2. KAPITEL
Hollis
Addison würde mir den Kopf abreißen, weil ich zu spät kam. Ich hatte sie gebeten, bei den Bewerbungsgesprächen dabei zu sein, und nun hatte ich das erste verpasst. Ich sah auf meine Uhr. Das zweite war bestimmt auch schon halb vorüber.
Im fünfzehnten Stock verließ ich den Aufzug, ging durch die gläserne Flügeltür und warf meine Aktentasche auf den Empfangstresen. Fast alle hatten schon Feierabend gemacht, aber aus dem Konferenzraum waren Stimmen zu hören. Da ich eh schon zu spät war, konnte ich ruhig noch zur Toilette gehen.
»Addison! Ich bin’s, Hollis!«, rief ich den Gang hinunter. »Ich komme gleich!«
»Schön, dass du es einrichten konntest!«, schrie sie. »Vielleicht solltest du deine protzige Rolex gegen eine Timex austauschen!«
Ich ignorierte ihren Kommentar und ging zur Toilette. Ich musste schon seit einer Stunde pinkeln – seit ich auf den verdammten Abschleppwagen gewartet hatte. Nach dem Händewaschen zog ich meine Jacke aus und machte mich auf den Weg zu dem Bewerbungsgespräch. Nach dem Tag, den ich hinter mir hatte, hoffte ich zumindest auf eine gute Bewerberin. Ich brauchte dringend Unterstützung.
Addison hatte ihren Stuhl zurückgeschoben, um in den Flur zu schauen, und sah mich kommen. Sie tippte auf ihre Uhr. »Meine habe ich schon seit fünfzehn Jahren. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nur fünfzig Dollar dafür bezahlt. Und trotzdem geht sie bis heute auf die Minute genau.«
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin.« Ich betrat den Konferenzraum und entschuldigte mich bei der Bewerberin, die mit dem Rücken zu mir saß. »Mir ist beim Einparken jemand reingefahren.«
Die Frau drehte sich um. »Ist ja witzig … Ich …« Sie hielt inne, und ich sah sie verblüfft an.
Das soll wohl ein Scherz sein!
Ich schüttelte fassungslos den Kopf. »Sie?«
Ihr Lächeln schwand ebenso schnell wie meins. Sie schloss die Augen und seufzte. »Hallo Hollis!«
Elodie.
Nein.
Verdammt, nein.
Ich hob die Hände. »Okay, ich bedauere, aber das wird wohl nichts. Ich möchte weder Ihre Zeit vergeuden noch meine. Also schlage ich vor …«
»Im Ernst? Sie geben mir nicht mal eine Chance, weil Sie meinen, ich hätte einen Unfall verursacht, an dem Sie
die Schuld tragen?«
»Schon die Tatsache, dass Sie immer noch glauben, Sie hätten nichts damit zu tun, zeigt, dass Sie zu Realitätsverlust neigen, Elodie. Und diese Eigenschaft ist absolut unerwünscht bei der Position, um die es hier geht.«
Addison unterbrach unsere Zankerei. »Also, es ist schon ein erstaunlicher Zufall, dass ihr beide einen Unfall hattet und
Elodie eine unserer Bewerberinnen ist. Aber vergessen wir das. Offensichtlich bist du zu voreingenommen, um eine faire Entscheidung zu treffen, Hollis. Ich denke, du solltest Ms Atlier wenigstens die Möglichkeit zu diesem Bewerbungsgespräch geben, wie es geplant war, und sie nicht aufgrund einer Sache beurteilen, die nichts mit dem Job zu tun hat.«
Ich schloss die Augen und schnaufte entnervt. Es war ein langer Tag gewesen, und zum Protestieren fehlte mir die Kraft.
Bringen wir es hinter uns!
