image
image
image

Zwölftes Kapitel: Wolfharts Rückkehr

image

Maria hatte nicht schlafen können. Es war bereits Mitternacht und Wolfhart war noch nicht zurückgekehrt. Sie hatte den Tag damit verbracht, die Buchführung in Ordnung zu bringen und mit Davide über einige Geschäfte zu entscheiden. Ein Schiff, das Seide und Zucker für das Haus di Lorenzo aus dem an der Schwarzmeerküste gelegenen Trapezunt liefern sollte, war schon seit einer Woche überfällig. Das konnte natürlich den schwierigen seemännischen Bedingungen am Bosporus geschuldet sein. Die Meerenge war für ihre tückischen Strömungen und Winde bekannt.

Aber ebenso gut konnte es auch damit zu tun haben, dass der Beschuss türkischer Kanonen der Fahrt vorzeitig beendet hatte. Vielleicht waren die Verbindungen von Zacharias dem Einäugigen zum Hof des Sultans doch nicht so gut, wie er behauptetet hatte und all das Silber, das für die Hilfe dieses zwielichtigen Gesellen ausgegeben worden war, musste man schlicht und ergreifend als eine Fehlinvestition abschreiben.

Auf Andreas Lakonidas war ja schon seit längerem kein rechter Verlass mehr und so musste man das Schlimmste annehmen. Ein anderer Punkt, der Maria beunruhigte war die Tatsache, dass sie zurzeit auf Grund der Ausgangssperre auch von allen Neuigkeiten abgeschnitten war. Dass der Patriarch sich offenbar abgesetzt hatte, ließ befürchten, dass das Kaiserreich fürs Erste auch im Inneren nicht zur Ruhe kommen würde. Aber wer konnte das auch schon ernsthaft erwarten?, überlegte Maria.

Hinter den Mauern des Palastes tobten offenbar verborgene Kleinkriege zwischen verschiedenen Gruppen, die sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpften. Das Kaiserhaus der Palailogen, die Kirchenunionsbefürworter, die Unionsgegner, die Parteigänger Genuas, Aragons und Venedigs – all das gab ein äußerst explosives Gemisch.

Es war schon früher Morgen, als eine Gruppe von Palastwächtern Wolfhart schließlich zurückbrachten. Maria sah durch ihr Fenster, wie sich die Gruppe über eine Verzweigung der Mese dem Kontor am Eutherios-Hafen näherte. Am liebsten wäre sie Wolfhart einfach entgegengelaufen und hätte ihn in die Arme geschlossen. Aber ihr war natürlich klar, dass das nicht so einfach ging. Schließlich musste sie nach außen hin zumindest einigermaßen die Form wahren.

Erst am nächsten Morgen begegnete sie ihm am Tisch des Empfangsraums. Er war früh auf den Beinen – viel früher als sein Begleiter Urban. Er ging etwas unruhig auf und ab. Normalerweise hätte Seriféa in die Küche gehen und den Gästen ein Morgenmahl hinstellen sollen. Aber die schöne Levantinerin hatte offenbar verschlafen. Maria konnte sich schon denken, was der Grund ihrer Erschöpfung war. Vermutlich war sie noch immer in der Kammer von Marco zu finden und raffte gerade ihre verstreuten Kleider zusammen. Aber in diesem Fall nahm Maria es der schönen Levantinerin ausnahmsweise nicht übel, dass sie ihre Pflichten vernachlässigte – auch wenn ihr bereits aufgefallen war, dass dies in letzter Zeit des Öfteren vorkam.

Aber auf diese Weise blieb ihr eine Begegnung allein mit Wolfhart.

Sie sahen sich an und Maria erkannte in seinen Augen dasselbe Verlangen, wie bei ihrem ersten, so stürmischen und vollkommen unvernünftigen Zusammensein. Unwillkürlich musste sie schlucken. Es war ihr unmöglich, auch nur einen Ton herauszubringen. Ein Kloß saß ihr im Hals, ihre Zunge wirkte wie gelähmt. Jedes Wort, das sie jetzt sagen konnte, erschien ihr falsch und unangemessen.

„Maria!“, sagte Wolfhart einfach und die Art und Weise, wie er ihren Namen aussprach, gefiel ihr. Es war voller Liebe und Zugewandtheit und der Klang seiner Stimme erweckte all die wohligen Gefühle wieder in ihr.

