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Sechstes Kapitel: Drohende Schatten

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Maria ging mit weiten Schritten durch den hohen Korridor.  Zornesröte hatte ihr Gesicht überzogen. Als sie die Tür zum Zimmer ihres Bruders erreichte, hielt sie kurz inne. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hob das Kinn. Einen Moment lang überlegte sie, wie sie ihren Zorn in Worte fassen und dabei auf ein erträgliches Maß mildern konnte. Aber dann sagte sie sich: wozu eigentlich! Soll er ruhig merken, wie groß mein Ärger über das ist, was er getan hat!

So klopfte sie – energisch und fordernd. Dreimal und mit sehr viel mehr Kraft als sie es eigentlich beabsichtigt hatte, schlug sie gegen die Tür.

„Marco! Ich weiß, dass du da bist!“

Sie erhielt keine Antwort. Also öffnete sie kurzerhand. Was sie mit ihrem Bruder zu besprechen hatte, duldete keinen Aufschub.

Die Tür flog zur Seite und als Maria die ersten Schritte in den Raum geschnellt war, blieb sie abrupt stehen. Seriféa raffte ihre Kleider zusammen und brachte sie hastig und recht notdürftig in Ordnung. Marco saß auf der Bettkante. Er trug nur eine enganliegende Hose. Die Stiefel lagen im Raum verstreut herum. Ebenso sein Hemd und sein Wams und der breite Gürtel mit dem Zierschwert.

Sein Oberkörper war frei. Maria fiel ein Zeichen an seiner Schulter auf. Es bestand aus den miteinander zu einer Ligatur verbundenen Buchstaben Lambda und Rho. Während Seriféa sich verlegen aus dem Raum stahl, griff Marco nach seinem Hemd und streifte es sich über.

„Was willst du Maria? Bei aller geschwisterlichen Zuneigung, aber du hast dir einen unpassenden Moment ausgesucht, um mit mir zu sprechen.“

Maria sandte Seriféa einen Blick hinterher, als diese sich auf dem Flur noch einmal umdrehte, um dann so schnell wie möglich das Weite zu suchen und sich dabei das Mieder wieder restlos zuzuschnüren und ihre Haare so zu richten, dass sie nicht allzu zerzaust aussah.

„Nein, es ist genau der richtige Augenblick!“, sagte sie dann. „Es fehlt Geld, Marco – und das nicht zum ersten Mal!“

„Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst, Schwesterherz. Die Geschäfte des Hauses di Lorenzo gehen gut – trotz der Pest, trotz der Tatsache, dass diese Stadt langsam aber sicher sich in ein rattenverseuchtes Trümmerfeld verwandelt, ohne dass auch nur ein einziger Türke dazu beigetragen hätte! Aber anscheinend gibt es Geschäfte, die immer gut laufen und Orte, die allein durch ihre Lage schon einen guten Umsatz garantieren!“ Marco kicherte auf eine Weise, die Maria zutiefst abstieß. Sie konnte es nicht leiden, wenn er sich wie ein Kind benahm. Dazu waren die Zeiten einfach zu ernst.

„Du irrst dich, wenn du glaubst, dass alles von allein vorangeht, Marco! Da irrst du dich gewaltig! Was glaubst du, was ich den ganzen Tag tue – oder Davide!“

„Oh natürlich, der unermüdliche Davide, der unserem Vater immer so getreulich nach dem Munde redete und der nun zu glauben scheint, dass zur Abwechslung seine Erbin dies in Zukunft bei ihm tun könnte!“ Beißender Spott klang in seinen Worten mit. Er stand auf, steckte das Hemd in die Hose und hob dann Wams und Gürtel vom Boden auf.

„Deine Abneigung scheint ja nicht sämtliche Mitglieder von Davides Familie zu treffen“, konnte sich Maria eine spitze Bemerkung im Hinblick auf Seriféa nicht verkneifen.

Marco grinste. „Das mag wohl stimmen“, gab er zu.

„Marco, wohin fließen all diese Beträge, die du anscheinend immer wieder aus unserem Guthaben nimmst?“

„Habe ich nicht das Recht dazu?“, fragte er. „Bin ich nicht auch ein Erbe des Hauses di Lorenzo, genau wie du!“

„Aber du kannst nicht einfach Wechsel ausstellen lassen, ohne dass...“

„...ohne dass ich dich gefragt hätte – oder diesen Davide, der wohl so etwas wie der Sachwalter unseres Vaters über seinen Tod hinaus zu sein scheint – oder es sich zumindest anmaßt!“

„Marco, er maßt sich nichts an! Er dient dem Haus, das ist alles! Und das macht er treu und ergeben, wie man es sich von anderen nur wünschen könnte!“

Marco musterte seine Schwester. Er ging auf Maria zu. Sein Blick hatte eine eigenartige, unangenehme Intensität, die Maria erschrecken ließ. Er war früher immer ihr Vertrauter gewesen, aber jetzt wirkte er so unsagbar fremd auf sie. Wie jemanden, den sie kaum zu kennen glaubte. Wie war das nur möglich? Wie hatte es sein können, dass auf einmal so viel zwischen ihnen zu stehen schien? Das hatte nicht nur damit zu tun, dass Marco ganz offensichtlich größere Summen aus den Erlösen des Hauses di Lorenzo abzweigte und für Dinge ausgab, von denen sich Maria nicht einmal vorzustellen vermochte, worum es eigentlich ging.

