerade, womöglich schlugen sie innerhalb ihrer Umhüllung aneinander. Gleich würden sie in die Luft fliegen.
»Nein!« Er sprang vor. Das Risiko, das er damit einging, war ihm in diesem Moment gleich. Er konnte nicht zulassen, dass diese Frau oder dieses Kind ums Leben kam. Es war ein Junge – jetzt da er das Gesicht sehen konnte, die weit aufgerissenen erschrockenen Augen, wurde ihm die Gefahr noch deutlicher. »Lasst ihn los!«
»Und was hast du damit zu tun?«, fragte der Mann verächtlich. »Verschwinde.«
Die Steine wurden heißer. Karim konnte die Hitze spüren, die magische Kraft, die sie ausströmten. Während er auf die Gruppe zuging, wurden ihm immer mehr Dinge klar. Der Junge, der kaum unter seiner großen Fellmütze zu erkennen war, fürchtete sich, machte jedoch keinerlei Anstalten, wegzulaufen. Es war, als würde irgendetwas ihn dort halten, eine Verbindung. Zu einem der Männer? Nein, es war wie eine dünne Schnur, die ihn … mit den Brandsteinen verband, ein Faden aus Wille und Zorn.
Oh ihr Götter, das Kind war ein Magier! Wusste es überhaupt, was es da tat? Karim hatte nie zuvor davon gehört, dass jemand Brandsteine nur mit seinem Willen entzündete. Ihn graute, als ihm bewusst wurde, dass sie kaum eine Viertelstunde vom Eingang der geheimen Mine entfernt waren. Der von Wut und Furcht entflammte Aufruhr des Kindes übertrug sich nicht nur auf die Steine, die die Schmuggler bei sich hatten, sondern fand ein fernes Echo unter ihnen im Berghang.
»Kalini, sei uns gnädig«, flüsterte Karim, dann hob er entschlossen den Kopf. Was immer er unternahm, es musste schnell gehen, bevor ganz Guna in Stücke gerissen wurde.
»Das ist mein Sohn«, sagte er mit fester Stimme. »Ich rate euch dringend, ihn loszulassen. Sofort. Nehmt eure Tragen ab und verschwindet.« Würden sie sich tatsächlich auf einen Kampf einlassen – mit Brandsteinen auf dem Rücken?
Er trat noch näher, während ihn der Junge überrascht anstarrte. Zögernd löste der Mann seinen Griff, und Karim fasste das Kind bei den Schultern. »Lauf«, befahl er. »Lauf, so schnell du kannst.«
Schwarze Augen, umrahmt von langen schwarzen Wimpern, schwarze Strähnen, die unter der Fellmütze hervorlugten, samtbraune Haut. Kein Einheimischer. Und bei der magischen Kraft, die der Junge besaß, war es nicht schwer zu erraten, woher er kam. Was tat ein kancharisches Kind in Guna? »Lauf!«
Der Mann hob die Faust. Karim duckte sich und schlug sofort zu. Er traf den Schmuggler in den Bauch, und der Kerl klappte zusammen. Karim tat ihm den Gefallen und fing ihn auf, legte ihn behutsam in den Schnee und löste mit zwei raschen Messerschnitten die Tragegurte. Vorsichtig hob er die eingewickelten Steine hoch. Der zweite Mann starrte ihn entsetzt an, drehte sich dann um und rannte davon.
