3. KAPITEL
Hollis
Vierzehn Jahre zuvor
»Du hast es echt nicht drauf!«
»Ich habe Krebs, Alter.«
Ich stieß Adam seine verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe vom kahlen Schädel. Er hatte sich kürzlich den Kopf rasiert, weil ihm die ersten Haare während seiner Chemo ausgefallen waren.
»Ja. Aber selbst wenn ich eine Zauberpille finden würde, die dich sofort gesund macht, würdest du das Spiel immer noch nicht auf die Reihe kriegen! Also spiel jetzt nicht die K-Karte. Damit hast du Anna schon zum Narren gehalten.«
Adam wackelte mit seinen nicht vorhandenen Augenbrauen. »Vielleicht täusche ich eine Ohnmacht vor, wenn ich ihr das nächste Mal im Flur begegne, damit sie mir eine Mund-zu-Mund-Beatmung verpasst.«
Ich gab ihm einen Schubs. Er kippte auf der Couch um, doch seinen Gamecontroller behielt er fest in der Hand.
»Finger weg von meinem Mädchen!«
Ich tat so, als wäre ich sauer, aber das war ich natürlich nicht. Adam war erst dreizehn und meine Freundin fast siebzehn. Die Wahrscheinlichkeit, dass er bei ihr landete, war ungefähr so groß wie die eines Schneesturms im Juli in New York. Außerdem waren Adam und ich Kumpel. Er würde mir das niemals antun, selbst wenn er könnte. Er provozierte einfach gern.
Und überhaupt, ich konnte es ihm nicht verübeln, dass er ein Auge auf Anna geworfen hatte, denn sie verdrehte kleinen Jungen und ihren Vätern den Kopf. Es war nicht leicht, mit einem tollen Mädchen zusammen zu sein.
»Machen wir noch ein Spiel? Mit doppeltem Einsatz.«
»Du hast schon zehn Dollar verloren, die du nicht hast. Ich weiß nicht, ob ich meine Finger verschleißen will, um einen Zwanziger zu gewinnen, den ich nie zu Gesicht bekomme.«
»Feigling!«
Ich schüttelte den Kopf und stand auf, um die Reset-Taste zu drücken. Als ich zur Couch zurückging, betrat Schwester Pam den Aufenthaltsraum.
»Hollis, die Pflegerin deiner Mutter hat gerade Bescheid gesagt. Sie ist wach, und du musst gleich zur Schule.«
»Danke, Pam. Ich bin schon unterwegs.«
»Gerettet von deiner Mama «, sagte Adam. »Diesmal hätte ich dich fertiggemacht!«
Ich ging zur Tür. »Ganz bestimmt! Ich komme später vorbei und zeige dir noch mal, wie es geht.«
»Schick mir lieber deine Freundin, damit sie mir zeigt, wie es geht.«
Ich grinste und lief zum Aufzug. Auf der Fahrt zur neunten Etage warf ich einen Blick auf die Uhr des Mannes, der neben mir stand. Schon sechs Uhr. Ich wusste nicht einmal, wann ich nach unten auf die Kinderstation gegangen war. Es musste gegen drei Uhr in der Nacht gewesen sein. Weil Adam der einzige Mensch hier zu sein schien, der noch schlechter schlafen konnte als ich, hatte ich vermutet, dass er wie üblich im Aufenthaltsraum der Kinderonkologie saß und Videospiele spielte.
Ich war vor drei Jahren auf diesen Treffpunkt gestoßen, als meine Mutter zum ersten Mal stationär aufgenommen wurde. Sie hatte immer darauf bestanden, dass ich nach Hause gehe, aber ich wollte sie nicht allein lassen, falls sie etwas brauchte – oder ihr Zustand sich änderte. In den Nächten, in denen ich nicht schlafen konnte, ging ich auf die Kinderstation, weil es dort Snacks und Videospiele gab. So hatte ich Adam kennengelernt. Und Kyle. Und Brenden. Und viele andere Jugendliche, die zu jung für Krebs waren. Zur Hölle, meine Mutter war zu jung dafür!
