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Einundzwanzigstes Kapitel: Verzweiflung

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Kanonendonner war jetzt jeden Tag zu hören. Die gewaltigen Geschütze, von denen man in der Stadt überall die schauerlichsten und teilweise schier unglaublichen Geschichten hören konnte, wurden ohne Unterlass geladen und abgefeuert. Alle zwei Stunden hörte man einen gewaltigen Donnerschlag des Konstantinopel-Geschützes und in einem genauso lange Intervall einen etwas weniger starken, aber immer noch beängstigenden Knall des Basilisken. Dazwischen feuerten die anderen Geschütze, sodass ein unablässiges Donnern und Knallen zu hören war.

In den ersten Tagen nach dem Beginn des Beschusses, hatte das die Stadt nahezu gelähmt. Ihre Bewohner erstarrten förmlich vor Angst. Aber offenbar konnte man sich auch an solche Schrecken gewöhnen. Das Leben in den Handwerksgassen und auf den Märkten schien sich bis zu einem gewissen Grad zu normalisieren. In den Werkstätten der Handwerker wurde sogar wieder gearbeitet und bei den Geldwechslern herrschte so viel Betrieb wie seit Tagen nicht mehr. Es schien, als ob man das drohende Unheil einfach zu ignorieren versuchte.

Maria machte sich Sorgen um ihren Bruder, der schon seit mehreren Tagen nicht nach Hause gekommen war. Er war einfach nicht aufzufinden und niemand schien zu wissen, wo er geblieben war.

„Er wird sich mit diesen Ketzern und Teufelsanbetern treffen“, glaubte Maria, als sie mit Davide darüber sprach.

„Seriféa ist ebenfalls verschwunden“, stellte Davide fest.

„Ich dachte, sie sei zu ihrem Onkel zurückgekehrt!“, gab Maria überrascht zurück.

Davide nickte. „Ja, weil Euer Bruder ihr das Herz gebrochen hat und sie es nicht mehr ertragen konnte, hier zu leben. Aber ich habe erfahren, dass sie nie dort ankam.“

Marias Augen verengten sich. „Davide, redet offen mit mir. Was glaubt Ihr, ist da geschehen?“

„Wenn ich das nur wüsste.“

„Ich weiß, dass sie sich sehr um einen Bruder gesorgt hat und ihm sogar zu einer dieser unheiligen Zusammenkünfte gefolgt ist, die vom Orden der Cherubim abgehalten werden, um irgendwelche Zeremonien abzuhalten. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass sie vielleicht ebenfalls in den Bann dieses Ordens geraten ist?“

„Ehrlich gesagt nein“, bekannte Davide. „Ihr Glaube ist gefestigt.“

„Marco hatte zwar immer gewisse Zweifel und ehrlich gesagt habe ich ihn manchmal dafür insgeheim bewundert, dass er einem Gedanken einfach folgte – ohne Furcht davor, wohin er ihn führen könnte. Aber ich hätte niemals gedacht, dass er so zum Sklaven einer Idee werden könnte. Einer Idee, die nichts anderes sagt, als dass man das Böse tun muss, um das Böse zu verhindern. Und was mich am meisten erschreckt ist, dass er offensichtlich jeden Glaube an die Zukunft verloren hat. Denn wie es sonst erklärlich, dass er das Vermögen des Hauses zu verschleudern versuchte und dass es ihm völlig gleichgültig zu sein scheint, was morgen mit ihm sein wird.“ Maria hob den Kopf.

Dass Seriféa ihren Dienst im Hause di Lorenzo aufgab, hatte die junge Frau Maria nicht selbst gesagt. Stattdessen war sie von Davide darauf angesprochen worden, der zunächst eine vorübergehenden Rückkehr zu ihrem Onkel erwähnte, mit dem sie auch nach Konstantinopel gekommen war. Der Onkel lebte inzwischen am anderen Ende der Stadt, nördlich des alten Konstantinopels an der senkrecht zur Mese verlaufenden Hauptstraße, die vom Konstantin-Hafen im Süden bis zum Ufer des Goldenen Horns führte.