Verdammt! Man durfte nicht laufen, nicht mit Brandsteinen. Karim legte seine Beute vorsichtig ab, versetzte dem ersten Mann einen Schlag an die Schläfe, der ihm das Bewusstsein raubte, und eilte dem zweiten hinterher. Das Grollen im Erdinneren nahm zu. Die Zeit lief Karim davon, ein einziger Funke konnte ein Inferno auslösen, das halb Guna zerstören würde. Unzählige Menschenleben waren in unmittelbarer Gefahr. Er hatte keine Zeit für Spielchen. Der Kerl verschwand zwischen den Baumstämmen, und hier unter den Tannen lag kaum Schnee, der seine Spuren sichtbar gemacht hätte. Karim streckte die Hand aus und sprach einen Wunsch aus: »Sei gelähmt.«
Joaku beherrschte diesen Zauber zur Vollendung. Karim hingegen hatte ihn bisher noch nie angewandt, ihn nur am eigenen Leib zu spüren bekommen. Ihm blieb keine Gelegenheit, sich mit Zweifeln und Hemmungen abgeben. Er sprach die Worte mit aller Entschiedenheit, und das Geräusch hastiger Schritte brach ab. Der Mann war nicht zu sehen, aber nun brauchte Karim nicht mehr lange, um ihn hinter einer Tanne zu entdecken, an den Stamm gepresst, das Gesicht verzerrt vor Angst und Schrecken. Die Magie hatte gewirkt, der Schmuggler konnte sich nicht rühren. Karim drehte ihn so, dass er an die Trage herankam und die Brandsteine losschneiden konnte. Behutsam hielt er sie in den Händen und wirkte mit seinem Willen auf sie ein, um sie zu beruhigen. Um den magiebegabten Jungen würde er sich gleich kümmern, sobald die unmittelbare Gefahr abgewendet war. Wie bei einer lebendigen Seele in Aufruhr wirbelte Hitze durch die Steine, zuckende Flammen, die ihre schützende Hülle auseinanderzureißen drohten.
Er legte seinen Willen besänftigend darüber. War so etwas je zuvor versucht worden? Aber er hatte ja auch noch nie davon gehört, dass jemand die Steine durch bloße Willenskraft entflammt hätte. Ein Gedanke zuckte durch seinen Geist, eine Idee …
Erstarrende Lähmung. Denselben Zauber, den er eben über den Schmuggler gelegt hatte, breitete er nun über die Steine. Er ging mit ihnen um, als seien sie lebendig – und wie Eisklumpen, die von außen nach innen gefroren, schienen sie innezuhalten. Jetzt fühlten sie sich für seine Sinne nicht anders als gewöhnliche Felsbrocken an. Er lauschte, tastete mit seinem Willen die Umgebung ab und erschrak, als er etwas Brennendes über sich erahnte. Ein Wille, gebunden wie ein Hund an der Kette. Ein Eisenvogel, der sich in den Wolken über ihnen verbarg. Der Anzahl der gefangenen Seelen nach, die miteinander im Widerstreit lagen, war er größer als ein Wüstenfalke. Ein Steppenadler.
Karim ließ ihn, wo er war. Der Wille, der den Vogel an Ort und Stelle hielt, war stark wie eine Eisenkette. Er fluchte leise, als er sich auf die Suche nach dem kancharischen Jungen machte.
Schnee knirschte unter leisen Schritten.
Karim brauchte nicht lange, um den jungen Magier zu finden. Er war nicht weggelaufen wie befohlen, sondern hatte ihn vermutlich die ganze Zeit über beobachtet. Mit der ganzen Unbekümmertheit eines Kindes, das sich selbst für unverwundbar hielt, näherte es sich ihm. »Was hast du mit den Männern gemacht? Sag mir, wer du bist!«
Der Junge war recht klein, doch schon beinahe in dem Alter, in dem er einen Wachstumsschub erwarten durfte. Zwölf oder dreizehn Jahre vielleicht. Doch er sprach mit ihm, einem Erwachsenem, wie ein kleiner Herzog.