Dann löste sich die Erstarrung, die sie beide befallen hatte. Wie durch einen Zauber oder einen gemeinsam gedachten Gedanken. Sie gingen aufeinander zu und er nahm sie in die Arme, drückte sie an sich, strich ihr über das Haar, während sie seinen kräftigen Nacken umschlang und sich gegen ihn presste. Sie küssten sich mit der Innigkeit zweier Menschen, die sich zum Abschied trafen und wussten, dass sie sich für sehr lange Zeit nicht wiedersehen würden. Atemlos lösten sie sich voneinander. „Ich bin froh, dass du wohlbehalten zurück bist, Wolfhart!“

„Was hätte mir denn in einem Kaiserpalast geschehen sollen?“, lächelte der Kaufmannssohn aus Lübeck.

„Man sagt, der Palast sei im Grunde der gefährlichste Platz, an dem man sich in Konstantinopel befinden kann. Gefährlicher als die Gegend um die Burg der sieben Türme oder so manch andere halb verfallende, finstere Gasse, die es hier geben mag.“

„Wenn die Herrin des Hauses di Lorenzo das sagt, wird es sicher stimmen“, lächelte er. „Ich bin ja ein Fremder hier.“

Erst jetzt bemerkte sie den eigenartigen, sehr scharfen Geruch, der Wolfhart anhaftete. Ein Geruch, der ihr im Sturm des Wiedersehens zunächst nicht aufgefallen war, zumal jemand, der Zeit seines Lebens in großen Städten gelebt hatte, in dieser Hinsicht ohnehin nicht empfindlich sein konnte. Weder Konstantinopel noch Genua noch irgendeine der anderen Städte an den Küsten des Mittelmeeres, die Maria an der Seite ihres Vaters schon bereist hatte, waren nur von Wohlgeruch erfüllt. Ganz im Gegenteil!

Aber der scharfe Duft, von dem Wolfharts Kleider durchdrungen waren, hatte eine ganz besondere, für Maria auf ewig unvergessliche Note. Der Hauptbestandteil waren ätherische Öle. Maria war sofort an die Stoffbinden erinnert, die Medicus Cagliari getragen hatte, als er seine Untersuchungen bei ihr durchführte. Aber da war noch eine andere Nuance. Rattenpisse!, durchfuhr es sie. Die ätherischen Öle überdeckten diesen Geruch fast völlig.

„Wie war es bei Eurem Meister-Medicus?“, fragte Maria.

„Über das meiste darf ich nicht sprechen.“

„So geheim?“

„Alles, was dieser große Medicus tut, scheint der Geheimhaltung zu unterliegen. Teilweise kenne ich die Gründe, teilweise sind sie mir noch immer verborgen. Aber ich bin überzeugt davon, dass Fausto Cagliari seinen Ruf nicht von ungefähr hat. Wenn jemand dem Wesen des Schwarzen Todes wahrhaftig auf der Spur ist, dann er! Und wie es scheint, werde ich an seinen künftigen Entdeckungen teilhaben dürfen.“

„Du sagst das sehr...“

„...demütig!“

„Ja!“

„Angesichts all dessen, was wir nicht wissen, kann man nur demütig ein – genauso wie der Mut derer, die Meister Cagliari zur Seite stehen und sich der Gefahr aussetzen, selbst vom Schwarzen Tod geholt zu werden, mich nur in Demut zurücklässt.“

„Und du? Du hast auch diesen Mut?“

„Ich hoffe es. Und ich bete dafür, dass er mich nicht verlässt, bevor ich die Grenze des Unwissens überschritten habe und dort vorgedrungen bin, wo es möglich wird, diese Krankheit nicht nur zu verstehen, sondern zu beherrschen und ihr den Schrecken zu nehmen.“

Maria lächelte mild und auch etwas traurig. Der Enthusiasmus, mit dem er sprach, machte ihr klar, dass wohl nichts und niemand in Wolfharts Leben eine vergleichbare Anziehungskraft entfalten konnte, wie der Gedanke, die Pest besiegen zu können. Er würde ihr nie ganz gehören können, das spürte sie. Selbst wenn sie sich unter viel günstigeren Bedingungen kennengelernt hätten, wäre das so gewesen. Maria erkannte dies zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Ein Traum, dachte sie. Und jetzt kam eben das Erwachen. Aber das bedeutete nicht, den Traum nun im Nachhinein bedauern zu müssen. Ganz im Gegenteil. Dennoch - ihr Lächeln wirkte etwas gezwungen.

