4. KAPITEL
Elodie
Nach dem Gespräch mit Hollis war meine Kehle völlig ausgetrocknet. Es hatte mich eine Menge Energie gekostet – für nichts und wieder nichts. Na ja, ich hatte es wenigstens versucht. Eine Eins fürs Bemühen, Elodie. Und eine Sechs dafür, dass du mit deinem hitzigen Temperament alles ruiniert hast.
Ich machte mich auf die Suche nach Wasser und landete in der Cafeteria in der Eingangshalle. Dort standen mehrere Pumpkannen mit Gratiskaffee und ein paar Getränke- und Snackautomaten. Als ich den Wasserspender entdeckte, hielt ich schnurstracks darauf zu.
Ich wollte mir gerade einen Pappbecher nehmen, da bemerkte ich ein Mädchen, das an einem Tisch saß und den Inhalt seines geblümten Rucksacks darauf ausgebreitet hatte. Es wippte nervös mit den Beinen.
»Hallo!« Ich lächelte es an.
Es legte den Zeigefinger an die Lippen. »Pst!«
Ich sah mich um. Hat die Kleine mir etwa den Mund verboten?
»Warum pst?
« Ich nahm einen Schluck Wasser.
»Ich will nicht, dass mich jemand bemerkt.«
»Warum versteckst du dich?«
»Weil ich heute den Nachmittagsunterricht geschwänzt und außerdem noch Mist gebaut habe. Und ich bin noch nicht bereit, mich anbrüllen zu lassen.«
»Okay. Was hast du angestellt?«
Sie seufzte. »Ich bin abgehauen und mit dem Bus zu Macy’s gefahren. Da habe ich einen Lippenstift von MAC geklaut und bin erwischt worden.«
Ah.
»Das war wirklich nicht in Ordnung. Aber das weißt du bestimmt selbst. Warum hast du den Lippenstift geklaut? Hast du niemanden, den du bitten kannst, dir einen zu kaufen?«
»Es geht nicht ums Geld. Ich hatte genug bei mir.« Sie schloss kurz die Augen. »Ich weiß nicht mal, warum ich es getan habe.«
Oh Gott, ich stehe meinem jüngeren Ich gegenüber!
»Du klaust wegen des Nervenkitzels«, stellte ich nüchtern fest.
Sie stutzte und blinzelte nachdenklich. »Ja. Ich … ich glaube schon.«
Ich setzte mich zu ihr. »Als ich in deinem Alter war, habe ich etwas Ähnliches getan – ich habe bei Claire’s im Einkaufszentrum Haarreifen und all so einen Kram geklaut und wurde auch erwischt. Und ich hatte ebenfalls genug Geld, um mir das alles zu kaufen.«
»Haben Sie Ärger bekommen?«
»Also, mein Vater hatte seine eigenen Probleme. Das war vielleicht einer der Gründe, warum ich es getan habe – warum ich mich so aufgeführt habe. Aber der Laden hat meine Mutter angerufen, und sie war natürlich nicht erfreut.« Ich seufzte. »Wie ist es bei Macy’s gelaufen? Und welche Farbe hast du dir ausgesucht?« Ich zwinkerte ihr zu.
»Ruby Woo Retro Matte.«
»Ah … knallrot. Eine kräftige Farbe.«
»Ja.« Sie lächelte. »Die Frau, von der ich erwischt wurde, hat nicht die Polizei gerufen. Aber als ich ihr gesagt habe, dass ich schwänze, musste ich ihr meine Schule nennen, und dann hat sie den Direktor angerufen. Ich bin mit dem Bus zurück zur Schule gefahren und dann hergekommen.«
Ich trank mein Wasser aus. »Okay, die Sache ist die … Es fühlt sich zwar manchmal gut an, etwas Böses zu tun, aber es hält nur kurz an. Schon bald wirst du den Wunsch haben, noch einmal so etwas zu tun, aber das Verlangen danach wird nur für kurze Zeit gestillt. Wenn du das nächste Mal so etwas abziehst, bekommst du noch größere Schwierigkeiten. Schlussendlich holen dich diese Dinge immer ein, und die Verkäuferin wird beim nächsten Mal nicht mehr so nett sein. Aber ich verstehe es. Deshalb ist es zwar nicht in Ordnung, aber ich verstehe, warum du es getan hast.«
»Danke, dass Sie mich nicht verurteilen.« Sie stand auf und ging zu einem Snackautomaten. Sie trug neonpinkfarbene Chucks und schien zehn, elf Jahre alt zu sein. Während sie überlegte, was sie haben wollte, klopfte sie mit dem Fuß auf den Boden.
»Möchten Sie sich ein Twix mit mir teilen?«
Mir knurrte der Magen. »Oh … nein. Geht nicht. Ich halte Diät.«
»Was für ’ne Diät? Sie sind doch gar nicht dick.«
»Nun ja … vielen Dank! Ich hatte heute schon etwas Süßes, aber eigentlich versuche ich, überwiegend Proteine zu mir zu nehmen. Das nennt sich Keto-Diät.«
Sie machte große Augen und schlug die Hände vor den Mund. »Oh mein Gott. Keto?
Niemals!«
»Doch, warum?«, fragte ich verwundert.
»Haben Sie den Keto-Geruch?«
»Was?«
»Riecht Ihre Muschi nach Speck?«
Mir fiel die Kinnlade herunter. »Was? Nein! Wovon redest du überhaupt?«
»Ich habe in den Nachrichten davon gehört. Ich wusste nicht mal, was Keto ist. Aber ich kenne die Nebenwirkungen. Meine Freundinnen in der Schule … wir ziehen uns ständig damit auf. Wir sagen zum Beispiel: ›Haha, du hast ’ne Müffel-Muschi!‹«
»Also, ich habe definitiv keine ›Müffel-Muschi‹. Das halte ich sowieso für einen Mythos.«
»Dann ist ja gut.« Sie kicherte. »Das wäre nämlich ganz schön übel.«
»Total übel.«
»Voll.« Sie schnaubte.