Karim fasste ihn näher ins Auge und nahm die Details seiner Kleidung wahr. Der Mantel war aus feinster Wolle, der Pelzkragen … War das Leopard? Der auffällig schöne Pelz stammte jedoch nicht von den dunkelgefleckten Raubkatzen, die hin und wieder in Guna auftauchten. Dieses makellose, nur leicht mit schwarzen Tupfen gesprenkelte Weiß fand sich ausschließlich im Fell der talandrischen Bergleoparden. Die Hose, an der Schneematsch klebte, war ebenfalls aus sorgfältig gefütterte Wolle, die Stiefel aus feinstem Leder, mit Pelzumschlägen versehen. Dieser Junge war nicht nur ungewöhnlich magiebegabt, sondern auch ungewöhnlich gekleidet. Ein kancharischer Prinz? Verdammt, was tat er hier in Guna? Dabei wusste Karim nicht einmal, was draußen in der Welt vor sich ging. Zu welcher Zeit war er hier aufgeschlagen – in der Vergangenheit, während Kanchar die Oberherrschaft innehatte? Oder hielt die Zukunft Übles bereit? Karim hielt nach einem Wappen Ausschau, nach der Wüstenblume, und entdeckte die blitzende Kante eines Ansteckers, den der Kragen fast vollständig verbarg.
»Ich warte«, sagte der Junge schroff. Er sprach Wajunisch mit dem melodischen Akzent eines echten Gunaers. »Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?«
Er schien nicht einmal daran zu denken, dass er in Gefahr sein könnte. Das mochte leichtsinnig sein, nachdem er gerade erst angegriffen worden war, doch Karim wusste um den Eisenvogel in den Wolken. Der Junge verließ sich auf seine magischen Fähigkeiten, die ihm und Tausenden von Menschen eben beinahe das Leben gekostet hätten.
»Dasselbe möchte ich Euch fragen, Kalazar«, entgegnete Karim geschmeidig. »Ihr seid ohne Begleitung unterwegs. Das dürfte Euren Leibwächtern nicht gefallen.«
Der Junge verengte die Augen. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich Leibwächter habe? Du kennst mich überhaupt nicht. Außerdem ist Kalazar der falsche Titel. Ich bin kein Kalazar.«
Karim hatte keine Zeit, um sich mit diesem Kind zu streiten, das er gerade gerettet hatte. Und doch dämmerte ihm auf einmal, wo die Tür ihn hingeführt haben könnte. Er hatte sich zu den Brandsteinen nach Guna gewünscht, doch man konnte sein eigenes Herz nicht überlisten. Was ihm die ganze Zeit über zu schaffen gemacht hatte war Anyanas Kind. Und ihre Verbindung zu Sadi.
Sadi, den sie in einem verschneiten Wald getroffen hatte. Oh ihr Götter – war das etwa sein Halbbruder?
»Nein, das bist du wohl nicht«, sagte Karim. Eine schnelle Handbewegung, und er riss dem Jungen die Mütze vom Kopf. Darunter kam ein schmales, dunkles Gesicht zum Vorschein, das von glänzendem schwarzem Haar umrahmt wurde. Sein bronzefarbener Teint war hier im winterlichen Guna blass und würde sich unter der kancharischen Sonne rasch in ein sattes Hellbraun verwandeln. Die Lippen, die sich empört aufeinanderpressten, waren voll und sanft geschwungen. Die Ähnlichkeit zu ihrem Vater war da, war, wenn man es wusste, unverkennbar. Die ziselierte Brosche unter dem Kragen war schon keine Überraschung mehr: eine Sonne mit Strahlen aus Bronze um die goldene Mitte.
Dies hier war Tizaruns Sohn, sein leiblicher Sohn, der Erbe von Le-Wajun. Die Sonne. Seine verräterischen Wünsche hatten ihn direkt zu Anyanas jungem Bräutigam geführt. Doch es war schwer, ein unschuldiges Kind als Feind zu betrachten. Er vermochte es nicht, erst recht nicht, nachdem er ihm gerade erst das Leben gerettet hatte.
