9. KAPITEL
Hollis
Zwölf Jahre zuvor
»Wo hat deine Mutter die denn her? Ist sie echt?«
Anna nahm eine Halskette von der Küchentheke. An dem leicht rostigen Billigteil baumelte ein offensichtlich unechter Diamant.
Ich runzelte die Stirn. »Nein. Mein Halbbruder stand gestern Abend vor der Tür, um sie meiner Mutter zu verkaufen. Unfassbar, oder?«
»Stephen? Ich wusste nicht, dass ihr nach der Scheidung deiner Eltern überhaupt noch Kontakt zu ihm hattet.«
»Hatten wir auch nicht.«
Stephen war der Sohn meines Vaters aus erster Ehe und ein paar Jahre älter als ich. Solange meine Eltern verheiratet gewesen waren, kam er ein- bis zweimal im Jahr zu Besuch. Mit ihm hatte es immer Probleme gegeben – er hatte schon mit elf geraucht und war nachts heimlich aus dem Fenster geklettert. Und nachdem mein Vater meine Mutter eine Woche nach ihrer Diagnose sitzen gelassen hatte, hatten wir nie wieder etwas von den beiden gehört. Meiner Meinung nach konnten wir froh sein, dass wir sie los waren.
»Er kam also völlig unerwartet vorbei?«
Ich nickte. »Und er brachte seine schwangere Freundin mit. Er behauptete, er sei gerade in der Nähe gewesen und habe schauen wollen, wie es uns geht. Und dann hat er meiner Mutter eine rührselige Geschichte aufgetischt: Sie hätten bisher in primitiven Unterkünften gehaust und würden jetzt ernsthaft eine Wohnung suchen, weil ihr Baby es gut haben solle. Irgendwie ist es ihm gelungen, meiner Mutter tausendfünfhundert Dollar abzuschwatzen. Er hat ihr diesen Schrott gezeigt und behauptet, das Leihhaus habe es auf dreitausend geschätzt, aber er wolle ihr die Möglichkeit geben, die Kette zu kaufen, weil er dachte, sie würde ihr gefallen.«
Anna sah sich die Kette genauer an. »Deine Mutter hat doch bestimmt gemerkt, dass sie nicht echt ist.«
»Natürlich. Aber du weißt doch, wie sie ist. Sie hilft einfach jedem. Es ist ihre beste Eigenschaft und zugleich ihre schlimmste. Er hatte sie in dem Moment am Haken, als er ihre Hand auf den Bauch seiner Freundin legte, damit sie die Bewegungen des Babys spürt.« Ich schüttelte den Kopf. »Es würde mich nicht überraschen, wenn es nicht mal sein Kind ist. Er hätte irgendeine schwangere Drogenabhängige für eine Stunde bezahlen können, damit sie ihm hilft, meiner Mutter Geld aus der Tasche zu ziehen.«
Anna seufzte. »Deine Mutter hat kein Geld mehr zu verschenken, tausendfünfhundert Dollar schon gar nicht.«
»Wahrhaftig nicht. Aber das ist dem Abkömmling meines Vaters egal. Er ist egoistisch, genau wie sein alter Herr. Er hat nicht mal gefragt, wie es meiner Mutter geht. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass sie sechs Jahre lang gegen den Krebs gekämpft hat und erst vor einem knappen Jahr wieder angefangen hat zu arbeiten, als es endlich zur Remission kam.«
»Es tut mir leid, dass er hier aufgetaucht ist und Rose das angetan hat. Es macht mich traurig, dass Leute ihre Gutmütigkeit ausnutzen.«
»Mich auch. Komm doch her und muntere mich ein bisschen auf!«
Anna lächelte. Wir waren mittlerweile schon recht lange zusammen, aber es war immer noch schön zu sehen, wie ihre Augen aufleuchteten, wenn es um körperliche Nähe zwischen uns ging. Sie kam auf mich zu und schlang die Arme um meinen Hals.
»Tut mir leid, aber die Aufmunterung müssen wir auf ein andermal verschieben. Ich muss in einer Viertelstunde babysitten.«
Ich zog eine Schnute.
Sie lachte. »Du bist süß, wenn du schmollst«, sagte sie und gab mir einen Kuss. »Ruf mich sofort an, wenn die Post kommt, auch wenn der Brief heute nicht dabei ist!«
»Okay.«
Anna hatte am Tag zuvor ihre Zusage von der Universität von Kalifornien in Los Angeles bekommen – mit einem vollen Stipendium. Wir hatten unsere Bewerbungen am selben Tag abgeschickt, aber ich hatte noch nichts gehört.
Ich brachte Anna zur Tür, und als ich sie öffnete, kam uns der Briefträger mit einem Stapel Post entgegen. Anna nahm ihm die Briefe ab, lief zum Tisch und ging sie durch.
»Arztrechnung.« Sie warf den Umschlag auf den Tisch.
