Was zuletzt geschah

Sie sagen, die Götter lenken die Entscheidungen der Menschen. Sie weben einen Teppich, bunt und voller Muster. Namen werden verflochten und zu Fäden verbunden. Manchmal genügt ein kurzer Augenblick, um einen neuen Faden ins Muster zu knüpfen. Manchmal reißt ein Faden. Doch die Götter verlangen Vertrauen.

Anyana von Anta’jarim glaubte an die Götter, obwohl diese ihre Augen vor ihrem Leid verschlossen und sie ihrem Schicksal überlassen hatten. Sie war die rechtmäßige Herrscherin von Wajun! Nach Großkönig Tizaruns Ermordung waren sie und Sadi, der kleine Sohn des Großkönigspaares, die neue Sonne – so war es per Gesetz beschlossen. Die Götter hätten die Hand über sie halten sollen, und doch hatten sie zugelassen, dass Großkönigin Tenira ihre Familie ermordete. Sie hatten zugelassen, dass Anyana jahrelang als Sklavin in den Kolonien hatte schuften müssen, dass Laimoc, ihr Herr, Hand an sie gelegt hatte, dass Anyana Laimoc erstochen hatte. Anyana wäre gerne vor die Götter getreten und hätte ihnen ihren Zorn entgegengeschleudert. Am liebsten hätte sie eine Armee gegen Tenira angeführt, doch diesen Krieg hatte es schon gegeben. Die Rebellion hatte ohne sie stattgefunden und war gescheitert.

Und so hatte Anyana das Schicksal selbst in die Hand genommen: Sie war aus den Kolonien geflohen, zusammen mit dem Stallburschen Mago, und mit dem Grauen Schiff nach Kato gefahren. Sie hatte ihren Sohn geboren und ihn vor dem Grauen Kapitän gerettet. Und in Kato hatte sie den Freien Mann getroffen, der sich als Fürst Wihaji herausgestellt hatte. Mit seiner Hilfe würde sie nach Wajun zurückkehren und ihren rechtmäßigen Platz auf dem Thron einnehmen, daran glaubte sie fest.

Fürst Wihaji von Lhe’tah, einer der Edlen Acht, der Freie Mann, der Gegenkönig in Kato, glaubte an die Götter. Obwohl sie zugelassen hatten, dass Großkönigin Tenira ihn für den Mord an Tizarun, den er nicht begangen hatte, in den Kerker geworfen hatte. Und dann hatte Tenira ihn durch den Brunnen nach Kato geschickt. »Du sollst Tizarun für mich suchen«, hatte sie gesagt. »Geh zu den Göttern und frag, ob sie ihn haben. Geh ihn suchen und bring mir seine Seele zurück.« Er war in Kato angekommen, dem Land der Feen, das die Götter für ihre Kinder erschaffen hatten, doch die Götter selbst hatte er nicht gefunden. Nur den Flammenden König, der grausam über Kato herrschte. Und obwohl er gegen den Flammenden König kämpfte, sehnte auch er sich nach Wajun zurück – und zu seiner geliebten Linua, die nur dann frei sein würde, wenn er Tizarun zu Tenira zurückbrachte.

Linua, die Wüstendämonin, die keine Assassine mehr sein wollte, Geliebte Wihajis, glaubte an die Götter. Und sie glaubte an sich selbst. Im Gefängnis von Burg Katall hatte sie ihre Kraft wiedergefunden. Sie hatte die Gefangenen in einen Aufstand geführt und sich den Rebellen gegen Tenira angeschlossen. Als die Rebellion scheiterte, floh sie mit den letzten Gefährten nach Daja. Doch in Linuas Innerem wohnte ein Lied, wild und süß, unwirklich und überirdisch. Ein Geheimnis, das in ihr ruhte. Ein Rätsel, das es zu entschlüsseln galt. Und so trennte sie sich von den Gefährten. Vielleicht war sie ja wirklich eine Lichtgeborene, wie ihre Mitgefangene Usita geglaubt hatte. Sie stellte sich ihrem alten Meister, begegnete dem Tod und trat über die Schwelle. Und fiel hinein in das Licht und das Lied. Sie ließ das Licht der Sterne in ihren Körper fluten und streichelte mit dem Gesang ihre geschundenen Glieder. Der finstere Schmerz in ihr löste sich auf. Und dann kehrte sie zurück. Und mit ihr das Wissen: Magie war Wille. Magie war Wünschen. Wer den göttlichen Funken in sich trug, konnte lernen, ihn anzufachen und den Dingen seinen Willen aufzuzwingen. Und mit ihrem Willen rettete sie Karim, ihren Wüstenbruder, vor dem sicheren Tod.