„Es freut mich, dass dieser große Medicus offenbar von deinen Fähigkeiten überzeugt worden ist“, sagte sie.

„Ich will nicht groß angeben“, sagte Wolfhart. „Die anderen  Helfer, die ihm zur Verfügung stehen, sind allesamt vom Schicksal schwer gezeichnete Gestalten, denen wohl keine Wahl bleibt, als jemandem wie Cagliari zu folgen. Aber das soll meine Bewunderung für ihren Dienst nicht schmälern! Einer muss es doch tun. Einer muss es doch wagen, einen Schritt auf diesen Dämon zuzugehen, um ihm die Stirn zu bieten.“ Sein Lächeln wurde breiter, wirkte zum ersten Mal während dieses Gesprächs wieder so frei und offen, wie Maria es gesehen hatte, als sie zusammen in ihrer Kammer gewesen waren und sich ihrer Liebe hingegeben hatten. „Jetzt rede ich auch schon von einem Dämon, obwohl ich dieses Gerede immer abgelehnt habe. Viellicht liegt es daran, dass Meister Cagliari das auch tut. Seine Sichtweise leuchtet mir ein. Es geht darum, diesen Dämon  oder was immer es ist, zuerst zu verstehen. Denn aus dem Verständnis erwächst die Herrschaft und aus der Herrschaft die Möglichkeit ihn zu vernichten.“ Er ballte die Hände zu Fäusten, was auf Maria in diesem Moment etwas befremdlich wirkte. Er schien das zu spüren. Die Fäuste lösten sich wieder und er berührte sie zärtlich an den Schultern. „Ich habe nie zu träumen gewagt, dass dies in Erfüllung geht“, gestand er.

„Dann freue ich mich mit dir!“

„Vielleicht habe ich sogar etwas für Urban erreichen können. Meister Cagliari scheint am Hof großen Einfluss zu haben und auch beim neuen Kaiser viel Vertrauen zu genießen. Er will die Dienste des Kanonengießers dort anpreisen – mal sehen, ob ihm das sein Geschäft etwas erleichtert.“

„Nun, unser Freund Nektarios ist ja nun zum Ersten Logotheten aufgestiegen und könnte sich ja auch für ihn verwenden.“ Maria atmete tief durch. „Allerdings kann ich nur hoffen, dass die handwerklichen Fähigkeiten deines Begleiters tatsächlich so groß sind, wie er selbst sie anpreist, sonst wird sein Versagen zweifellos auf die zurückfallen, die sich für ihn eingesetzt haben.“

„Nun, ich will ehrlich sein – ich habe ihn in der Nähe von Prag kennengelernt, als er auf der Flucht vor seinen Herren war. Kanonen haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie ab und zu leider zerbersten, anstatt mit ihrer Kraft ein Geschoss zu schleudern. Natürlich sagt er, dass er keine Schuld daran trüge, aber verbürgen kann ich mich dafür nicht, zumal ich nichts von der Metallgießerei und allem, was man zur Herstellung von Kanonen wissen muss, verstehe.“

„Ich bin überzeugt davon, dass es in den Diensten des Kaisers Männer gibt, die das beurteilen können“, war Maria zuversichtlich. Sie seufzte. „Das Problem unseres Handelshauses sind zurzeit eher die Kanonen der Türken, die es jedem Schiff, das vom Schwarzen Meer her nach Konstantinopel zu segeln versucht, außerordentlich schwer machen, sein Ziel zu erreichen.“

Maria nestelte an seinem Wams herum. Was rede ich hier eigentlich?, dachte sie. Sie spürte, dass er ihr noch etwas anderes zu sagen hatte – und sie ihm ebenfalls. All das Gerede von Dingen, von denen sie beide nichts verstanden, ließ letztlich nur die rare Zeit verstreichen, die sie beide für sich hatten. Jeden Moment musste man damit rechnen, dass entweder Seriféa oder Urban auftauchten. Vielleicht auch einer der anderen Bediensteten. Wie oft geschieht es, dass man auf einen Menschen trifft, von dem man schon im nächsten Moment weiß, dass man ihn liebt, bei dem es keine Zweifel gibt, obwohl man ihn eigentlich kaum kennt, und der einem trotz allem vertrauter erscheint als so viele andere, denen man täglich begegnet ist? Maria öffnete die Lippen. Sie wollte ihre Gefühle in Worte fassen, ihm sagen wie sehr sie das Zusammensein mit ihm genossen hatte und wie sehr sie ihn auch jetzt begehrte und liebte.