Was für ein sonderbarer Gesprächsverlauf.
Sie riss die Verpackung auf und biss in ihren Schokoriegel. »Sie sind echt hübsch.«
»Danke«, sagte ich verblüfft. »Du auch.«
»Wie heißen Sie?«
»Elodie. Und du bist …?«
»Hailey.«
Hailey.
Hailey?
Oh, Mist.
Hailey.
Ich erstarrte. Meine Güte, warum war ich nicht selbst darauf gekommen?
»Dein Onkel weiß nicht, dass du hier unten bist?«
»Nein. Noch nicht. Wenn niemand da ist, der auf mich aufpasst, komme ich nach dem Nachmittagsunterricht sowieso manchmal her
und hänge hier ab. Und vielleicht weiß er ja gar nicht, dass ich heute geschwänzt habe. Bitte sagen Sie es ihm nicht … Kann ja sein, dass mein Direktor ihn nicht angerufen hat. Wenn doch, dann bin ich allerdings erledigt.«
»Äh … okay.«
»Sie … kennen also meinen Onkel? Arbeiten Sie hier?«
»Nein. Ich meine, ich arbeite nicht hier. Aber ich kenne ihn.«
»Tut mir leid zu hören«, witzelte sie. »War nur Spaß.«
»Ich wusste, dass er eine Nichte hat, die Hailey heißt, aber dass du diese Nichte bist, ist mir eben erst klar geworden.«
»Wenn Sie nicht hier arbeiten, woher kennen Sie Onkel Hollis dann?«
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr von meiner Bewerbung als Nanny berichten sollte. Ich wollte vor ihr nicht schlecht über Hollis reden, und es gab keine Möglichkeit, die Geschichte zu erzählen, ohne ihn in ein schlechtes Licht zu stellen.
»Dein Onkel und ich … wir hatten einen Unfall. Ich hatte geschäftlich hier zu tun.«
»Sie haben sein geliebtes Auto verbeult?«
»Ja«, sagte ich und zog eine Grimasse.
»Dann sind Sie in größeren Schwierigkeiten als ich. Hat er Sie angebrüllt?«
»Eigentlich nicht.« Eine glatte Lüge.
Sie nahm noch einen Bissen von ihrem Riegel. »Ich weiß, wie Sie ihn sich vom Hals schaffen.«
»Wie denn?«
»Sagen Sie ihm, er soll Ihnen Maxibinden besorgen. Dann lässt er Sie sofort in Ruhe.«
Ich schmunzelte. »Okay, das werde ich wahrscheinlich nicht tun, aber danke für den Tipp.« Ich musterte sie nachdenklich. »Sag mal, bist du nicht … ein bisschen zu jung, um deine …«
»Ich bin elf. Und ich habe sie … also bin ich nicht zu jung.«
Du lieber Himmel! Jetzt wurde mir erst klar, was für ein Exemplar Hollis geerbt hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie überwältigend es für ihn gewesen sein musste, plötzlich diese Verantwortung zu tragen. Nach dem, was Addison mir erzählt hatte, kümmerte er sich nach besten Kräften um seine Nichte, hatte aber
noch einiges zu lernen. Es war verständlicherweise ein ziemlicher Kampf, daher suchte er eine Nanny.
»Wollen Sie wirklich nichts abhaben?«, fragte Hailey. »In jeder Packung sind zwei Twix, damit man sie teilen kann.«
Ich war im Begriff, etwas zu sagen, als eine tiefe Männerstimme ertönte. »Wenn es Minzpralinen wären, würde sie sie verschlingen.«
Ich zuckte zusammen und drehte mich mit klopfendem Herzen um. Hollis stand hinter mir in der Cafeteria. Ich fühlte mich irgendwie, als hätte uns ein Lehrer beim Lästern erwischt. Er sah mich mit seinen umwerfenden Augen durchdringend an.
»Wie lange stehen Sie schon da und lauschen?«, fragte ich.
»Seit der Müffel-Muschi.«
Großartig. Einfach großartig.
»Ich wollte mir ein Wasser holen. Ich wusste nicht, dass sie Ihre …«
Er fiel mir ins Wort. »Kannst du mir mal verraten, Hailey, warum du heute geschwänzt und ein Make-up-Regal geplündert hast?«
»Der Direx hat dich angerufen?«
»Ja.«
»Okay … Ich weiß, es war total schwachsinnig. Aber Elodie hat mir geholfen herauszufinden, warum ich es getan habe.«
Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Tatsächlich? Hat sie das?«
»Ja. Und ich tue es nie wieder. Das verspreche ich.«
»Und das soll ich glauben?«
»Ich bin nicht wie mein Vater. Wenn ich etwas sage, dann meine ich es auch.«
Die Verärgerung in Hollis’ Gesicht wich einer anderen Empfindung. Traurigkeit? Oder vielleicht Verständnis? Ich wäre gern geblieben, um den Dialog weiterzuverfolgen, aber es stand mir nicht zu.
»Ich verschwinde dann mal und lasse euch allein. Hailey, es war schön, dich kennenzulernen.«
»Dito, M.-M.«, entgegnete sie augenzwinkernd.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, wofür die Abkürzung stand. Müffel-Muschi.
»Onkel Hollsy, sei nicht sauer auf Elodie, weil sie dein Auto verbeult hat. Es war keine Absicht.«
»Kluges Mädchen! Sie sollten auf sie hören, Hollsy!
«, sagte ich und verließ die Cafeteria.