»Arztrechnung.« Der zweite Umschlag flog hinterher.
»Arztrechnung.« Der nächste.
»Stromrechnung.« Und noch einer.
Beim fünften Umschlag erstarrte sie. »Universität von Kalifornien! Oh mein Gott!« Sie hielt ihn mir hin. »Mach ihn auf! Mach ihn auf!«
Ich schüttelte den Kopf. »Mach du das.«
Sie zögerte nicht lange. Sie riss den Umschlag auf und fing an zu lesen. Ich hielt die Luft an. Wir hatten beide die erforderlichen Noten – das war nicht das Problem. Aber keiner von uns hatte genug Geld zum Studieren, wenn wir keine finanzielle Unterstützung bekamen.
Annas Augen wurden immer größer, während sie las. »Sehr geehrter Herr LaCroix, wir gratulieren Ihnen zu Ihrer Zulassung zum Studium an der Universität von Kalifornien. Anbei finden Sie auch die Papiere mit allen Informationen über das Sportstipendium, das Ihnen vonseiten der Sportabteilung der Universität angeboten wird.« Anna warf das Anschreiben in die Luft und überflog die restlichen Seiten. Sie hüpfte vor Begeisterung auf und ab. »Du hast ein Vollstipendium, Hollis! Ein Vollstipendium für Baseball!«
Ich schnappte ihr die Papiere aus der Hand. Ich konnte nicht glauben, dass mir die Uni so ein Angebot machte. Es war zu schön, um wahr zu sein. Aber da stand es, schwarz auf weiß! Ich sah Anna fassungslos an.
»Heilige Scheiße! Wir werden da wohnen, wo dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr die Sonne scheint!«
Sie strahlte. »Und wir können zusammenwohnen. Da gibt es gemischte Studentenwohnheime.«
Wahnsinn! Besser konnte es gar nicht werden. Sonnenschein, meine Freundin, ein Stipendium, und in nur drei Tagen war meine Mutter ein Jahr lang krebsfrei. Vor anderthalb Jahren hätte ich das alles nicht für möglich gehalten. Ich schluckte ein paarmal, um die Tränen zu unterdrücken. Anna hatte mich oft genug als Jammerlappen erlebt, als meine Mutter krank war. Außerdem war Heulen jetzt wirklich unangebracht. Es gab vielmehr Anlass zum Feiern.
»Dann kann ich dich jederzeit nackt für mich haben!«, sagte ich grinsend.
»Und ich kann endlich einen Vogel haben!«
Ich lachte. »Keine Studiengebühren und Sex, wann immer du willst – und da freust du dich am meisten auf einen Vogel?«
Sie gab mir einen Schubs. »Sei still! Ich freue mich auch auf den Sex mit dir.«
»Ach ja?« Ich legte einen Arm um ihre Taille. »Zeig mir, wie sehr du dich darauf freust!«
Sie kicherte. »Das geht nicht. Sonst verspäte ich mich. Ich muss los.«
Ich stöhnte.
Anna gab mir einen sanften Kuss auf den Mund. »Ich mache es später wieder gut. Glückwunsch, Hollis! Jetzt geht es endlich aufwärts für dich.«
So sieht es aus.
»Komm zurück, sobald du mit Babysitten fertig bist.«
»Mache ich. Und sag es deiner Mutter nicht ohne mich. Ich will ihr Gesicht sehen!«
»Alles klar.«
»Oder«, sagte sie, »wir warten noch drei Tage. Wir wollen doch die kleine Überraschungsparty für sie organisieren, weil sie ein Jahr krebsfrei ist. Sagen wir es ihr doch dann!«
Ich lächelte. »Wie du willst. Hauptsache, wir zwei feiern heute Nacht schon mal unter uns.«
Drei Tage später war ich ziemlich nervös. Ich wusste, dass sich meine Mutter Gedanken über die Finanzierung meines Studiums machte – selbst das City College könnte ich nur besuchen, wenn wir ein Darlehen aufnehmen und beide arbeiten würden. Aber sie wollte es mir unbedingt ermöglichen, von zu Hause wegzugehen und woanders zu studieren.
Ich ging in die Küche. Meine Mutter bereitete das Abendessen vor und hatte keine Ahnung, dass später noch einige Leute zum Feiern vorbeischauen wollten.
»Die Post ist gerade gekommen, aber von der Universität war nichts dabei.« Meine Mutter sah mich bedauernd an. »Tut mir leid.«
Ich fühlte mich ein bisschen schuldig, weil ich sie belog. Aber ich freute mich darauf, ihr den Brief zu überreichen. Anna wollte eine Schachtel und Geschenkpapier mitbringen, um ihn hübsch einzupacken.