Ein Moment verstrich.

Und bevor sie ein Wort herausgebracht hatte, sprach Wolfhart. „Ich muss noch etwas sehr dringendes mit dir besprechen. Man erwartet von mir, dass ich im Palast wohne. Meister Cagliari wird dafür sorgen, dass ein Quartier für mich gerichtet wird, und so sehr ich die Gastfreundschaft hier auch genossen habe, so kann ich das doch in keinem Fall ablehnen.“

„Gewiss“, brachte Maria heraus.

„Und dann ist da noch mein Pferd. Nun, da ich mein Reiseziel erreicht habe, habe ich keine Verwendung mehr dafür. Dasselbe gilt für das Sattelzeug, denn vermutlich werde ich für lange Zeit hier in Konstantinopel bleiben. Man wird mich zwar entlohnen, aber nicht so fürstlich, dass ich davon den Unterhalt für ein Pferd bestreiten könnte.“

„Du kannst dein Pferd im Stall unseres Kontors lassen. Solange du möchtest.“

„Ich würde es am liebsten verkaufen und wüsste den Gaul gerne in guten Händen. Falls dir jemand einfällt.“

„Das Haus di Lorenzo wird das Pferd kaufen und einen guten Preis zahlen“, versprach Maria.

Sie berührte Wolfhart mit der Hand an der Wange und sah ihn an. In diesem Augenblick knarrte die Tür.

Seriféa kam herein. Sie senkte den Blick und errötete.

„Verzeiht, Herrin, ich habe mich heute verspätet“, sagte sie.

„Nicht zum ersten Mal“, stellte Maria fest, die ihre Hand augenblicklich zurückgezogen hatte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Aber inzwischen hatte sie immer besser gelernt, die Fassung zu waren und zumindest nach außen hin das zu sein, wozu sie nun einmal geboren war: Die Herrin des Hauses di Lorenzo.

„Es wird nicht wieder vorkommen“, versprach Seriféa.

Maria begegnete Seriféas Blick. Wer soll dir das noch glauben?, dachte sie, enthielt sich aber einer Bemerkung.

––––––––

image

Wolfhart aß nicht viel. Mit Urban, der etwas später dazukam und sich von Seriféa Brot und Bier geben ließ, redete er nur das nötigste. Zu sehr schien er mit einen Gedanken bereits bei dem zu sein, was ihm bevorstand.

Maria setzte sich zu ihnen an den Tisch, aber nun, da sie  beide nicht mehr unter sich waren, konnte nur Belangloses besprochen werden – zum Beispiel über die Einzelheiten des Pferdekaufs.

„Du bist anscheinend davon überzeugt, hier wirklich dein Ziel gefunden zu haben“, staunte Urban und nahm einen großen Bissen.

„So wird es ein“, gab Wolfhart zurück und der Tonfall, in dem er das sagte, unterstrich die Tiefe seiner Überzeugung.

„Ich sag dir was – aus Erfahrung mit Fürstenhöfen!“

„Er kann jeden gute Ratschlag gebrauchen!“, mischte sich Maria ein.

„Man sollte sich immer einen Fluchtweg offen halten“, sagte Urban. „Das ist mein Rat. Du hast ja sicherlich in Erinnerung, wie wir uns kennengelernt haben!“

„Ich muss zugeben, dass ich für eine Weile ziemlich ärgerlich darüber war, wie ich in die Angelegenheit in Prag hineingezogen worden bin – obwohl ich bis heute nicht ganz genau weiß, worum es da letztlich eigentlich ging.“

Urban machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vergiss es, Wolfhart! Die Vergangenheit zählt nicht. Du musst in die Zukunft sehen und sie dir so schön wie möglich ausmalen. Allerdings nicht so schön, dass du blind für die Gefahren wirst. Denn Fürsten und andere gekrönte Häupter haben die unangenehme Eigenschaft, ihre Meinungen unter Umständen im Handumdrehen zu ändern – und dann braucht man vielleicht ein schnelles Pferd, das einen davonzutragen vermag.“

„Das heißt, du würdest dein Pferd auch dann nicht verkaufen, wenn der Kaiser dir eine Anstellung auf Lebenszeit und unbegrenzte Mittel anbietet, um die größten Kanonen der Welt zu bauen?“, fragte Wolfhart mit leisem Spott in der Stimme zurück.