Ich rieb mir die Schläfen und hatte das Gefühl, dass jeden Moment eine Ader in meinem Hals platzen würde. »Also gut.« Ich setzte mich und streckte die Hand aus. »Gib mir ihren Lebenslauf, Addison.«
Sie reichte mir das Papier, und ich las ihn durch. Elodie Atlier aus Connecticut hatte zwei Jahre als Nanny gearbeitet, aber das war lange her. Danach gab es eine ziemlich große Lücke in ihrem beruflichen Werdegang, und seit zwei Jahren war sie für einen Privatdetektiv tätig.
»Was genau machen Sie bei dem Privatdetektiv?«
»Ach … dies und das, ein bisschen von allem.«
Ich schnaubte. »Wie aufschlussreich. Sie klingen wirklich sehr qualifiziert.«
Sie funkelte mich böse an. »Ich habe zwei Jahre lang Zwillinge betreut!«
»Schön, und was machen Sie jetzt?
›Ein bisschen von allem‹ bei Ihrer aktuellen Tätigkeit befähigt Sie nicht automatisch, sich um ein Kind zu kümmern.«
»Nun, bei meiner Arbeit ist Multitasking gefragt. Und ich muss … mich auf viele verschiedene Menschen einstellen. Das sind beides wichtige Eigenschaften, wenn man Kinder betreut.«
Mein Bauchgefühl sagte mir, dass sie etwas verbarg. »Geben Sie mir ein Beispiel für Ihr Multitasking.«
Sie schlug die Augen nieder. »Also … manchmal habe ich bei der Observation assistiert und
dem Fotografen ausgeholfen.«
Ich warf den Lebenslauf zur Seite. »Sie haben also beim Herumspitzeln geholfen und … was? Selfies gemacht? Welche relevanten Arbeitserfahrungen haben Sie in Ihrem jetzigen Job gesammelt, Ms Atlier?« Am Ende meiner Frage konnte ich mir ein kleines Lachen nicht verkneifen.
»Wenn Sie sich die Mühe machen würden weiterzulesen, könnten Sie sehen, dass ich ein Diplom in Kleinkindpädagogik habe, und in der Highschool habe ich auf ein Zwillingspaar aufgepasst.«
»In der Highschool. Großartig.
« Ich seufzte frustriert. »Sie haben leider nicht den Background, der Sie zu einer geeigneten Betreuerin für eine Elfjährige macht.«
»Da bin ich anderer Ansicht. Ich denke, dass meine derzeitige Tätigkeit eine gute Vorbereitung auf diese Stelle ist.«
Ihre Behauptung machte mich neugierig. Ich sah sie mit geneigtem Kopf an. »Tatsächlich? Inwiefern, Ms Atlier? Erklären Sie mir das bitte. Aus irgendeinem Grund habe ich nämlich das Gefühl, Sie weichen mir aus und wollen
mir gar nichts Genaues über Ihre Tätigkeit erzählen.«
Sie wurde rot. »Mein Job hat mich darauf vorbereitet, mit so ziemlich allem zurechtzukommen. Ich hatte mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun und kann mich selbst verteidigen. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen nur zu gern eine
Kostprobe. Und … ich habe darüber hinaus gelernt, in Drucksituationen immer die Ruhe zu bewahren. Das alles finde ich sehr nützlich für die angebotene Stelle. Addison hat mir ein bisschen über Hailey erzählt. Ich bin außerdem für diese Stelle geeignet, weil ich das eine oder andere über Problemkinder weiß. Ich war selbst eins.«
Ich sah sie durchdringend an. »Sie wollen mich also davon überzeugen, dass eine Frau mit einer schwierigen Kindheit, die nicht fahren kann und die vergangenen Jahre weitgehend damit verbracht hat, für einen Privatdetektiv zu arbeiten und Gott weiß was zu tun, die Richtige für diesen Job ist?«
Sie straffte die Schultern. »Wissen Sie, Gleich und Gleich gesellt sich gern. Deshalb bin ich besser als jede andere dafür geeignet, eine Verbindung zu einem jungen Mädchen mit familiären Problemen herzustellen. Damit kenne ich mich aus. Haileys Geschichte hat große Ähnlichkeiten mit meiner eigenen. Und darf ich Sie daran erinnern, dass nicht Fahren mein Defizit ist, sondern Parken?