Ich zuckte die Achseln. »Ich schätze mal, sie arbeiten die Bewerbungen alphabetisch ab, und Benson kommt vor LaCroix.«
Sie lächelte gezwungen. »Wahrscheinlich. Ich bin nur so furchtbar gespannt.«
Ich beobachtete, wie meine Mutter mehrere Teller aus dem Schrank über der Spüle nahm. Sie sah gut aus. Sie hatte etwas zugenommen und eine gesunde Gesichtsfarbe. Sie wirkte endlich einmal wieder glücklich. Auch beim Kochen lächelte sie die ganze Zeit. Wenn man wie sie mehrere Chemotherapien hinter sich hatte, genoss man vermutlich jeden Moment.
»Magst du den Tisch decken? Das Essen ist in ein paar Minuten fertig.«
Sie gab mir die Teller, und ich holte das Besteck aus der Schublade und nahm noch ein paar Servietten aus dem Halter. Das Telefon klingelte, als ich die Servietten zu Dreiecken faltete, wie meine Mutter es immer tat. Sie hatte den Backofen aufgemacht und hielt ein heißes Blech in den Händen.
»Ich gehe schon!«
»Danke, Schatz.«
Ich nahm den Hörer vom Wandtelefon ab. »Ja, bitte?«
»Hallo, könnte ich bitte mit Mrs LaCroix sprechen?«, sagte ein Mann.
»Einen Moment.« Ich legte die Hand auf die Sprechmuschel. »Es ist für dich!«
»Frag nach dem Namen, dann rufe ich später zurück!«
»Sie ist gerade beschäftigt«, sagte ich zu dem Anrufer. »Wer spricht, bitte?«
»Dr. Edmund.«
Ihr Onkologe. Mir wurde schwer ums Herz. »Mom, es ist dein Arzt!«
Ihr Lächeln verblasste, aber sie bemühte sich, die Fassung zu wahren. Sie stellte die Lasagne ab, zog die Ofenhandschuhe aus und wischte sich die Hände sauber. »Er will mir bestimmt von den Ergebnissen der Kontrolluntersuchung berichten.« Sie nahm mir den Hörer ab.
»Hallo Dr. Edmund.«
Ich studierte ihr Gesicht, während sie aufmerksam zuhörte. Im Fernsehen lief ständig so eine blöde Versicherungswerbung, in der es hieß: »Ein Anruf kann Ihr Leben verändern!« Der Slogan war mir immer albern vorgekommen. Bis jetzt. Sie lauschte und lauschte … und ihre Miene veränderte sich. Ich wusste es sofort. Ich wusste, das Leben würde nie mehr so sein wie bisher. Als sie auflegte, musste sie nicht einmal wiederholen, was ihr Arzt gesagt hatte.
Ich ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Als die erste Träne kam, wischte sie sie verstohlen fort. Aber ich hielt meine Mutter ganz fest.
»Mach dir keine Sorgen, Mom. Wir schaffen das. Du hast ihn das letzte Mal besiegt, und wir werden ihn wieder besiegen. Gemeinsam.«
Ich rief die Nachbarn und zwei Arbeitskolleginnen meiner Mutter an, um ihnen abzusagen. Sie hatte sich inzwischen hingelegt, und ich schob den Anruf bei Anna vor mir her. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, es ihr zu sagen.
Dann tauchte sie jedoch früher als geplant mit einer Schachtel und Geschenkpapier im Rucksack auf und kam mir zuvor. Ich folgte ihr in mein Zimmer, wo sie die Sachen auspackte. Aber jedes Mal, wenn ich zum Reden ansetzte, blieben mir die Worte im Hals stecken.
Ihre Stimme klang so fröhlich, und ich war im Begriff, alles zu verderben. Es fiel mir nicht leicht, sie zu enttäuschen.
»Wo ist der Brief? Du bist ein schlechter Verpacker! Ich mache das, damit es hübsch aussieht.« Sie ging zu meinem Schreibtisch, wo der Brief seit drei Tagen mit der Vorderseite nach unten gelegen hatte. »Wo ist er hin?«
Als ich keine Antwort gab, drehte sie sich zu mir um und merkte, dass etwas nicht stimmte.
»Hollis, wo ist der Brief?«
Ich starrte zu Boden. Ich bekam die Worte einfach nicht über die Lippen.
»Hollis? Hast du ihn verloren oder so?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Also, wo ist er dann?«
Es war nicht einfach, aber ich zwang mich, ihr ins Gesicht zu sehen. Ihre großen braunen Augen leuchteten vor Freude und Glück. Ich schaute stumm zu dem Papierkorb neben meinem Bett, in dem der zerknüllte Brief lag.
Anna und ich waren nicht nur ein Liebespaar. Wir waren seit dem Kindergarten eng befreundet. Sie kannte mich besser als jeder andere. Sie folgte meinem Blick, dann veränderte sich ihre Miene.
»Was ist passiert?«, wisperte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Der Arzt hat wegen ihrer PET-Ergebnisse angerufen.«