„Wir sollten offen sprechen, Davide“, sagte Maria.

„Ich habe immer offen mit Euch gesprochen“,behauptete Davide.

„Ich meine insbesondere über meinen Bruder und Seriféa.“

Davide schwieg einige Augenblicke. „Die Anziehungskraft zwischen zwei Menschen richtet sich nicht nach den Erwägungen der Vernunft. Seriféa hat sich in Euren Bruder verliebt, aber ich glaube nicht, dass er diese Liebe auf dieselbe Weise erwidert hat. Und das hat sie verzweifeln lassen und es ihr unerträglich gemacht, länger in Eurem Haus zu arbeiten.“

Maria nickte. „Das kann ich sogar verstehen. Aber kann es einen Grund dafür geben, dass sie doch nicht zu ihrem Onkel zurückkehrte?“

„Nein.“

„Ich verstehe nicht, dass sie sich nicht verabschiedet hat. Denn nach unserem letzten Gespräch, in dem sie mir ihre Sorgen über Marcos Zugehörigkeit zu diesem geheimen Orden offenbarte, hatte ich eigentlich das Gefühl, sie würde mir vertrauen.“

„Sie bat mich, es Euch zu sagen“, erklärte Davide. „Euch gegenüber fühlte sie zu viel Scham.“

––––––––

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Drei Tage später fand man Marco und Seriféa an den Kaimauern des Eutherios-Hafens. Da zumindest Marco dort als Angehöriger des Hauses di Lorenzo wohl bekannt war, wurde Maria sofort benachrichtigt. Ihnen war das Genick gebrochen worden und ihre Körper wiesen Spuren von Schlägen und Stichen auf.

Auf die Stirn aber hatte man den Toten mit Kohle die Buchstaben Lambda und Rho gemalt.

––––––––

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Es war mitten in tiefster Nacht, als es an Marias Tür klopfte. Sie hatte unruhig geschlafen. Der Kanonendonner war inzwischen auch die ganze Nacht über zu hören, auch wenn die Abstände zwischen den Schüssen nach Anbruch der Dunkelheit etwas länger wurden. Aber es waren nicht die Schüsse der türkischen Geschütze, die Maria in erster Linie den Schlaf geraubt hatten, sondern die Ereignisse der letzten Zeit – allen voran der rätselhafte Tod ihres Bruders und seiner Geliebten Seriféa. Hatte die junge Frau zu viel gesehen, als sie Marco gefolgt war? Hatte sie Dinge erfahren, von denen sie nichts hätte wissen dürfen und war vielleicht der Eindruck entstanden, Marco wäre in Verräter? Alles schien möglich. Aber die Buchstaben Lambda und Rho waren den Toten so demonstrativ auf die Stirn gezeichnet worden, dass man dies wohl als Warnung verstehen konnte. Auch die Tatsache, dass man die Toten nicht einfach in der Unterwelt Konstantinopels oder in einem der Hafenbecken, Kanäle und Flüsse des Lycos hatte verschwinden lassen, sprach für sich. Sie hatten gefunden werden sollen.

In was für ausgreifende Fänge war Marco da nur geraten?

Davide hatte versprochen, mehr über diesen geheimnisvollen Orden in Erfahrung zu bringen, dessen Lehre Marco so verinnerlicht hatte. Aber die Chancen, die Mörder zu fassen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen, war praktisch nicht gegeben. Und so sehr zunächst alles in Maria gegen diese Erkenntnis zu rebellieren versucht hatte, vielleicht musste sie sich mit dieser Tatsache einfach abfinden.

Es klopfte erneut und dann folgte ein Kanonenschlag von so großer Heftigkeit, dass sie förmlich zusammenzuckte und nun auch vollkommen wach war.