„Allein in den letzten Wochen fehlt uns eine Summe, die ausreichen würde, mehrere Schiffe auszurüsten und nach Alexandria oder nach Genua zuschicken“, sagte Maria sehr ernst. „Du hast Wechsel auf unseren Namen ausgestellt, die eingelöst wurde. Und es fehlen Gold- und Silbermünzen aus unseren Tresoren, zu denen du Zugang hattest!“

„Ich habe nichts getan, wozu ich nicht berechtigt gewesen wäre!“, verteidigte sich Marco. „Lies es im letzten Willen unseres Vaters nach!“

„Marco, wenn es so weitergeht, dann wirst du uns in den Ruin treiben!“

Marco lachte rau. „Maria, du scheinst dir das Schwarzsehen regelrecht angewöhnt zu haben! So schlimm ist es nicht! Du übertreibst maßlos – und abgesehen davon, solltest du doch nun, nach dem Ableben unserer Eltern begriffen haben, dass irdischer Reichtum nichts bedeutet. Wohin willst du all die Güter denn mitnehmen, wenn der Sensenmann an deine Tür klopft – vielleicht in Gestalt eines Pestdoktors. Staub, das ist alles, was von uns bleiben wird. Und vielleicht sogar früher, als wir es für möglich halten.“

„Ich möchte einfach nur wissen, wofür du derart große Summen ausgibst, Marco. Wenn ich dich herausgeputzt wie ein Edelmann daherlaufen sehen würde, mit Ringen behängt und mit einem rubinbesetzten Zierschwert an der Seite, dann könnte ich das verstehen. Aber das ist nicht der Fall und eigentlich würde das auch gar nicht zu dir passen!“

„Stimmt, das würde nicht zu mir passen“, nickte Marco.

„Was ist es dann? Frauen? Das liederliche Glücksspiel, dem in einigen Hinterhöfen am Hafen gefrönt wird?“

Marco lachte laut und auf eine Weise, die Maria nicht gefiel. „Von der einstmals von allen Seefahrern des Mittelmeeres gerühmten Hurengasse Konstantinopels dient doch höchstens noch ein Drittel ihrem eigentlichen Zweck und wahrscheinlich haben die inzwischen schon Schwierigkeiten ihre  Vertreterinnen für die Zunftversammlungen zu benennen – so erbärmlich geht es auch in dieser Hinsicht inzwischen hier zu! Was sollte ich dort wohl! Das sind Weiber, bei denen man sich höchstens eine ansteckende Krankheit holen kann und die ihre Gesichter so dick übermalen müssen, dass man die Spuren des Aussatzes nicht gleich sieht! Damit kann man doch nur Seeleute aus den Ländern der Araber beeindrucken, die die Wirkung des Weines nicht gewohnt sind und außerdem ihr Lebtag nur verschleierte Frauen gesehen haben! Und was das Glücksspiel angeht, so solltest du mich auch in dieser Hinsicht besser kennen und wissen, dass ich weder an mein eigenes noch an das Glück irgendeines anderen Menschen noch glauben kann!“

„Dann sag mir um Gottes Willen, was du mit all diesem Geld getan hast!“, forderte Maria ihren Bruder auf. Er wandte sich von ihr ab. Sie fasste ihn bei den Schultern und drehte ihn zu sich herum, was er widerstandslos geschehen ließ. „Sieh mich an! Wir hatten nie Geheimnisse voreinander!“

„Das ist lange her, Maria... Und eins dieser Geheimnisse ist dir doch gerade in diesem Raum begegnet!“

„Jetzt weich mir nicht aus! Ich will die Wahrheit wissen! Was ist los?“

Er erwiderte nun ihren Blick und hob dabei die Augenbrauen. „Es gibt nichts dazu zu sagen, Maria. Nichts, was du nicht bereits wüsstest. Kann sein, dass ich dazu neige, das Silberstück nicht erst lange umzudrehen, bevor ich es dem Bettler am Hafen oder einem Spielmann auf dem Markt geben. Das Leben ist kurz und endlich, dass solltest auch du inzwischen begriffen haben. Und davon abgesehen...“ Er stockte und sprach nicht weiter.

„Was?“, verlangte Maria zu wissen.

„Nichts“, sagte er. „Du würdest es nicht verstehen. Und davon abgesehen, habe ich auch keine Lust mehr, mich länger mit dir darüber zu unterhalten.“

„Hat es irgendetwas mit den vielen Nächten zu tun, die du nicht zu Hause bist? Du bist ganze Tage verschwunden gewesen.“

„Ist auch das nicht mein gutes Recht – ohne, dass ich dafür Rechenschaft ablegen müsste? Ich erinnere dich ungern daran, aber du bist meine Schwester – und nicht meine Mutter!“

Maria hatte das Gefühl, immer wieder gegen eine unsichtbare Wand zu prallen. Und es schien keinerlei Möglichkeit zu geben, diese Barriere, die mit der Zeit immer stärker geworden war, zu durchbrechen. Sie sprach mit ihm, aber er schien sie nicht wirklich zu hören. Alles, was sie sagte, prallte an ihm ab, so als hätte irgendeine dämonische Macht von seiner Seele Besitz ergriffen. Eine Macht, die ihn unempfänglich für ihre Worte, ihren Segen und ihre beschwörenden Einwände machte. Alles, was ihr früher einmal etwas bedeutet hatte, schien ihm gleichgültig geworden zu sein. Dazu zählte das Wohl und Wehe des Hauses di Lorenzo genauso wie die Sorge seiner Schwester oder sogar sein eigenes Schicksal.

„Es hat mal eine Zeit gegeben, in der wir uns alles sagen konnten“, stellte sie fest.

„Ich weiß“, sagte Marco. „Aber ehrlich gesagt, erinnere ich mich kaum noch daran. Es scheint so lange her zu sein.“

„Was ist in der Zwischenzeit mit uns geschehen?“

„Das weiß ich nicht“, gestand er. „Und erklären kann ich es noch viel weniger.“ Er ging zur Kommode auf der anderen Seite des Zimmers, öffnete eine Schublade und holte jenes Buch hervor, das er ihr schon einmal gezeigt hatte – die Abschrift des Buchs der Cherubim, dessen Studium er sich in letzter Zeit offenbar sehr stark hingegeben hatte. „Satan mit den Mitteln des Satans bekämpfen, sich selbst das Zeichen des Teufels ins Fleisch brennen, um ihm die Stirn bieten und diesen Feind und Verderber der Menschheit bekämpfen zu können! Das ist es, was ich will! Und in den Zeilen dieses Buches steht es geschrieben, wie das vorzugehen hat!“

„Hast du das Geld vielleicht für weitere Abschriften dieses Buches ausgegeben?“, fragte Maria.