Nun war Adam schon zum dritten Mal für einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus. Ich brachte seine Krankheit nicht gern zur Sprache, weil er mir einmal erzählt hatte, dass ihm unsere Spielsessions das Gefühl gaben, normal zu sein. Im Gegensatz zu den meisten Leuten behandelte ich ihn nicht anders, weil er krank war. Am Anfang war ich auch so mit den Kids umgegangen: Ich hatte sie gewinnen lassen, nicht mit ihnen darüber gestritten, wer anfängt, und ihnen bei Dingen geholfen, die sie lieber selbst machen wollten, auch wenn sie sich damit schwertaten. Aber ich hatte meine Lektion schnell gelernt. Sie wollten so behandelt werden wie jeder andere. Vor allem Adam. Seine Mutter fasste ihn mit Samthandschuhen an, und ich wusste, wie sehr er es hasste. Er war nicht so gebrechlich, wie sie dachte. Aber ich wusste auch, dass es kein gutes Zeichen sein konnte, dass er wieder im Krankenhaus war. Das Gleiche galt für meine Mutter. »Aller guten Dinge sind drei«, heißt es, doch meiner Erfahrung nach traf das auf die dritte Chemo nicht zu. Im Lauf der Zeit hatte ich zwei Freunde, die ich im Krankenhaus kennengelernt hatte, an den Krebs verloren – beide nach der dritten Chemo.
Bei meiner Mutter war es inzwischen die vierte.
Als ich ins Zimmer kam, legte sie das Buch weg, in dem sie gelesen hatte.
»Da bist du ja! Ich hatte schon Angst, dass du unten auf der Couch einschläfst und wieder zu spät zur Schule kommst.«
»Ach was! Ich habe nur mit Adam rumgehangen und ihn vernichtend bei Grand Theft Auto geschlagen.«
»Oh.« Meine Mutter runzelte die Stirn. »Adam ist wieder hier?«
»Ja.«
»Das tut mir leid.«
Ich nickte und nahm meinen Rucksack von dem Liegesessel, der mir oft als Bett diente. »Was hast du für heute geplant, während ich in der Schule bin?«
Sie lächelte. Wenn sie im Krankenhaus war, spielten wir dieses Spiel jeden Morgen. Wir dachten uns alle möglichen Unternehmungen aus.
»Nun, ich habe mir überlegt, Scones zu backen und sie zusammen mit einer Kanne Kaffee in den Central Park mitzunehmen, um dort ein Picknick zu machen. Es ist so schön draußen!«, sagte sie. »Dann gehe ich ins Naturkundemuseum und danach in eine Nachmittagsvorstellung am Broadway, weil heute Mittwoch ist. Und abends fliege ich vielleicht nach Boston zum Hummeressen. Und du?«
Ich gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Ich habe vor, eine Eins in Mathe zu schreiben und den Rest des Tages blauzumachen, um mit Anna an den Strand zu gehen.«
Meine Mutter sah mich misstrauisch an. »Ich hoffe, dass nur das Blaumachen erfunden ist, junger Mann. Ich erwarte von dir eine Eins in Mathe!«
»Ich hab dich lieb! Nach dem Strand komme ich wieder her«, sagte ich augenzwinkernd. »Nach der Schule, meine ich.«
Anna sah mich nicht kommen.