„Wer ist da?“

„Ich bin es. Wolfhart Brookinger!“

Maria glaubte sich im ersten Moment verhört zu haben.

War sie noch in einem Gespinst aus Wunsch- und Albträumen gefangen und bildete sich nur etwas ein? Sie schlug das Bett zur Seite. Barfuß und in ihrem bis zum Boden reichenden Nachthemd ging sie zur Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Riegel zurückschob, öffnete und ihn dann tatsächlich vor sich sah – Wolfhart Brookinger, den Mann, mit dem sie ein Gefühl von einer Stärke und Intensität verband, wie sie es bisher nicht gekannt hatte.

Im Korridor herrschte Halbdunkel. Mondlicht fiel durch das Fenster ihrer Kammer und ließ sein Gesicht fahl erscheinen.

„Wolfhart!“, stieß sie hervor.

„Darf ich eintreten?“

Anstatt seine Frage zu beantworten, schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Etwas zögernd umarmte auch er sie, drückte sie dann fest an sich und küsste sie. Atemlos löste sie sich voneinander. Dann zog sie ihn zu sich in die Kammer und schloss die Tür hinter sich. 

„Wolfhart!“, entfuhr es ihr. Wie sehr freute sie sich, ihn wiederzusehen. „Du hast mir gefehlt!“

„Es war gar nicht einfach, zu dir vorzudringen“, lächelte er.

„Hat Michael dir das Tor geöffnet?“

„Nein. Ich bin über das Tor geklettert und habe dann den Kutscher schlafend vorgefunden. Wo sind die Wächter des Hauses di Lorenzo geblieben?“

„Seit ein paar Tagen sind sie alle zum Waffendienst an der theodosischen Mauer verpflichtet worden. Selbst Thomás tut dort inzwischen wieder Dienst.“

„Man braucht dort wohl jeden Mann.“

„Für uns ergibt sich daraus die Schwierigkeit, dass unsere Gebäude und die Waren beinahe unbewacht sind. Außer unserem Kutscher Michael, Davide und mir ist zurzeit niemand im Haus. Und wie du gesehen hast, ist Michael nicht unbedingt der zuverlässigste Nachtwächter! Wir können nur hoffen, dass das Diebesgesindel sich von den hohen Mauern abschrecken lässt und nichts davon ahnt, dass man wahrscheinlich niemanden an einem Raubzug hindern könnte.

„Auch Diebe werden in diesen Zeiten vielleicht andere Sorgen haben.“

„Es sind schon in den letzten Tagen Lagerhäuser am Eutherios-Hafen geplündert worden. Die Hafenwächter sind nicht zahlreich genug und ein Großteil von ihnen ist an die theodosische Mauer kommandiert worden – denn ein Angriff vom Marmara-Meer aus ist sehr unwahrscheinlich.“ Maria ließ seine Hand los und sah sich um.

„Was hast du vor?“

„Licht machen!“

„Nein, lass das! Ich will kein Aufsehen.“

Maria lächelte. Der Mondschein spiegelte sich in ihren Augen. „Aber wieso? Wir lassen in manchen Räumen das Licht die ganze Nacht über brennen, um den Eindruck von Bewohntheit zu erwecken – denn das ist der beste Schutz gegen Diebe. Ich brauche nur über den Korridor zu laufen, und kann eine Öllampe oder einen Kerzenständer holen!“

Sie wollte schon an ihm vorbei zur Tür gehen, aber er fasste sie bei den Schultern und hielt sie fest. „Maria, ich muss dir einiges sagen, das keinen Aufschub duldet. Und davon abgesehen weiß ich nicht, ob mir vielleicht jemand gefolgt ist und aus dem Licht in diesem Zimmer vielleicht daraus schließen könnte, dass ich hier bin.“

Maria erwiderte seinen Blick. Ihre Augenbrauen zogen sich etwas zusammen. „Was willst du mir sagen?“

„Vor einiger Zeit hast du mir von einem Zeichen erzählt, das aus zwei griechischen Buchstaben besteht.“

„Lambda und Rho“, murmelte Maria und sie hatte auf einmal ein Gefühl, als ob sich ihr eine kalte Hand auf die Schulter legte. „Was weißt du davon?“

––––––––

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Sie setzten sich auf das Bett und Maria erzählte Wolfhart in knappen Worten, was sich zuletzt zugetragen hatte - insbesondere von Marcos und Seriféas Tod.