„Du verstehst mich noch immer nicht, Maria! Du begreifst nicht, was es für diese verderbte Welt bedeuten könnte, wenn jemand auftauchte, der noch verderbter als alle anderen ist. Jemand, der von allen gehasst wird und das Böse anzieht wie  das Feuer die Motten. Jemand, vor dem sich selbst der Höllenfürst fürchten müsste! Dann wäre uns allen vielleicht geholfen, Maria!“

„Marco, du redest wirres Zeug“, gab Maria voller Abscheu zurück. „Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, was das alles mit den fehlenden Beträgen zu tun haben soll"

„Maria, es muss etwas geschehen! Das Übel muss mit dem Übel und der Satan mit den Mitteln Satans bekämpft werden. Ich habe dir doch vom Buch der Cherubim erzählt und den Erkenntnissen, von denen es berichtet.“

„Das sind keine Erkenntnisse! Das ist bloße Ketzerei“, erwiderte Maria.

„Nein, da bist du im Irrtum. Und die Zahl derer, die genauso denkt wie ich, mag noch gering sein, aber sie wächst. Ich habe...“ Er schluckte und rieb die Handflächen gegeneinander. Offenbar rang er um die richtigen Worte und Maria fragte sich, was für eine schreckliche Wahrheit er ihr wohl gerade stammelnd zu offenbaren versuchte. „Die Kirche, wie wir sie kennen, ist zu nichts anderem als einem Werkzeug der Mächtigen geworden. Das gilt für die in Rom genauso wie für den erbärmlichen Haufen der Rechtgläubigen von Konstantinopel, die zu glauben scheinen, dass der Wettbewerb um die Gnade Gottes einem Wettbewerb um die Länge ihrer Bärte gleichkommt! Aber es gibt auch eine andere, dunkle Kirche, die im Verborgenen existiert und irgendwann die Macht haben wird, das alte Gebäude der Christenheit vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen.“

„Diesen Leuten hast du unser Geld gegeben?“, fragte Maria fassungslos.

„Reichtum belastet nur, wenn er nichts bewirkt“, erwiderte Marco. „Warum nicht alles fortgeben, was nur angehäuft wurde, um anschließend doch nur der Vergänglichkeit anheimzufallen.“

„Das kannst du nicht machen, Marco!“

„Ich kann mit meinem Anteil an dem Handelshaus machen, was mir beliebt, Maria. Ob das dir oder dem ach so edelmütigen Davide nun passt oder nicht. Und selbst für den Fall, dass sich mein Vater in seinem modrigen Pestgrab umdrehen sollte, würde das meine Meinung nicht ändern.“

Das ist seine Rache!, dachte Maria bitter. Seine späte Rache an unserem Vater! Und es schien tatsächlich im Moment nichts zu geben, das ihn daran zu hindern vermochte.

„Was sind das für Leute, denen du Geld gegeben hast?“, fragte Maria schließlich und versuchte dabei ihrer Stimme einen gefasst wirkenden Tonfall zu geben.

„Darüber werde ich dir nichts sagen, Schwester“, erwiderte Marco. „Selbst ich weiß nur das Nötigste – und mehr solltest du auch nicht erfahren!“

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Von draußen war jetzt Tumult zu hören. Stimmengewirr drang durch das offene Fenster. Maria und Marco wechselten einen irritierten Blick. Dann ging Marco zu der hölzernen Tür, durch die man auf eine Dachterrasse treten konnte.

Er trat ins Freie und Maria folgte ihm bis zur Balustrade.

Von hier aus hatte man einen Blick, der weit über den Eutherios-Hafen hinaus ging.

Eine kleine Flotte von Galeeren und einige kleinere Begleitboote fuhren in den Hafen ein. Geschmückt waren sie mit dem Wappen des Kaisers. Der Hafen selbst war voller Menschen – und weitere strömten dorthin. Hunderte von Soldaten umsäumten die Anlegestellen an den Kaimauern. Aus der Ferne waren Kirchengesänge zu hören. Eine Prozession war offenbar auf dem Weg zum Hafen.

„Sie an, da kommt er also – unser neuer Kaiser Konstantin!“, sagte Marco mit beißendem Spott in der Stimme. Tatsächlich hatte man nach dem plötzlichen und nach wie vor mysteriösen Tod von Kaiser Johannes nicht einen Tag verloren, um seinen Nachfolger auszurufen. Konstantin Palailogos war der jüngere Bruder des Herrschers und hatte bisher als Verwalter jener wenigen verstreuten Gebiete auf dem griechischen Festland fungiert, die dem Imperium abgesehen von der Stadt Konstantinopel selbst noch erhalten geblieben waren. Dazu gehörte insbesondere ein größeres Stück der Halbinsel Peloponnes sowie einige Inseln in der Ägäis, die bisher weder Türken noch Venezianer hatten an sich bringen können.

Man hatte den neuen Kaiser bereits auf dem Peloponnes ausgerufen – unmittelbar nachdem ein Bote dort eingetroffen war, um die Nachricht von Johannes Tod zu überbringen. Zur gleichen Zeit war die Ausrufung des neuen Kaisers auch bereits überall in der Stadt bekannt gemacht worden. Offenbar wollte man verhindern, dass von irgendeiner interessierten Seite Ansprüche auf den vakanten Thron des kinderlos gestorbenen Kaisers gestellt wurden. Und solche potentiellen Ansprüche gab es zuhauf! Sultan Mehmet zählte ebenso zu den Titelaspiranten wie König Alfonso von Aragon. Und natürlich gab es auch verschiedene rhomäische Adelsfamilien, die nur auf eine Gelegenheit warteten, dem Haus Palailogos den Kaisertitel zu entreißen und dabei mit Sicherheit von den Teilen der Geistlichkeit unterstützt worden wären, für die die Kirchenunion ein Werk des Teufels war.

