10. KAPITEL
Elodie
Haileys Schule hatte einen Teil des Parks für das Picknick reserviert. Es war ein herrlicher, für die Jahreszeit angenehm kühler Tag. Mit einem Zuckerwattestand, Kuchen und einem großen Grill hatte die Schule wahrhaftig einiges aufgeboten. Außerdem gab es eine Hüpfburg und drum herum zahlreiche Spiele.
Apropos Spiele: Sie sollten schon bald beginnen, und Hollis war noch nicht da. Unpünktlichkeit war nicht sein Stil. Eher meiner. Als ich auf meine Uhr sah, bekam Hailey es mit.
»Meinst du, Onkel Hollsy hat es vergessen?«
Ich lächelte mitfühlend. »Ich weiß es nicht.«
»Also, ich habe keine Lust, ewig auf ihn zu warten. Die verteilen schon die Burger und Hotdogs. Kann ich mir was holen? Ich habe Hunger!«
Ich sah mich noch einmal um. »Ja, stell dich doch schon mal an.«
»Willst du nichts essen?«
»Nein, danke, jetzt nicht.«
»Ach, ich hatte deine Keto-Diät vergessen.« Sie verdrehte die Augen.
»Einen Burger kann ich trotzdem essen. Nur das Brötchen nicht.«
»Das Brötchen ist doch das Beste daran! Und der Ketchup.«
»Ich werde es überleben.«
Während Hailey zum Büfett ging, reckte ich den Hals und hielt nach Hollis Ausschau. Vielleicht war er ja schon gekommen, und ich hatte ihn nur noch nicht gesehen. Aber es fehlte weit und breit jede Spur von ihm.
Im Ernst, Hollis? Ist es wirklich unmöglich, mal einen Nachmittag freizunehmen?
Unmittelbar hinter mir ertönte eine tiefe Stimme.
»Hallo!«
Als ich mich umdrehte, stand ein recht ansehnlicher Mann von Mitte dreißig vor mir.
»Hallo«, sagte ich.
»Ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin der Vater von Lawrence Higgins.« Er reichte mir die Hand. »James Higgins.«
»Oh, freut mich. Ich bin Elodie Atlier, die Nanny von Hailey LaCroix.«
»Ich dachte mir schon, dass Sie … eine Nanny sind.«
Ich zog eine Augenbraue hoch und aktivierte meinen Idiotendetektor. »Aha?«
»Na ja, ich will niemanden beleidigen …« Er senkte die Stimme. »Aber die Mütter hier sind in der Regel nicht so attraktiv wie Sie.«
Darum geht es also! Frau ist nicht mal bei einer Schulveranstaltung vor diesem Scheiß sicher.
»Danke«, sagte ich.
»Nichts zu danken.« Er nahm einen Schluck von seinem Wasser. »Wie lange arbeiten Sie schon als Nanny?«
»Noch nicht sehr lange. Erst ein paar Wochen.«
Hailey tauchte wieder auf und unterbrach unser Gespräch. »Du magst doch Würstchen, oder?«
Mein pubertärer Geist musste kichern. »Nur die, die komplett aus Rindfleisch sind, was bei diesem wahrscheinlich nicht der Fall ist.«
Sie sah zu dem Mann herüber. »Wer ist das?«
»Das ist Mr Higgins, der Vater von Lawrence.«
Ihre Miene verfinsterte sich augenblicklich. »Ihr Sohn ist ein Arschloch!«
Ich wand mich vor Verlegenheit.
Mr Higgins war empört. »Wie bitte?«
Ich legte die Hände auf Haileys Schultern. »Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden«, sagte ich und ging mit ihr fort. »Wie kannst du nur so etwas sagen?«
Hailey biss in ihren Hamburger und seufzte. »Der Junge ist das Letzte. Ich dachte, sein Vater sollte das wissen.«
»Nun, dann drückst du dich nächstes Mal vielleicht ein bisschen höflicher aus.«
»Lawrence ist derjenige, der damit angefangen hat, sich über meine Brüste lustig zu machen. Er nennt mich immer Zyklopentitte, weil er denkt, dass eine größer ist als die andere.«
Ich nickte. Diese Geschichte hatte sie mir schon erzählt. »Ach so, der
Idiot!«
»Ja genau.«
Ich warf kurz einen Blick zurück zu dem Mann. »Okay, dann können er und sein Vater uns mal gernhaben!«
»Apropos gernhaben – sein Vater hatte es wahrscheinlich darauf abgesehen, dich zu bumsen.«
»Wo hast du dieses Wort her?«
»Ich weiß eine Menge
über Sex.«
Mist.