Ich bin nämlich eine verdammt gute Fahrerin!«
»Ist das hier ein Bewerbungsgespräch oder ein Rededuell?«, fragte Addison dazwischen. »Mannomann, ich weiß gar nicht, wer von euch beiden schlimmer ist!«
Sie hatte recht. Es war wirklich albern. Ich musste das Theater sofort beenden. »Mit Verlaub, Ms Atlier, ich denke, wir sind hier fertig.«
Elodie kniff die Augen zusammen. »Wissen Sie, was Ihr Problem ist? Sie glauben, dass Sie das Recht haben, über andere zu urteilen, nur weil Sie reich und mächtig sind.«
»Selbstverständlich habe ich das Recht, über Leute zu urteilen – das hier ist ein Bewerbungsgespräch. Und da urteilt
man über die Bewerber.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Ich stand auf. Das Ganze war von Anfang an reine Zeitverschwendung. »Danke, dass Sie gekommen sind, aber Sie bieten nicht die besten Voraussetzungen als Nanny, egal wie Sie es drehen.«
Sie machte ein langes Gesicht. Ihre Enttäuschung war offensichtlich. »Okay, ich werde nicht hier sitzen und um eine
Chance betteln, wenn Sie mich gar nicht in Erwägung ziehen.« Sie wandte sich Addison zu. »Er hat sich schon in dem Moment gegen mich entschieden, als er mich gesehen hat.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, sagte Addison.
»Danke für deine Unterstützung, Addison!«, fuhr ich sie an. »Vielleicht solltest du mal nachhören, ob Elodies jetziger Arbeitgeber noch jemanden gebrauchen kann, der dies und das und ein bisschen von allem macht.«
»Es würde mir ziemlich gut gefallen, eine Weile woanders zu arbeiten. Vielleicht kann ich für einen Tag mit ihr tauschen. Danach wird sie sich die Kugel geben wollen.« Addison lachte. »Ich bitte dich, Hollis, im Ernst. Du willst Mary Poppins, und die gibt es nicht. Warum versuchst du es nicht mit Elodie?«
Ich war im Begriff, es in Betracht zu ziehen, als Elodie aufsprang und rief: »Mary Poppins würde Ihnen ihren Schirm in den arroganten Arsch stecken!«
Das war’s dann wohl.
Lebewohl, Elodie!
Ich musste lachen. »Und da fragt sie sich, warum sie keinen vernünftigen Job findet!«
»Auf Wiedersehen, Hollis. War mir ein Vergnügen.« Elodie ging zur Tür. »Ich habe Besseres zu tun, als mich von jemandem verspotten zu lassen, der so von seinem Ego geblendet ist.«
»Etwas Besseres? Essen Sie jetzt die nächste Packung Minzpralinen?«, frotzelte ich.
Elodie warf mir einen eisigen Blick zu – und da regte sich plötzlich mein Schwanz. Machte es mich allen Ernstes an, mit dieser Frau zu streiten?
»Danke für Ihre Mühe, Addison«, sagte Elodie, bevor sie den Flur hinuntereilte.
Meine Belustigung schwand, als ich mich wieder hinsetzte und Addisons finstere Miene sah. Sie warf ihre Mappe nach mir, stürmte davon und ließ mich allein im Konferenzraum zurück.
Ich drehte mich in meinem Stuhl und trommelte nachdenklich mit dem Stift auf die Tischkante. Ich glaubte zwar nicht, dass Elodie die Richtige für den Job war, aber vielleicht war ich etwas zu hart mit ihr umgegangen.
Allerdings hatte sie mir eindeutig etwas verschwiegen, und wenn eine Frau diesen Eindruck auf mich machte, gingen bei mir sämtliche Warnleuchten an. Das hatte ich Anna zu verdanken.