„So wird am Ende ihrer Geschichte noch einmal ein Herrscher namens Konstantin auf dem Thron dieser Stadt sitzen“, meinte Marco. „Das ist fast schon Ironie!“

„Konstantin soll ein fähiger Verwalter gewesen sein“, sagte Maria.

„Ich habe gehört, das bereits Wetten darauf abgegeben werden, wie lange er sich halten kann!“, meinte Marco. „Und die Tatsache, dass er mehrere Wochen gebraucht hat, um die nötige Zahl von Schiffen und Söldnern zusammenzubringen, damit er einigermaßen würdig in die Stadt einziehen kann, ist auch bezeichnend. Aber du solltest dir keine Sorgen machen. Ein Kaiser aus der Familie Palailogos wird die Handelsprivilegien des Hauses di Lorenzo wohl kaum zurücknehmen!“

„In dieser Hinsicht mache ich mir auch keine Sorgen“, gab Maria zurück. „In anderer allerdings schon...“

„Ach, Maria! Erzähl mir nicht, dass die Beträge, die ich aus dem Geschäft gezogen habe, wirklich eine Gefahr für die Zukunft der di Lorenzos darstellen! Du bist eine übervorsichtige Krämerseele wie unser Vater!“

„Vorsicht und Besonnenheit waren sicherlich nicht seine schlechtesten Eigenschaften, Marco.“

„Und – was haben sie ihm eingebracht? Jetzt fressen die Maden seinen pestverseuchten Leib und welchen Lohn der Himmel für ihn bereithält, darüber will ich angesichts der Ungnädigkeit unseres Herrn gar nicht erst spekulieren!“

––––––––

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Zwei Tage später fuhr im Schutz der einsetzenden Dämmerung ein geschlossener Wagen die Mese entlang Richtung Westen.

Im Inneren saßen Maria und Davide.

Der Kutscher hieß Michael und gehörte zu Davides ausgedehnter Familie. Aber nur aus diesem Grund vertraute Davide ihm genug, um ihn auf diese Fahrt mitzunehmen. Marco hingegen war nicht einmal über diese Fahrt informiert worden und auch auf die Begleitung durch ein oder zwei der Waffenknechte, die in den Diensten des Hauses di Lorenzo standen, hatte man aus Geheimhaltungsgründen verzichtet.

Genau genommen war es Davide gewesen, der das vorgeschlagen hatte, obwohl ihr Weg bis zur Burg der sieben Türme im äußersten Südosten der Stadt führte. Zwischendurch ging es dabei durch Gebiete, die als sehr unsicher galten. Bereiche der Stadt, die kaum noch besiedelt waren, die teilweise nur noch aus verfallenden Ruinen bestanden, in denen sich zuweilen Räubergesindel auf die Lauer legte, um Reisende zu überfallen. Die Mese war – da eine der größten und wichtigsten Straßen Konstantinopels, ein ideales Revier für sie – wie auch die  anderen großen, noch in römischer Zeit angelegten Ost-Westverbindungen zwischen den Toren an der theodosischen Mauer und dem eigentlichen Stadtkern. Trotz der eingeschlossenen Lage der Stadt gab es immer noch mehr als genug Händler und Reisende, die darauf angewiesen waren, die Stadt auf dem Landweg zu betreten oder zu verlassen – zumeist weil sie sich eine Schiffspassage nicht leisten konnten. Noch ließen die Türken sie passieren. Aber es war klar, dass sie diesen Verkehr jederzeit unterbinden konnten – was in der Vergangenheit auch schon oft genug geschehen war, wenn sich die Spannungen zwischen dem Kaiser der Rhomäer und dem nur wenige Meilen entfernt in Adrianopel residierenden Sultan zu sehr zugespitzt hatten. Zwar konnte die Stadt im Notfall problemlos ausschließlich über den Seeweg versorgt werden, aber jeder Einwohner Konstantinopels spürte es sofort an den Preisen, die auf den Märkten verlangt wurden, wenn die Türken niemanden mehr durchließen.

Etwa eine halbe Meile vor der Burg der sieben Türme vereinigte sich die Mese mit der weiter südlich verlaufenden Küstenstraße, die unmittelbar in der Nähe der Befestigungsmauern am Südufer der Stadt entlanglief, vorbei am Eutherios- und am Konstantin-Hafen. Diese Straße endete ebenfalls am Palast. Er war der Mittelpunkt Konstantinopels und seine Straßen wirkten wie ein großes Netz, das der Stadt einst von einem gewaltigen Riesen übergeworfen worden war, um sie niederzuzwingen.

Im Lauf der letzten Jahrhunderte hatte sich allerdings wohl niemand gefunden, dieses Netz auszubessern, denn die Zahl der Schlaglöcher zu verringern. Regenfälle hatten Teile der Straßenbefestigungen unterhöhlt, die sich immer mehr absenkte.  Immer wieder waren Abschnitte unpassierbar, aber der Kaiser hatte schon lange nicht mehr die Mittel, um für eine Instandhaltung zu sorgen. Manchmal sprangen die Zünfte und Gilden der Handwerker und Kaufleute ein und versetzten wichtige Teilstücke mit eigenen Kräften wieder in einen Zustand, der zumindest den ungehinderten Warenverkehr erlaubte.

Um die Burg der sieben Türme herum befand sich ein dichter besiedelter Teil Konstantinopels. Die Burg bildete zusammen mit den sich zwischen Mese und der Küstenmauer gelegenen Bereich eine kleine Stadt für sich. Vor allem Angehörige der kaiserlichen Söldnertruppe lebten hier, aber auch viele Händler und Huren, die nicht Mitglieder der angestammten Gilden für diese Berufsstände geworden waren, was immer wieder zu Auseinandersetzungen führte. Aber es gab letztlich keine Macht in Konstantinopel, die stark genug gewesen wäre, die Gildenordnung auch hier durchzusetzen. Wie alles andere auch schien sie dem langsamen, unaufhaltsamen Verfall preisgegeben zu sein.