Die Augen des Jungen blitzten gefährlich. »Bist du ein Wegelagerer, ein Dieb? Gehörst du zu den anderen?«
»Ich bin ein Magier«, sagte Karim. »Und nur aus einem Grund hier im Wald: Um die Brandsteine, die diese Kerle gestohlen haben, in Sicherheit zu bringen. Mein Name tut nichts zur Sache. Geht das hier schon länger so? Es gibt offenbar einen Nebeneingang zur Mine von Trica.«
Sadi zuckte mit den Achseln. »Das wird den König nicht freuen.«
»Den König?«
Wie arrogant dieser Knabe schauen konnte. »König Selas. Weißt du denn gar nichts?«
Selas war König? Offenbar erwartete ihn eine Überraschung nach der anderen. Selas als König von Guna! Karim wünschte sich, er könnte ihn besuchen, doch für ein Familientreffen war keine Zeit. Er musste die Brandsteine sichern. Und die Schmuggler befragen, obwohl das eigentlich nicht seine Aufgabe war. Doch ließe er sie einfach im Schnee liegen, bis Sadis Leute kamen, würden sie erfrieren und ihr Wissen mit in den Tod nehmen.
Karim kehrte zu dem Mann zurück, den er niedergeschlagen hatte, und weckte ihn, indem er ihm die Hände an die Schläfen legte. Sadi folgte ihm neugierig und sah zu, wie der Fremde stöhnte und schließlich die Augen aufschlug.
»Die Mine«, sagte Karim. »Wie lange plündert ihr sie schon? Und für wen?«
Der Mann versuchte, ihn anzuspucken. Karims Griff wurde fester. Ein Wüstendämon wusste, wie man Verhöre führte, doch der Junge war dabei, deshalb musste er behutsamer zu Werke gehen. Er wollte nicht, dass Sadi mitbekam, wie der Schmuggler vor Schmerzen schrie. Er hätte durchaus noch behutsamer vorgehen und dem Mann Vertrauen einflößen können, so wie er es damals mit Kirian gemacht hatte, doch dafür fehlte ihm die Geduld.
»Für wen? Wer hat den Tunnel gegraben? Wohin bringt ihr die Steine?« Er ahnte, wie die Antwort lautete: Nach Kanchar. Sie brauchten neue Brandsteine für ihre Eisentiere, und wenn Guna den Handel eingeschränkt hatte …
Der Mann verdrehte die Augen, als ihm der Schmerz die Sinne raubte. »Anta’jarim«, stieß er hervor. »König Laikan.«
»Was?«, fragte Sadi. »Wieso Anta’jarim? Was wollen die denn mit Brandsteinen?«
Karim ließ den Kerl los. Seine Gedanken überschlugen sich, setzten die Mosaikteile zusammen. Als er durch eine andere Tür gegangen war, hatte er mit Dilaya gesprochen, zu einer Zeit als der Krieg gerade begonnen hatte. Sie hatte eine Eisenarmee erwähnt. Eiserne Soldaten. Von hier kamen die Brandsteine, nicht in ehrlichem Handel erworben, sondern gestohlen. Unter den Augen des neuen Königs.
Verdammt!
Nun konnte er nicht einfach verschwinden. Diese Sache war zu wichtig. Er musste dafür sorgen, dass Selas so schnell wie möglich hiervon erfuhr.
Karim sprach erneut den Lähmungszauber, der ihm immer leichter von den Lippen ging, dann sammelte er die Brandsteine ein.
»Du hast das gehört«, sagte er zu Sadi. »Diese Männer dürfen auf keinen Fall entkommen. Kannst du sie bewachen und darauf achten, dass sie nicht erfrieren? Kannst du sie wärmen, ohne sie umzubringen? Ich werde den König benachrichtigen.«
Sadi nickte. Ohne Fragen zu stellen, sah er zu, wie Karim Schnee in seinen Händen sammelte und schmolz. Und sich über die behelfsmäßige Schale beugte. Karim wartete eine Weile, Selas’ Gesicht erschien jedoch nicht. Damit hätte er rechnen müssen. Niemand hielt sich unablässig in der Nähe einer Wasserschale auf, was gerade jetzt, da Karim es eilig hatte, zu ärgerlich war.