Urban runzelte die Stirn. Er schien tatsächlich noch einmal ins Grübeln gekommen zu sein, aber dann schüttelte er energisch den Kopf. „Nein, mein Pferd würde ich behalten! Auf jeden Fall!“ Er zwinkerte Maria zu. „Allein schon, um mir die Möglichkeit offen zu halten, die paar Meilen hinüber zum Hof des Sultans zu reiten und dort mal zu erfragen, was mein Angebot ihm wert wäre.“

Maria sah ihn entsetzt an.

Urban verschluckte sich beinahe an seinem letzten Bissen, als er dies bemerkte.

„Ich hoffe, Ihr meint diese Bemerkung nicht Ernst!“, sagte  Maria.

„Nein, natürlich nicht. Wenngleich Ihr mir zugestehen müsst, dass ich mich keiner Stadt und keinem Land auf dieser Welt genug verpflichtet fühle, um dafür mein Leben zu riskieren oder – noch schlimmer! - ohne angemessenen Lohn für seine Herrschaft zu arbeiten!“

„Die Lage dieses Reiches ist allerdings von ganz besonderer Art“, sagte Maria.

„Reich?“, echote Urban. „Ich spreche anscheinend Eure Sprache zu schlecht oder die falsche italienische Mundart, um Euch richtig zu verstehen. Ihr macht einen Witz – vielleicht?“

„Basileia ton rhomaion – Königreich der Römer.“

„Ein Königreich, zu dem Rom gar nicht gehört und das zudem von einem Kaiser regiert wird – das ist ein Witz.“

„Es wird auch einfach Imperium genannt.“

„Das ist noch ein größerer Witz! Ein Imperium, das bis zur Stadtmauer reicht!“

„Ihr vergesst die Besitzungen auf dem Peloponnes!“

„Ein paar abgelegene Dörfer von Schafhirten vermutlich!“ Urban lachte. „Je kleiner das Reich, desto imposanter der Name, so will es mir scheinen.“

„Dieses Reich ist der letzte Vorposten der Christenheit in dieser Gegend und wenn es fallen sollte, dann wäre das nicht einfach nur der Fall irgendeiner Stadt, sondern ein Erdbeben  für die gesamte Christenheit. Und da sollte man sich schon überlegen, auf welcher Seite man steht!“

„Nun, ich bin natürlich ein Mann des Glaubens“, versicherte Urban, wobei das aus seinem Mund nicht so recht überzeugend klang. „Und bisher habe ich ausschließlich christlichen Herren meine Dienste angeboten!“

„Ich wette Euch ist das Hemd näher als die Hose und auch Ihr würdet für den Teufel persönlich Kanonen bauen, so er Euch darum bäte!“, ertönte nun eine schneidende Stimme, die von der halb offenen Tür herklang, die man vom Empfangsraum die Treppe zum Obergeschoss erreichen konnte.

„Marco!“, entfuhr es Maria.

Marco trat ein. Sein Wams war nachlässig zugeknöpft. Er warf Seriféa einen kurzen Blick zu, der sie erröten ließ und wandte dann seine Aufmerksamkeit denen zu, die am Tisch platzgenommen hatten. „Versteht mich nicht falsch, Herr Kanonengießer! Ich würde Euch das noch nicht einmal vorwerfen! Es muss schließlich nicht jeder so unheimlich rechtschaffen sein, wie meine Schwester. Und wer weiß, vielleicht ist sie das auch gar nicht und versteht es nur, ihre Sünden vor der Welt geheim zu halten. Vor der Welt wohlgemerkt, denn Gott sieht ja bekanntlich in jedes Herz, sei es noch so finster oder noch so hell!“