In der Gegend um die Burg der sieben Türme sprach nur eine Minderheit Griechisch. Während der Wagen in diesen Bereich einfuhr und von der Mese in eine der engen anderen Gassen einbog, hörte Maria das Stimmengewirr aus den Tavernen. Während es auf dem vorherigen Abschnitt der Mese sehr dunkel gewesen war, fast so als wäre man durch die freie Wildnis gefahren, so gab es rund um die Burg der sieben Türme genug Helligkeit, um die Häuser in einem dämmrigen, flackernden Licht erscheinen zu lassen. 

An den Straßenecken gab es Lampen und auch aus den Häusern schimmerte Licht. Trotz der fortgeschrittenen Stunde schien  hier noch lange nicht Ruhe eingekehrt zu sein.

„Halt! Bis hier her!“, rief Davide dem Kutscher zu, woraufhin dieser den Wagen stoppte.

„Sind wir schon am Ziel?“, fragte Maria.

„Nein, das letzte Stück werden wir zu Fuß gehen. Es soll sich niemand an uns erinnern. Auch nicht der Kutscher!“

„Stammt er nicht aus Eurer Familie?“

„Ja, aber das heißt nicht, dass er auf der Folter nicht verraten würde, mit wem wir uns getroffen haben. Darum ist es besser, er weiß es gar nicht erst!“

„Ich weiß Eure Vorsicht sehr zu schätzen, Davide.“

Sie stiegen aus dem Wagen. Davide wandte sich an den Kutscher. „Warte auf dem Platz vor dem Triumphbogen des Konstantin“, sagte Davide. „Und falls wir dort nicht eintreffen, bevor die Glocken der Märtyrer-Kapelle zweimal die nächste Stunde geschlagen haben, dann fahr zurück zum Kontor, Michael!“

„Ich werde alles tun, wie du es verlangst“, versprach Michael. „Aber was wird dann aus euch?“

„Du gehst in diesem Fall zu Thomás. Er weiß, was dann zu tun ist.“

Thomás war ein Veteran der kaiserlichen Garde, der sich im Haus di Lorenzo als Kommandant der Waffenknechte und Leibwächter verdingte. Wie die meisten ehemaligen Garde-Söldner stammte er aus Nordeuropa. Sein eigentlicher Name lautete Thomas Angus de Hamilton und er entstammte der Nebenlinie eines in Ungnade gefallenen schottischen Adelsgeschlechts. Maria kannte ihn schon seit ihrer Kindheit – allerdings nur unter der griechisch ausgesprochenen Form seines Namens: Thomás, mit einem weichen, mit der Zunge zwischen den Zähnen gesprochenen Theta am Anfang und einer Betonung auf der letzten Silbe.

Maria wunderte sich etwas darüber, dass Davide es vorgezogen hatte, auch Thomás nicht mitzunehmen. An mangelndem Vertrauen zu dem alten Söldner konnte es nicht liegen, denn offensichtlich hatte Davide ihn ja eingeweiht. Aber vielleicht wollte der kluge Schreiber des Hauses di Lorenzo sich einfach noch eine Option für den Fall offenhalten, dass dieses Treffen einen unerwarteten Verlauf nahm.

Maria folgte Davide in den Schatten auf der anderen Straßenseite, während Michael mit dem Wagen weiter die Straße entlangfuhr. Der Triumphbogen des Konstantin bildete das stadtwärts ausgerichtete Haupttor der Burg und davor gab es einen großen Platz, auf dem sie sich treffen konnten. Dort standen viele Wagen, weil sie entweder darauf warteten, in die eigentliche Burg gelassen zu werden, um Versorgungsgüter  dorthin zu bringen, oder um kontrolliert zu werden. Die Liste der Waren, die entweder auf Dauer oder zeitweilig nicht ausgeführt werden durften, veränderte sich so schnell, dass es kaum einem der Fuhrleute noch möglich war, die Vorschriften auch wirklich einhalten zu können.

Maria und Davide bogen in eine enge Gasse ein, von der aus Davide die junge Frau in einen noch viel schmaleren Durchgang zwischen zwei massiven Steingebäuden hindurchführte.

Für einige Augenblicke war es so dunkel, dass Maria kaum die Hand vor Augen zu sehen vermochte.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das Risiko, dass sie einging, war ihr sehr wohl bewusst. Davide hatte schließlich ausführlich mit ihr darüber gesprochen. Bei einer ungünstigen Auslegung der Gesetze Konstantinopels konnte man ihnen dieses Treffen als Hochverrat auslegen und sie beide damit nicht nur in den Kerker, sondern auch an den Galgen bringen.

Aber Maria wusste, dass ihnen keine andere Wahl blieb.

Das Haus di Lorenzo brauchte einen Verbindungsmann zur türkischen Seite, der Einfluss genug hatte, um den Beschuss von Handelsschiffen zu verhindern.

Und da auf Andreas Lakonidas in letzter Zeit kein Verlass mehr gewesen war, musste Ersatz her.

Der Mann, mit dem Davide und Maria sich zu treffen beabsichtigten, war als Zacharias der Einäugige bekannt. Maria konnte sich gut vorstellen, welche Mühen es Davide gekostet hatte, ihn aufzuspüren und mit ihm in Verbindung treten zu können.

Maria und Davide erreichten einen atriumähnlichen Hinterhof, in dessen Mitte einst in besseren Zeiten wohl ein Springbrunnen gesprudelt hatte. Doch der war längst versiegt und die Gesichter der wasserspeienden Geisterfratzen und Satyrn wirkten im Licht des herabscheinenden Mondes fahl und bedrohlich.

Auf der anderen Seite dieses Hofes befand sich eine Tür. Eine Gestalt trat aus dem Schatten ihnen entgegen. Er war so riesenhaft, dass selbst Davide wie ein schmächtiger, kleiner Jüngling gegen ihn wirkte.