»Wir müssen bis zum Mittag warten, wenn der König eine Mahlzeit zu sich nimmt.«
Sadi zuckte mit den Achseln. »Oder du wartest hier, und ich fliege zurück und statte dem König einen Besuch ab.«
Karim richtete den Blick nach oben in die Wolken. »Ich habe mir schon gedacht, dass es deiner ist.« Es war äußerst großzügig von den Kancharern, einem ausländischen Prinzen einen Eisenvogel zu überlassen. Doch der Kaiser wusste natürlich, wer seine Geisel in Wirklichkeit war. Ob Sadi sich seiner Vergangenheit als Prinz Wenorio bewusst war? Besaß er Erinnerungen an sein erstes Leben, oder hielt er seine magischen Gaben für einen Zufall?
»Wie willst du hinaufkommen? Er kann hier nicht landen, die Bäume stehen zu dicht.« Die Lichtung, auf der er eingetroffen war, war ein gutes Stück entfernt, und er war sich auch nicht sicher, ob er sie wiederfinden würde.
Mit gerunzelter Stirn starrte der Junge hoch. »Ich werde auf einen Baum klettern.«
Das ist zu gefährlich, wollte Karim einwenden, doch er hielt sich zurück. Woher kam die plötzliche Sorge um dieses Kind, das eines Tages sein Nebenbuhler sein würde? Erst als der Knabe loshumpelte und nach den abgebrochenen Aststumpen der nächsten Tanne griff, erkannte er, dass Sadi verletzt war. Wie blind war er gewesen! Das Hinken. Die Blässe der braunen Haut. Die Art, wie sich der Junge auf die Lippen biss.
»Warte!«, rief er ihm nach. »Habt ihr einen guten Heiler? Ist Linua bei euch?«
»Linua?«, fragte Sadi. »Ich kenne keine Linua.«
»Ich bin kein ausgebildeter Heiler, aber zeig her.« Jeder Magier konnte auch ein wenig heilen. »Ist es nur der Fuß? Wo hast du noch etwas abbekommen? Was haben die beiden Männer dir angetan?« Vielleicht sollten sie doch kurzen Prozess mit ihnen machen.
»Mir geht es gut«, knurrte der Junge. »Es war nur … nur der Abstieg. Ich bin gestürzt.« Er wandte das Gesicht ab, während er seinen Mantel öffnete. Das feine Hemd darunter war blutgetränkt.
»Du solltest dich vor Schmerzen kaum bewegen können. Hast du ihn verdrängt?« Wer hatte ihm das beigebracht? Das war Geheimwissen der Wüstendämonen. Hatte Joaku etwa seine Finger mit im Spiel? Unterrichtete der Meister des Todes den zukünftigen Großkönig von Le-Wajun? Das waren keine guten Neuigkeiten. Vielleicht sollte er doch um sein Erbe kämpfen, so wie er um die Frau kämpfen wollte, die er liebte.
Doch er brachte es nicht fertig, ein verletztes Kind einfach sich selbst zu überlassen. Behutsam legte Karim die Hände auf den knochigen Brustkorb des Jungen. Zwei Rippen waren gebrochen, eine davon hatte die Lunge verletzt. Anstatt den Schmerz wie ein Held zu bekämpfen, hätte der Junge sofort nach Wabinar fliegen sollen, um sich dem Meisterheiler anzuvertrauen. Verdammt! Dieses Kind war viel zu leichtsinnig, viel zu begabt, viel zu stur.
Karim ließ Wärme aus seinen Händen strömen, hinein in den Knochen, in das zerstörte Gewebe. Wünsche konnten Wunder bewirken, heilen, was zerbrochen war, zusammenfügen, was zusammengehörte. Manchmal war der Wille zu schwach, manchmal vermochte man nicht zu glauben, dass man tatsächlich etwas bewirken konnte, doch in solchen Zeiten wurden die Wünsche lebendig. Hoffnung. Das war es, was Unya ihn gelehrt hatte. Der Wille spielte keine Rolle, wenn man seiner Seele Raum gab. Es war der Wunsch, der aus den Tiefen des Herzens kam, der Türen öffnete und sogar Mauern durchbrach.