„Ich habe die Worte deines Bruders, was den Satan angeht und dass Gott sein ohnmächtiger Zwilling sei, immer für das wirre Gerede eines Menschen gehalten, dessen Seele durch das Schicksal schwer verwundet wurde“, sagte Wolfhart. „Aber dann musste ich herausfinden, dass der Mann, dem ich auf einem so weiten Weg gefolgt bin, um von ihm zu lernen, denselben Ansichten anhängt. Auch er will die Hölle mit den Mitteln der Hölle bekämpfen. Und er trägt in seinem Fleisch dieses eingebrannte Zeichen – Lambda Rho.“

„Fausto Cagliari? Der Mann, den du so bewunderst und verehrst?“, stieß Maria hervor. „Er gehört auch dazu.“

„Wer weiß wer noch... Es scheint in höchste Kreise am Hof hinaufzureichen. Und was dieser unheilige Orden letztlich erreichen will, weiß ich nicht. Dass der Kaiser selbst dazugehört, will ich nicht hoffen, aber ich halte es nicht für ausgeschlossen. Und wenn nicht, dann werden wir vielleicht bald erleben, dass diese Stadt einen anderen Kaiser bekommt, der vielleicht auch dieses Zeichen auf der Haut trägt. Erzählt man nicht, dass Kaiser Johannes unter sehr merkwürdigen Umständen starb.“

„Ich war dabei, als es geschah.“

„Und wer untersuchte die Leiche?“

„Der Arzt, dem auch ich mein Leben anvertraute.“

„Fausto Cagliari!“

Maria schluckte. „Ja.“

„Der Erste Logothet sprach mich unter sehr eigenartigen Umständen an und hielt mich wohl für einen Eingeweihten.“

„Sprichst du etwa von Nektarios Andronikos, dem Freund unseres Hauses?“

Wolfhart nickte. „Ja, genau. Er gehört offenbar auch dazu. Es gibt anscheinend einen Plan, der so unglaublich klingt, dass man es sich kaum vorzustellen vermag.“

„Was für einen Plan?“

„Der Schwarze Tod soll als Waffe eingesetzt werden. Meister Cagliari sucht seit Jahren nach der Substanz, die das innerste Wesen dieser Krankheit enthält. Wir wissen, dass es in Sekreten und Körperflüssigkeiten der Kranken ist und Meister Cagliari hat auch herausgefunden, dass es sich über Flöhe von den Ratten auf die Menschen springt. Aber er hat diesen Stoff nie isolieren können. Die Erkenntnisse, die er gewann, haben viele Opfer unter seinen Helfern gekostet – und nicht nur dort. Er hält ungezählte Mengen pestverseuchter Ratten in großen Gewölben, deren Flöhe regelmäßig ausgekämmt und in Behältern gesammelt werden. Zuerst dachte ich, dass all dies geschieht, um ein Heilmittel zu finden. Es gibt tatsächlich die Lehre, dass man etwas von einem Gift einnehmen müsse, um den Körper dagegen zu stärken. Aber Cagliari hat offenbar etwas ganz anderes vor. Zumindest hat er dies seinen Auftraggebern versprochen. Die Pest soll im Lager des Sultans freigesetzt werden und dort zu wüten anfangen. Aber dabei wird es nicht bleiben. Sie wird sich ausbreiten und in die Stadt zurückkehren – spätestens, wenn die Truppen des Sultans die Mauern soweit zerschossen haben, dass sie in die Stadt vordringen können! Aber dazu muss es gar nicht kommen. Es reicht schon, wenn verseuchte Wühlmäuse und Wanderratten zwischen den Fronten wandern oder die Pestleichen mit dem Wasser des Lycos zurück in die Stadt getrieben werden.“ Er strich ihr zärtlich über das Haar und fasste sie bei der Schulter. „Ich kann dich nur beschwören, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen!“