Er trug einen Helm und hatte die Hand am Schwert, das an seiner Seite hing. „Wer ist da?“, ragte er barsch in einem barbarischen Griechisch.

„Zacharias erwartet uns“, sagte Davide freundlich und deutete ein Verbeugung an.

Der Hüne musterte zunächst Davide und wandte dann den Blick Maria zu, die er ebenfalls von oben bis unten einem prüfenden Blick unterzog.

„Wenn Ihr verabredet seid, so wisst Ihr sicherlich die Losung!“ 

„Der Sultan zu Adrianopel wird mit all seinen Kanonen die Mauern des großen Theodosius niemals zerstören können!“, sagte Davide. „Und unter den Blinden ist der Einäugige ein König.“

Maria war Zacharias nie zuvor begegnet, aber immerhin schien er bei der Auswahl seiner Losungen Humor zu haben, was ihn ihr schon einmal sympathisch erscheinen ließ. Der Wächter deutete jetzt auf sie.

„Es ist nicht üblich, dass mein Herr seinen Besuch mit Begleitung empfängt. Die Stadt hat schon genug Ohren – und selbst den Tauben auf den Dächern kann man nicht trauen.“

„Du bist im Irrtum“, erklärte Davide dem Wächter und deutete auf Maria. „Sie ist es, die die Geschäfte führt – nicht ich.“

„Ah!“, entfuhr es dem Wächter erstaunt. „So gibt es immer wieder Überraschungen.“

„Lasst uns keine Zeit mehr verlieren!“, verlangte Maria. „Denn das ist die Münze, die für uns alle das knappste Gut ist!“

„Wie Ihr meint!“, nickte der Wächter.

Er führte sie durch eine Tür in einen von Fackeln erleuchteten Raum. Ein Mann, dessen linkes Auge von einer Augenklappe aus dunklem Leder bedeckt war, saß an einem groben Tisch, der über und über mit Dokumenten bedeckt war – manche aus Pergament, die Mehrzahl aber aus dem preiswerteren, dafür aber nicht so haltbaren Papier. Ein Tintenfass samt Feder stand ebenfalls auf dem Tisch und außerdem lagen darauf noch mehrere, bereits ziemlich heruntergeschriebene Bleistifte herum. Von der Decke hing eine Lampe an einer langen Kette herab – gerade so, dass ihr durch hereindringende Zugluft unruhig gewordener Schein den Tisch erhellte. Es roch nach Lampenöl.

„Ihr seid Zacharias der Einäugige?“, vergewisserte sich Maria.

„So nennt man mich“, bestätigte der Mann, der es nicht für nötig zu erachten schien, sich für seine Gäste zu erheben oder ihnen einen Platz anzubieten. „Ich habe schon einiges über Euch gehört, Maria di Lorenzo“, sagte er dann gedehnt. „Und bevor ich mich überhaupt bereitgefunden habe, Euch möglicherweise zu Diensten zu sein, habe ich natürlich eingehende Erkundigungen über Euch und Euer Haus eingeholt.“

„Das ist nur zu verständlich“, sagte Maria.

Zacharias nickte Davide zu. Der Schein der Lampe hob dabei die reliefartigen, an die Haut einer Echse erinnernden Faltenmuster seiner ledrigen Haut hervor. Sein Alter war schwer zu schätzen. Jenseits des fünfzigsten Lebensjahrs schien alles möglich zu sein.

„Ihr, David Syngraféas, dient ja schon seit langem den Genuesern“, wandte er sich nun an Davide und benutzte dabei selbstverständlicherweise die griechische Form von Davides Namen. „Mit Genuesern und Levantinern habe ich stets gute Erfahrungen gemacht. Dass Ihr offensichtlich gute Verbindungen zum Hof pflegt, ist für jemanden Eures Standes unumgänglich. Und ich habe auch keine Bedenken wegen eines gewissen Thomás, dem Ihr Eure Sicherheit anvertraut und der ein bemerkenswertes Talent zu haben scheint, in Ungnade zu fallen. Er scheint auf jeden Fall loyal zu sein – und ist außerdem in einem Alter, in dem er wahrscheinlich keinen besonderen Ehrgeiz mehr hegt, was einen im allgemeinen unbestechlicher werden lässt.“

Was bezweckt er damit?, ging es Maria durch den Kopf. Wollte Zacharias ihr nur demonstrieren, wie gut er über die Belange des Hauses di Lorenzo informiert war und dass es von vorn herein keinen Sinn hatte, ihm etwas Wesentliches verschweigen zu wollen? Oder war da noch ein anderer Punkt, auf den er hinauswollte. Maria glaubte letzteres.

„Eines unserer Schiffe ist bei der Durchfahrt durch den Bosporus durch Kanonenschläge schwer beschädigt worden“, brachte sie ihr Anliegen dann auf den Punkt. „Wir möchten sichergehen, dass sich so etwas nicht wiederholt!“

„Ja, ich sprach mit einem gemeinsame Bekannten über diese Angelegenheit – Silvestre Sarto, den Schneider des Patriarchen. Bedauerlich, wie schwer es ehrbare Kaufleute in diesen Zeiten habe und noch bedauerlicher ist, dass keine Besserung abzusehen ist!“

„Ja, das ist wahr“, nickte Maria. Dass Zacharias den Schneide namentlich erwähnt hatte, sollte wohl nur demonstrieren, wie weit Zacharias' eigene Verbindungen reichten. Es gab zweifellos nicht eine einzige Bemerkung, die jemand wie Zacharias ohne Hintersinn von sich gab. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht ein guter Diplomat geworden!, dachte Maria. Es musste Gründe dafür geben, dass er es nicht geworden war. Gründe, die vermutlich einfach darin zu suchen waren, dass er nicht zu den alteingesessenen Adelsgeschlechtern gehörte, die seit Jahrhunderten alle wichtigen und einflussreichen Posten in Konstantinopel unter sich aufteilten.

„Ihr kennt einen Mann namens Andreas Lakonidas“, stellte Zacharias fest.