Bruder, dachte er zärtlich. Es war nichts, was er denken oder gar fühlen wollte. Er musste daran festhalten, dass die Seele eines getöteten Prinzen in dem Leib des Jungen steckte, und doch … es spielte keine Rolle. Überhaupt keine. Sadi war Sadi, und jede Entscheidung, die er traf, machte ihn zu dem, was er war.
»Besser?«, fragte Karim. »Du kannst jetzt den Schmerz loslassen. Vorsichtig, nicht alles auf einmal. Tu es jetzt, solange ich noch hier bin.«
Sadi nickte. Er atmete aus, keuchte, sein Gesicht wurde grau. Mit einem leisen Seufzer fiel er gegen Karim, der ihn festhielt, ihn mit beiden Armen umschlang. Dann war es vorbei.
»Du verrückter Kerl. Ich habe doch gesagt, nicht alles auf einmal.«
»Ich wollte es rasch hinter mich bringen.«
Natürlich. Wie hatte Karim auch etwas anderes erwarten können?
»Dann hinauf mit dir. Sag Selas, dass es Krieg geben wird. Laikan und Tenira werden gegen Kanchar ziehen. Kein einziger Brandstein darf Guna verlassen. Er muss die Grenzen sofort abriegeln und die Mine schließen, auch den Eingang in Trica. Kanchar und Le-Wajun steht der schlimmste Krieg bevor, der je geführt wurde.«
Sadi starrte ihn an. »Der König wird mir nicht glauben.«
»Doch, das wird er, wenn du ihm sagst, was du gesehen hast. Hier, siehst du?« Er hielt ihm seine Hand hin. Der Ring des Großkönigs war blutverschmiert und dennoch unverkennbar eine Sonne.
Verwirrt starrte Sadi darauf. »Was ist das?«
Er hatte ihn nie gesehen. Es gab nur zwei – Teniras Ring und diesen. Und einen dritten, den Wihaji trug. Einen Ring, für den es keine Erklärung gab.
»Sag es ihm einfach. Und jetzt geh.«
»Wer bist du?«, fragte der Junge. »Woher kennst du König Selas?«
Karim hätte ihm seinen Namen nennen können. Einen kurzen Moment lang erwog er, sich Sadi zu erkennen zu geben. Doch dann schreckte er doch davor zurück. Ein Kind wie Sadi würde sich nicht mit einer bloßen Vorstellung zufriedengeben. Er würde Fragen stellen oder, schlimmer noch, ihm vorwerfen, seinen Vater ermordet zu haben. Von einem Augenblick auf den anderen konnten sie Feinde sein. Nein, es war besser, er blieb ein Fremder für Sadi.
Karim half ihm, die unteren beiden Meter der Tanne zu überwinden, und bot ihm seine Hände als Räuberleiter an. Er würde nicht mehr hier sein, wenn die Gunaer kamen. Und voraussichtlich würde er seinen kleinen Bruder nie wiedersehen. Das, was Wihaji von Karim verlangt hatte, konnte sehr leicht seinen eigenen Tod bedeuten. Er mochte nicht darüber nachdenken. Vielleicht musste es so kommen, vielleicht würde erst dann alles einen Sinn ergeben. Seine Liebe. Der Verlust, der ihm bevorstand; eines Tages würde Anyana Sadi heiraten. Wie er sich eingestehen musste, hätte sie es schlechter treffen können.
»Pass auf dich auf«, sagte er noch.
Dann wandte er sich ab und sammelte die Brandsteine ein. Er musste zurück, in einen anderen Krieg. Durch eine Tür. Da es hier im Wald keine Türen gab, hatte er noch den Rückweg zu der Luke vor sich. Stumm betete er zu den Göttern darum, dass er zur rechten Zeit zurückkehrte und Anyana noch lebte.