Karim von Lhe’tah, Ziehsohn des Königs von Daja, Feuerreiter, Wüstendämon, Bastard eines Großkönigs, geboren aus Verbrechen, gezeugt in Gewalt, Königsmörder, Vatermörder, glaubte an die Götter. Und doch versuchte er, selbst die Fäden des Schicksals zu spinnen. Erst, als er Großkönig Tizarun – seinem Vater – das Gift in den Met tat. Dann, als er seine Ziehschwester Ruma täuschte und sie zur Heirat mit Liro von Kanchar brachte, obwohl sie doch dessen Slaven liebte, Yando, der eigentlich der verschollene Prinz von Guna war. Und schließlich, als er die Feuerreiter in die Rebellion gegen Kanchar führte und sie dazu brachte, sich seiner Feindin Tenira anzuschließen, die mit ihrem Heer gegen die Stadt Daja zog. Und all das, um den Thron der Sonne zu erringen, das Erbe seines Vaters. Und als Tenira ihn verriet und zu einem Götterurteil in die Skorpiongrube werfen ließ, retten sie ihn nicht. Und doch konnte der Fadenspinner Karim, der Fadenverknoter, der Fadenzerreißer, fliehen. Und doch konnte er sich mit letzter Kraft nach Guna schleppen. Und doch konnte ihn Linua von der Schwelle des Todes zurückholen, obwohl gegen das Gift der Skorpione kein Heilmittel existierte … Vielleicht glaubten die Götter auch an Karim.

An Yando, einst einer der Edlen Acht, schienen sie nicht zu glauben. Und obwohl Yando die Götter verfluchte, glaubte er, dass sie die Fäden der Menschen in das Muster der Welt hineinweben und dabei ihre unerbittliche Nadel ins Fleisch eines jeden stechen. Der Stachel in Yandos Fleisch saß besonders tief. Sein Schicksal hätte es sein sollen, der König von Guna zu werden. Doch als Kriegsgefangener war er vor Jahren in die Gefangenschaft nach Kanchar gekommen, wo er seitdem sein Leben als Leibsklave von Prinz Liro von Kanchar fristete. Vergessen von der Welt und den Göttern.

Wie viel Leid kann ein Schicksal für einen Mann bereithalten? Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen? Als er die Chance zur Flucht hatte, konnte Yando sie nicht ergreifen und seinen Schützling Liro schwer verletzt zurücklassen. Als er sich verliebte und seine Liebe erwidert wurde, entriss man ihm die geliebte Ruma und gab sie seinem Herrn als Braut. Und als Matino, der grausame Kronprinz von Kanchar, seine Stellung als Erbe wegen eines verkrüppelten Beines an Liro abtreten musste, durfte Yando dessen Zorn ertragen. Wie sehr mussten ihn die Götter hassen? Doch dann kam Yando die Erkenntnis, warum die Götter ihm nie geben würden, was sein Herz begehrte – weil er sie hasste.

Die wahnsinnige Großkönigin Tenira hielt sich selbst für eine Göttin voll Zorn und Hass auf jene, die ihr den Geliebten, einen Teil von sich selbst, genommen hatten. Und doch musste sie den Rachefeldzug gegen Kanchar schließlich verloren geben und die bittere Niederlage eingestehen. Als Unterpfand des Friedens musste sie ihren Sohn, Prinz Sadi, in die Hand des Feindes geben. Doch wenn die Kancharer ihn erzogen und formten, wer würde er dann sein? Ein Fremder. Ein verfluchter Kancharer, ein Feind. Tenira hatte keine Wahl, und so wurde Sadi in die Hauptstadt von Kanchar gebracht und in die Obhut eines Sklaven aus Guna gegeben …

Und nun, ihr Götter, welche Fäden werdet ihr knüpfen, um das Muster weiterzuspinnen? Und Mernat, der Gott der schicksalhaften Verknüpfungen, hielt für einen Augenblick inne. Und während der Augenblick sich dehnte, während die Webstühle des Schicksals still standen, die Fäden sich verstrickten, rissen, neu geknüpft wurden, ging ein Regen von Sternschnuppen nieder, und die Sterne fielen in einen offenen Brunnen.

Sie sagen, am Grund des tiefsten Brunnens wartet eine andere Welt auf den, der springt. Sie sagen, am Grund des tiefsten Brunnens gehen Wünsche in Erfüllung. Sie sagen, am Grund des tiefsten Brunnens findet man, was man am meisten liebt.