„Nun, ich bin ein einfacher Mann, der gelernt hat, wie man mit Metallen umgeht und sie in eine Form bringt, die fest und haltbar ist“, sagte Urban. „Von allem anderen maße ich mir nicht an, irgendetwas zu verstehen, geschweige denn, dass ich dazu fähig wäre, andere zu belehren!“

„Ihr wollt Euch nicht festlegen und keine Meinung kundtun – außer über handwerkliche Fragen!“, stellte Marco fest und verzog dabei das Gesicht. „Eine kluge Haltung, würde ich sagen. Männer wie Ihr behaltet den Kopf meistens länger auf den Schultern, als diejenigen, die klaren Grundsätzen folgen! Ihr könnt Euch beglückwünschen!“

„Marco, das ist ein Gast“, sagte Maria gereizt.

„Nun, ich bin überzeugt, dass er über versteckte Bosheiten schon deshalb hinwegsieht, weil er sie gar nicht versteht!“, war Marco überzeugt. Er wandte sich an Seriféa. „Bring mir Wein! Dazu ist es nie zu früh!“ Dann fixierte er Urban mit einem durchdringenden Blick und sagte: „Ihr seid doch ein Fachmann für Kanonen – und Ihr könnt den Boden dieser Stadt kaum betreten haben, ohne der gewaltigen Mauern ansichtig geworden zu sein, die sie schützen.“

Auf Urbans Stirn erschien eine Falte. Der Tonfall unterschwelliger Feindseligkeit konnte ihm selbst dann nicht verborgen bleiben, wenn er vielleicht auch sprachlich nicht allen Nuancen zu folgen vermochte. „Das ist ist richtig“, stellte er zögernd fest.

„Dann hat Ihr doch sicher ein Urteil zu der Frage, ob die Mauern unserer Stadt so unzerstörbar sind, wie viele glauben.“

„Nichts ist unzerstörbar.“

„Könnt Ihr das etwas näher ausführen?“

„Es hängt von der Größe des Geschosses und der Kanone und der Menge des verwendeten Pulvers ab. Und davon, ob es gelingt, das Metall in eine Form zu bringen, die den Kräften standhält, die in ihrem Inneren entfesselt werden. Die einzige Grenze der Zerstörungskraft liegt in der Kunst des Gießers.“  Urban zuckte die breiten Schultern. „Mit genug Pulver könnt Ihr Geschosse aus Blei oder Gestein durch die Luft fliegen lassen, die schwerer als die größten Kirchenglocken sind und die mächtigsten Mauern wie der Schlag eines Hammers zermalmen.“

„Oh“, gab Marco zurück. „Das ist ja geradezu beängstigend, was Ihr da sagt.“

„Es ist eine Frage des Willens und der Mittel – sonst nichts.“

„Und warum, glaubt Ihr, hat der Sultan es bisher nicht geschafft, die Mauern dieser Stadt zu zertreten? Schließlich hat er – und auch sein Vorgänger – es bereits mehrfach versucht. Von all den anderen, die an den Mauern Konstantinopels gescheitert sind, will ich gar nicht erst reden.“

„Nun, eins von beidem muss ihm offenbar fehlen: Der Wille oder die Mittel. Aber früher oder später wird beides vorhanden sein, dass ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“

Marco wandte sich an Maria. „Hörst du Schwester? Dein Vertrauen auf die Mauern des Theodosius, die du mit fast allen Rhomäern teilst, scheint nicht ganz so berechtigt zu sein, wie man uns das immer wieder einzureden versucht!“

„Es wird geschehen, was Gottes Wille ist“, sagte Maria. Sie hatte keine Lust sich hier und jetzt mit ihrem Bruder zu streiten. Dass die Stadt, die auch sie als ihre Heimat empfand, von außen bedroht wurde, war nichts Neues und ihrer Ansicht nach kein Grund, in atemloser Furcht vor einem unabänderlichen Schicksal zu erstarren. Es hatte immer wieder schwierige Situationen für Konstantinopel und seine Bewohner gegeben. Und doch waren das Leben und die Geschäfte immer wieder weitergegangen. Andererseits war ihr eigener Vorfahre, der gerühmte Niccolo Andrea di Lorenzo ein Kronzeuge dafür, dass sich die Stadt sehr wohl erobern ließ.