„Das trifft zu“, nickte Maria.

„Ihr solltet ihn in Zukunft meiden.“

„Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“

„Ich weiß nur, was man hört. Aber es hat gewiss Gründe dafür gegeben, dass er Euer Schiff nicht vor den türkischen Geschützen zu bewahren wusste.“ Zacharias hob die breiten Schultern und verzog das Gesicht. „Man könnte sagen, dass sein Stern sinkt. Hier in Konstantinopel ebenso wie am Hof des Sultans. Und von denen, die fallen, sollte man sich nicht mit in die Tiefe reißen lassen – meint Ihr nicht auch?“

„Gewiss.“

Zacharias lächelte auf eine Art, die Maria nicht gefiel. Der Blick seines einzigen Auges schien sie in diesem Moment geradezu durchbohren zu wollen. „Ich hoffe, Ihr wendet diese Erkenntnis auch auf Mitglieder Eurer eigenen Familie an“, setzte er dann hinzu.

„Was meint Ihr damit?“

„Euer Bruder ist es, der mir Sorgen macht und mich zögern lässt, für Euch in der Weise tätig zu werden, die Ihr wünscht.“

„Ich verbürge mich für ihn“, sagte Maria.

„Ich weiß nicht, ob das wirklich klug ist, werte Maria di Lorenzo! Denn er gehört zu denen, die fallen und andere bedenkenlos mit sich reißen.“

Maria schluckte. Zum ersten Mal ging ihr auf, wie gut der Einäugige offenbar tatsächlich über sie, ihre Familie und das Handelshaus informiert war. Er musste sehr zuverlässige Quellen besitzen. Aber war das wirklich verwunderlich, dass ein Mann wie er buchstäblich das Gras wachsen hörte?

Maria fragte sich, was genau er wohl mit seinen Anspielungen auf Marco meinte.

„Mein Bruder ist durch den Tod unserer Eltern innerlich schwer erschüttert und es mag sein, dass ich mir wünschen würde, er hätte ein größeres Gottvertrauen. Aber mit den Diensten, die Ihr uns erweisen sollt, hat das alles nichts zu tun. Marco ist nämlich in diese Angelegenheit nicht eingeweiht. Um ehrlich zu sein, mein Bruder hat leider kein großes Interesse an den Geschäften des Hauses di Lorenzo.“

„Es beruhigt mich, das zu hören“, erklärte Zacharias gedehnt. „Und was Ihr gesagt habt, kann zumindest teilweise erklären, was man sich so über Euren Bruder erzählt.“

„Was erzählt man sich denn?“

Zacharias einziges Auge verengte sich etwas. Er lehnte sich zurück. „Er wirft mit Geld nur so um sich. Mehr, als man beim Spiel oder in den Hurengassen vergeuden könnte. Aber das sehen manche nur als ein Zeichen dafür an, dass Eure Geschäfte anscheinend ganz gut gehen. Wirklich bedenklich sind die Leute, mit denen er sich umgibt.“

„Von welchen Leuten redet Ihr?“, fragte Maria in einem sehr viel drängenderen Tonfall, als sie es eigentlich gewollt hatte.

„Er pflegt Umgang mit Ketzern, so habe ich gehört.“ Seine Miene wurde düster und er fügte hinzu: „Schlimmen Ketzern!“  Bei seinen letzten Worten wechselte er in eine Mischung aus  Genuesisch und Latein, um ihnen ein besonderes Gewicht zu geben.

„Wir syrischen Christen gelten für viele, die den Lehren des Patriarchen folgen – oder gar jenen des Papstes in Rom! - ebenfalls als Ketzer“, mischte sich Davide ein. „Manchmal habe ich das Gefühl, je geringer die Unterschiede im Glauben, desto härter die Verfolgung und Verdammung der sogenannten Ketzerei! Wenn Ihr mich fragt, dann ist es eher ein Zeichen von Erkenntnishunger und unerfüllter Suche nach Wahrheit, wenn sich ein junger Mann wie Marco mit seltenen Schriften beschäftigt und mit ihrer Hilfe versucht, sein schweres Schicksal zu akzeptieren.“

„Ihr verkennt die Situation“, erwiderte Zacharias, während er Davide ansah. Dann wandte er den Blick in Marias Richtung. „Mir scheint, ich kenne Euren Bruder besser als Ihr. Die Leute, mit denen er in Verbindung steht, glauben, dass man das Feuer nur mit Feuer, und das Böse nur mit der Hilfe Satans wirklich zu bekämpfen vermag. Sagt Euch dieses Zeichen etwas?“

Mit dem Finger malte er ein Zeichen in die Luft.

„Ein Lambda und ein Rho – übereinander geschrieben“, stellte Maria fest.

„Es steht für Lucifuge Rofocale – dem sogenannten Buch der Cherubim zufolge der Name eines gefallene Engels. Und im Liber  Sacer wird damit ein Diener des Luzifer bezeichnet, aber genauso sehen sich die diese Fanatiker wohl auch selbst. Sie brennen sich das Lambda Rho in die Haut und wer einmal dazugehört, den lassen sie nie wieder aus ihrem geheimen Kreis.“

„Ich muss mich doch sehr wundern, was Ihr für Bücher lest“, sagte Davide. „Soweit ich weiß, ist das Liber Sacer eine ketzerische Zauberschrift!“

Zacharias grinste. „Ein Papst namens Honorius soll sie verfasst haben!“

„Das ändert nichts daran, dass dieses Buch verboten ist.“

„Dafür verkaufen sich seine Abschriften aber sehr gut! In Zeiten der Pest und des allgemeinen Verfalls, in denen Gott ohnmächtig zu sein scheint, suchen viele darin einen Trost, den sie durch Patriarchen und Päpste nicht mehr bekommen. Wollt Ihr vielleicht auch ein Exemplar? Ich habe da gewisse Verbindungen...“

„Nein danke“, wehrte Davide empört und geradezu angewidert ab.