„Es gehen kaum noch Schiffe“, sagte Maria. „Die Durchfahrt durch die Dardanellen können im Moment nur die schwer bewaffneten Galeonen aus Genua und Venedig wagen – und die werden die Stadt ganz sicher nicht verlassen, solange die Belagerung nicht vorbei ist.“

„Du scheinst optimistisch zu sein.“

„Es ist nicht die erste Belagerung Konstantinopels – aber es wäre die erste seit zwei Jahrhunderten, die Erfolg hätte. Abgesehen davon, was bleibt einem anders?“

„Ich kann dich nur beschwören, vielleicht doch nach einer Möglichkeit zu suchen, die Stadt zu verlassen.“

„Das könnte ich nicht. Selbst wenn es zurzeit möglich wäre, Wolfhart!“

„Warum nicht?“

„Hier ist unser ganzer Besitz, den Generationen von di Lorenzos bewahrt und vermehrt haben! Ich könnte das alles nicht so einfach zurücklassen. Schon gar nicht jetzt, wo alles so unsicher geworden ist.“

„Ehrlich gesagt bin ich nur aus diesem einzigen Grund her kommen. Um dich zu warnen, denn ich könnte es nicht ertragen, von eine drohenden Verhängnis gewusst zu haben und nichts unternommen zu haben, um dich zu retten.“ Er erhob sich. „Ich habe nicht viel Zeit.“

Maria sah ihn verständnislos an. „Du willst zurück?“

„Man erwartet mich zurück. Meister Cagliari benötigt meine Hilfe.“

„Aber ich dachte...“

„Maria, ich warte nur darauf, die Pläne dieses selbsternannten Todesengels zu durchkreuzen. Aber das kann ich nur, wenn ich in seiner Nähe bin und auf die richtige Gelegenheit warte... Und zudem bin ich auch noch nicht in alle Geheimnisse eingeweiht. Im Moment habe ich gerade einmal nur eine vage Ahnung von der Verschwörung, die hier im Gang ist.“

„Mir empfiehlst du, die Stadt zu verlassen und selbst hegst du die Absicht, dich geradewegs in das Zentrum der Gefahr zu begeben.“

„Wenn ich eine furchtsame Natur hätte, wäre ich niemals hier her gekommen, um von einem Pest-Medicus zu lernen“, erwiderte Wolfhart. „Ich kann unmöglich jetzt einfach davonlaufen – zumal es dazu wahrscheinlich auch gar keine Möglichkeit gäbe. Ich kann nur versuchen, das schlimmste zu verhindern – und das werde ich tun.“

Maria atmete tief durch. „Wie kann ich dich aufhalten?“

„Gar nicht.“

„Das habe ich befürchtet.“

„So wie dich wohl auch niemand daran hindern kann, noch die letzten Trümmersteine des Hauses di Lorenzo zu bewachen, wenn hier ansonsten vielleicht schon alles in Schutt und Asche liegt.“

So, als wollte irgendein ferner Zuhörer die Worte Wolfhart Brookingers in diesem Moment lautstark bekräftigen, gab es jetzt wieder einen besonders heftigen Kanonendonner. Zwei Geschütze – und es konnten nicht die kleinsten unter ihnen sein! - schossen annähernd zur gleichen Zeit und man wagte sich kaum vorzustellen, was für ein großes Loch die Geschosse jetzt gerade in die Mauern rissen.