„Was ist, Schwester, du siehst so nachdenklich aus! Vielleicht wird es ja für das Haus di Lorenzo langsam Zeit, sich nach einer neuen Heimat umzusehen – oder ängstigt dich allein der Gedanke daran so sehr, dass du diese Möglichkeit von vorn herein ausschließt?“

„Ich glaube, dass die größte Gefahr für diese Stadt ganz woanders herkommt. Aus der Tiefe der Erde und durch die Ratten, die Schiffe aus fernen Ländern hier her bringen“, sagte Maria ernst. „Ich meine den Schwarzen Tod, Bruder. Und eigentlich solltest gerade du noch nicht vergessen haben, wie nah diese Gefahr sein kann.“

„Ja, gewiss“, knurrte Marco unwirsch, so als war es ihm unangenehm, von Maria an diese Dinge erinnert zu werden. „Jedenfalls kann der Schwarze Tod sich trotz dickster Mauern in eine Stadt schleichen“, gab Marco zu. „Ich habe gehört, dass auf der Krim – oder war es in Serbien? - die Leichen von Pesttoten mit Katapulten in eine belagerte Stadt geschleudert wurden, damit die Krankheit sich verbreitet!“

„Eine Krankheit als Waffe -  so schändlich sind nicht einmal die Türken bisher gewesen!“, meinte Maria.

„Ihr versteht doch am meisten von der Pest, Wolfhart Brookinger!“, wandte sich Marco nun an den Kaufmannssohn. Dieser hatte sich bisher aus dem Gespräch herausgehalten. Einerseits vielleicht, weil er sich aus den unübersehbaren Spannungen zwischen den Geschwistern des Hauses di Lorenzo wohl heraushalten wollte. Andererseits vielleicht aber auch einfach deshalb, weil er mit seinen Gedanken bei anderen Dingen war.

Schließlich stand ihm nichts weniger als die Erfüllung seines sehnlichsten Traums bevor.

„Davon, eine Plage als Waffe zu benutzen, verstehe ich nicht das Geringste“, widersprach Wolfhart, nachdem er zunächst mit seinem Schweigen die Aufmerksamkeit aller auf eine Art auf sich gezogen hatte, wie es ihm durch keine Worte hätte gelingen können. „Ich habe in Erfurt die Kunst eines Medicus studiert und bin hier, um mich darin zu vervollkommnen, Menschen von ihren Leiden zu erlösen – nicht zu vermehren. Darum mache ich mir auch keine Gedanken darum, wie man mit Hilfe von Krankheiten Vorteile im Krieg erringen kann.“

„Das heißt, wenn Ihr die Macht hättet, dem Pest-Dämon zu befehlen, nur die Türken oder wen auch immer hinwegzuraffen und alle Christen zu verschonen, so währt Ihr nicht gewillt, diese Fähigkeit einzusetzen?“, fragte Marco. „Zum Wohl der Stadt und der heiligen Kirche und aller Christen?“

„Die Pest tötet wahllos“, sagte Wolfhart. „Wenn wir etwas über den Schwarzen Tod wissen, dann das: Er macht alle gleich. Die Christen und Muslime genauso wie die Reichen und die Armen oder die Sünder und diejenigen, die sich bemüht haben ein Leben im Geiste Jesu Christi zu führen. Sie sterben alle dieselbe grausame Art und Weise und es gibt keine Gruppe im Volk, die verschont wird. Der Schwarze Tod ist ein wahllos mordender, unsichtbarer Angreifer, dessen Schläge man erst spürt, sobald man getroffen ist und dessen Angriffe wir nicht sehen können. Was für ein absurder Gedanke, dieses Übel zu disziplinieren und im eigenen Nutzen einsetzen zu wollen!“

„Es ist ja nur ein Gedanke, fremder Medicus!“, lächelte Marco und in seinen Augen blitzte es dabei.

„Wie gesagt, ein absurder Gedanke!“

„Es wundert mich, dass jemand, der den Mut hatte, den weiten und gefährlichen Weg von der Ostseeküste bis nach Konstantinopel auf sich zu nehmen, nicht den Mut aufbringt, einem einfachen Gedanken bis zu seiner letzten Konsequenz zu folgen!“ Marco zuckte mit den Schultern. „Aber Ihr müsst selbst wissen, wie kühn Ihr sein wollt, Wolfhart!“