Sie hatte mir nicht gesagt, dass sie mich am Krankenhaus abholen wollte, aber ich erkannte sie sofort, sogar von hinten. Nach dem letzten Monat hätte ich diesen Hintern bei einer Gegenüberstellung identifizieren können. Anna Benson und ich waren seit der Kindheit befreundet. Vor sechs Monaten hatte sich alles verändert. Ich hatte sie immer geliebt, aber so hatte ich nie über sie gedacht – bis wir eines Nachts zwölf Stunden mit meiner Mutter in der Notaufnahme verbracht hatten. Anna war mit dem Kopf an meiner Schulter eingeschlafen, und als sie aufwachte, hatte sie mit ihren honigbraunen Augen zu mir aufgesehen und gelächelt. In dem Moment hatte es bei mir klick gemacht. Es war, als hätte ich eins mit dem Kantholz über den Schädel bekommen. Wie war es möglich, dass ich sie vorher nicht so gesehen hatte? Ich hatte sie auf der Stelle mitten in der verkeimten Notaufnahme geküsst, und seitdem hatten wir nie wieder zurückgeschaut.
Ich liebte sie noch wie in unserer Kindheit, aber jetzt bekam ich sie auch nackt zu sehen. Die Situation hatte sich also verbessert, und zwar erheblich.
Anna stand mit dem Rücken zu der gläsernen Drehtür und blätterte in einem Heft. Ich schlich mich an sie heran und gab ihr einen Kuss auf die nackte Schulter.
Sie schlug das Heft zu. »Bist du das, Kenny?«
Ich umarmte sie und hielt sie fest. »Witzig, wirklich witzig.«
Sie drehte sich zu mir um und legte die Arme um meinen Hals. »Ich habe dir Frühstück mitgebracht und die Kurzgeschichte für dich geschrieben, die wir heute in Englisch abgeben müssen – was du garantiert vergessen hast.«
Die Kurzgeschichte? »Du bist die Beste!«
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Besser. Die Anzahl ihrer weißen Blutkörperchen ist etwas gestiegen, und gestern Abend ist sie aufgestanden und ein paar Schritte gegangen. Sie hat auch wieder eine bessere Gesichtsfarbe, sieht nicht mehr so grau aus. Aber der Arzt hat mir gesagt, es wird eine Weile dauern. Die letzte Chemo hat ihrem Immunsystem ganz schön zugesetzt.«
Anna seufzte. »Jede Verbesserung ist gut. Wie kann ich helfen? Vielleicht backe ich ihr nach der Schule Kekse und hole ihr ein paar neue Bücher aus der Bibliothek, bevor ich sie heute Abend besuche.«
»Es gibt da wirklich etwas, was du für sie tun könntest.«
»Was?«
Ich legte meine Stirn an ihre und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Du könntest nach der vierten Stunde blaumachen und mit mir an den Strand gehen.«
Sie lachte. »Und wie soll das deiner Mutter helfen?«
»Ich war in letzter Zeit ziemlich gestresst, und das spürt sie. Das stresst sie wiederum, und Stress ist nicht gut für ihr geschwächtes Immunsystem. Ein Tag am Strand mit dir in dem knappen Bikini, der mir so gut gefällt, könnte zu meiner Entspannung beitragen, wodurch sich meine Mutter ebenfalls entspannt, und das hilft ihrem Immunsystem.«
Sie sah mich schräg an. »Was du wieder für einen Blödsinn erzählst!«
»Nein, wirklich!« Ich konnte mir nur mit Mühe ein breites Grinsen verkneifen. »Im Prinzip hängt das Leben meiner Mutter davon ab.«
Anna beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss. »Ich mache mit dir blau, aber nur, weil ich finde, dass du in letzter Zeit wirklich gestresst bist und ein paar sorglose Stunden am Strand vertragen könntest – und nicht , weil ich dir diesen Blödsinn abkaufe.«
Ich strahlte sie an. »Du bist die Beste!«
»Aber danach gehst du zum Baseballtraining, und ich gehe nach Hause und backe Kekse für Rose. Dann holst du mich ab, und wir fahren zum Krankenhaus, und unterwegs schauen wir in der Bibliothek vorbei und besorgen ihr neue Bücher.«
»Abgemacht.« Ich küsste sie auf den Mund. »Übrigens mag ich es, wenn du mich rumkommandierst.«
»Gut. Am besten gewöhnst du dich dran.«