Sie umarmten sich. Maria wollte Wolfhart eigentlich gar nicht gehen lassen. Aber sie spürte, dass sie ihn wohl nicht aufhalten konnte.

„Wann sehen wir uns wieder, Wolfhart?“

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Und offen gestanden, wäre es vielleicht besser, wenn wir uns nicht wiedersehen, denn jeder, der dort unten in Meister Cagliaris Unterwelt sein Gehilfe wird, könnte die Krankheit bekommen und weitertragen...“

„Wolfhart, ich liebe dich und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du da unten bei diesem Menschgewordenen Satan in Gefahr bist!“

„Er will ein Reich der Hölle erschaffen, um die Hölle der Heidenherrschaft zu bannen. Die Furcht ist seine Waffe und  ganz gleich, wie diese Schlacht um Konstantinopel ausgeht, was er plant wäre schlimmer.“

Ihre Blicke trafen sich. Er strich ihr das Haar zurück und sie berührte zärtlich sein Gesicht und dann seine Schulter.

Dann küssten sie sich mit einer Mischung aus Zärtlichkeit, Leidenschaft und Verzweiflung.

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Wolfhart ruderte die Barke mit hektischen Schlägen. Er musste sich beeilen. Die Fackel am Bug bot gerade genug Licht, um sich orientieren zu können.

Es gab viele Stellen, an denen man die Unterwelt Konstantinopels betreten konnte. Wolfhart war über den Keller eines alten, halb verfallenen Gebäudes, das früher einmal Teil des Hippodroms gewesen war, aus der Tiefe emporgekommen, um  Maria zu besuchen. Es wäre zu auffällig gewesen, den Palast auf dem normalen Weg durch das Tor zu verlassen und wieder zu betreten. Nach seiner Begegnung mit dem Ersten Logotheten musste er damit rechnen, beobachtet oder gar nicht erst hinausgelassen zu werden.

Aber in dem Labyrinth der Zisternen und Katakomben und unterirdischen Wasserwegen, herrschte eine gewisse Freiheit, unbemerkt von einem Ort zum anderen gelangen zu können.

Das verfallene Gebäude,in dessen Keller er die Barke zwischenzeitlich angelegt hatte, war längst unbewohnbar. Ein Teil war schon eingestürzt und ein Teil der Steine war bereits fortgeschafft und in andere Bauten eingesetzt worden. Nicht mehr lange und der Rest würde vermutlich ebenfalls in sich zusammenstürzen. Dann war ein weiterer Zugang zur Unterwelt von Konstantinopel verschüttet oder es blieben nur noch kleine Zugänge, Tunnel und Löcher übrig, die von Ratten und Mäusen benutzt wurden. Aber man hatte auch schon Biber dabei beobachtet, wie sie sich in diesem Laufe von Jahrzehnten völlig vernachlässigten System von Zu- und Abflüssen eingerichtet hatten.

Für Wolfhart bot sich so die Möglichkeit, seine unterirdische Arbeitsstätte zu verlassen, ohne dass es im günstigsten Fall bemerkt wurde. Allerdings war er sich dessen nie vollkommen sicher und blieb vorsichtig.

Während er mit schnelleren Ruderschlägen dafür sorgte, dass die Barke etwas beschleunigte, dachte er an Maria. Er hatte sie zwar gewarnt, aber sie schien die Warnung nicht sonderlich ernst zu nehmen. Jedenfalls nicht ernst genug, um dafür ihren Besitz im Stich zu lassen. Wolfhart machte sich wirklich tiefgehende Sorgen. Wenn der Schwarze Tod erst einmal von seinen Fesseln befreit war, würde er wieder so blindwütig zuschlagen, wie er es schon so oft getan hatte. Nur war zu befürchten, dass sich die Krankheit dann angesichts des allgemeinen Chaos, das der Krieg nun einmal mitzubringen  pflegte, noch schneller ausbreiten würde, als dies ohnehin schon der Fall gewesen wäre.