Maria erinnerte sich derweil an das Zeichen, das sie auf Marcos Haut gesehen hatte. Lambda und Rho – übereinander geschrieben wie man es sonst mit den Buchstabe Chi und Rho als Christus-Monogramm tat. In diesem Zusammenhang wirkte das schon fast wie eine bösartige Parodie auf jenes Symbol, das angeblich Konstantin der Große auf die Schilde seiner Legionäre malen ließ, bevor er mit ihnen in die Schlacht an der milvischen Brücke zog. 

„Was wisst Ihr über diese Leute?“, fragte Maria.

„Sie bilden einen Orden, zu dem immer mehr einflussreiche Persönlichkeiten zählen“, berichtete Zacharias. „Genaues weiß niemand. Man erzählt sich von diesem Brandzeichen und außerdem davon, dass sie sich 'Orden der Cherubim' nennen und vielleicht sogar Ambitionen haben, in der Stadt die Macht zu übernehmen. Bei der Wahl ihrer Mittel sind sie jedenfalls nicht zimperlich. Wer weiß schon, wie Kaiser Johannes tatsächlich zu Tode gekommen ist.“

„Ihr meint...“

„Ich meine gar nichts!“, schnitt Zacharias ihr das Wort ab. „Vielmehr halte ich nur die Ohren auf und gebe wieder, was man so hört, wenn man sich mit den richtigen Leuten unterhält.“

„Vielleicht sollten wir auf den eigentlichen Grund unseres Gesprächs zurückkommen“, mischte sich nun Davide ein. „Könnt Ihr dafür sorgen, dass die Waren des Hauses di Lorenzo den Bosporus und die Dardanellen in Zukunft ohne Beschuss passieren oder nicht?“

Zacharias verzog das Gesicht zu einem gequält wirkenden Lächeln. „Ich kann für Euch tätig werden. Allerdings sind meine Dienste nicht billig... Und was diesen Geheimorden angeht, dem Euer Bruder anscheinend angehört, Maria, so besteht die größte Gefahr in seiner schier unermesslichen Gier nach Mitteln aller Art“, ergänzte er.

Davide nahm einen prall mit Silberstücken gefüllten Beutel aus Leder unter seinem Mantel hervor und stellte ihn vor dem Einäugigen auf den Tisch. Das darin enthaltene Münzgeld klimperte dabei etwas. Diesen Klang mochte Zacharias anscheinend.

Er öffnete den Beutel und schüttelte den Inhalt auf dem Tisch aus, um die darin enthaltenen Silbermünzen nachzuzählen, was er in aller Seelenruhe tat.

„Was diesen Orden der Cherubim angeht“, nahm Maria dieses Thema jetzt noch einmal auf, obwohl sie dafür einen tadelnden Blick von Davide erntete, „so möchte ich Euch dazu noch eine Frage stellen, wenn Ihr erlaubt, Zacharias.“

„Fragt besser nicht. Ich habe Euch schon zu viel gesagt.“

„Ihr wisst keine Namen?“, entfuhr es Maria überrascht.

„Namen?“ Zacharias lachte rau auf und unterbrach nun sogar die Zählung der Münzen. „Es sind Namen darunter, die sogar mich schaudern lassen. Namen aus den höchsten Kreisen des Hofes und sogar solche in der Geistlichkeit! Aber ein langer Bart macht noch keinen wahrhaft frommen Mann und nicht jeder schafft es, der Versuchung durch den Satan zu widerstehen, wie es einst unser Herr Christus in der Wüste vollbrachte!“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Das irdische Leben mag ein Jammertal sein, aber ich hänge trotz allem daran. Deswegen werde ich keinen weiteren Ton dazu von mir geben – denn ich weiß, dass andere dafür schwer gebüßt haben, dass sie zu schwatzhaft waren.“

„Aber es muss doch etwas geben, was ich tun kann!“

„Um die Seele Eures Bruders zu retten? Nichts. Das sagt jedenfalls meine Erfahrung. Wer in die Fänge dieser Teufelsanbeter gerät, ist verloren und hat seinen Platz im Fegefeuer zweifellos sicher. Aber vielleicht kann ich Euch doch noch einen guten Rat geben.“

„Und welchen?“

„Ihr solltet etwas besser auf Euer Geld aufpassen, werte Maria di Lorenzo! Denn dieser Orden der Cherubim weiß sehr wohl, dass es noch etwas Mächtigeres gibt, als die Macht Satans! Geld! Sie reißen es an sich, wo immer sie jemanden finden, der es ihnen mehr oder weniger bereitwillig überlässt. Man munkelt, dass bereits der eine oder andere reiche Erbe plötzlich das Zeitliche segnete, weil in sein Weinglas ein geschmackloses Gift geträufelt wurde – und wie durch ein Wunder taucht in solchen Fällen schließlich ein Testament auf, in dem ein Angehöriger dieser finsteren Bruderschaft als Erbe benannt wird! Also achtet auf Euer Geld – und auf Euren hübschen Hals!“

„Ihr scheint gute Ohren zu haben“, stellte Maria fest.

„Da ich nur noch ein Auge habe, bin ich darauf angewiesen!“, lachte Zacharias.

„Vielleicht könntet Ihr die Ohren offen halten, was meinen Bruder betrifft. Und falls Euch etwas Erwähnenswertes zu Gehör kommt, dann sorgt bitte dafür, dass ich darüber umgehend informiert werde!“

„Ich weiß nicht, ob ich da wirklich etwas für Euch tun kann!“

„Ihr wollt sagen, dass Ihr mehr Silber in Rechnung stellen wollt?“

„Nun...“

„Das wird kein Problem sein, werter Herr Zacharias!“

In Zacharias einzigem Auge funkelte es auf eine Weise, die für einen Moment die ungezügelte Gier dieses Mannes aufblitzen ließ. Eine Gier, die ihn möglicherweise sogar seine sonst geübte Vorsicht gegenüber dem geheimnisvollen Orden der Cherubim vergessen ließ.