»Ach ja? Was weißt du denn alles?«
Sie gab mir ihren Teller, dann formte sie mit einer Hand ein Loch und steckte den Zeigefinger der anderen hinein, um den Geschlechtsakt nachzuahmen.
Ich schrieb auf meine mentale To-do-Liste: Hollis auf ein Gespräch über Bienchen und Blümchen mit Hailey ansprechen!
Bevor ich weiter über das Thema nachdenken konnte, erblickte ich in einiger Entfernung Hollis, der ziemlich durch den Wind zu sein schien. Er sah aus, als ob er einen Marathon gelaufen und irgendwie in der Twilight Zone
gelandet wäre. Ich gab Hailey ihren Teller zurück und beobachtete ihn.
Er hatte ein marineblaues Poloshirt an, das seine Muskeln betonte. Gott, so lässig gekleidet sah er superheiß aus. Na ja, er sah grundsätzlich superheiß aus, aber dieser Look stand ihm besonders gut. Mir gefiel jedes Detail: von den eng an seinem Bizeps anliegenden Ärmeln über seine elegante Uhr bis hin zu der dunklen Jeans, in der er bestimmt einen hübschen Knackarsch hatte. Ich musste mir Hollis später unbedingt von hinten ansehen …
Ohne sich der vielen bewundernden Blicke der Mütter bewusst zu sein, bahnte er sich einen Weg durch die Menge.
Dann entdeckte er uns endlich. Er war völlig atemlos.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich dachte, ich hätte genug Zeit, um mich zu Hause umzuziehen – was ich auch gemacht habe –, aber auf dem Weg hierher war scheißviel Verkehr!«
»Achten Sie auf Ihre Sprache, Hollis«, wies ich ihn zurecht.
»’tschuldigung.«
»Freut mich, dass du es geschafft hast, Onkel Hollsy.«
Er lächelte leicht. »Ich auch!«
Hailey hatte ihren Burger ziemlich schnell verdrückt. »Willst du Elodies Würstchen?«, fragte sie.
Er sah sie verdutzt an. »Elodies Würstchen?«
Sie hielt ihm ihren Teller hin. »Das hier. Sie kann es wegen ihrer Keto-Diät nicht essen.«
»Ah!« Er nahm ihr den Teller ab. »Ja, danke.«
»Dahinten ist meine Freundin Jacqueline«, sagte Hailey. »Ich gehe mal zu ihr.«
Als sie weg war, wandte sich Hollis mir zu. Mit dem brötchenlosen Hotdog in der Hand sah er irgendwie so aus, als fühlte er sich unwohl.
Ich musste unwillkürlich lachen.
Das fand er gar nicht lustig. »Was zum Teufel ist so witzig?«
»Sie.«
Seine Lippen zuckten. »Ich?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, was so witzig an mir ist?«
Ich zeigte auf das Würstchen. »Sie sehen aus, als wüssten Sie nicht, was Sie damit machen sollen. Als wüssten Sie nicht, was Sie überhaupt
hier machen. Als hätten Sie Ihre Komfortzone verlassen. Picknicks sind anscheinend nicht Ihr Ding.«
»Nun, ich schätze, ich bin tatsächlich ein bisschen außerhalb meiner Komfortzone.«
»Dann bekommen Sie Extrapunkte dafür, dass Sie hier aufgetaucht sind.«
»Mir war nicht klar, dass ich benotet werde.«
Wir grinsten uns an. Ein leichter Wind wehte seinen männlichen Duft in meine Richtung. Das machte mich ziemlich an. Hollis
machte mich ziemlich an.
»Kommen Sie«, sagte ich, »ich zeige Ihnen, wo Sie ein Brötchen für dieses einsame Würstchen kriegen.«
Wir gingen zusammen zu dem großen Picknickbüfett. Ich nahm Hollis’ Teller, legte das Würstchen in ein Brötchen und gab Soßen, Zwiebeln und Gurkenscheiben hinzu. Dann klatschte ich einen Löffel Kartoffelsalat daneben und besorgte ihm noch eine kleine Tüte Chips. Zum Schluss garnierte ich das Ganze mit einem Apfel und überreichte ihm den Teller mit einem Lächeln.
»Danke, Mama«, scherzte er.
Hailey machte beim Hufeisenwerfen mit, und wir suchten uns in der Nähe ein schattiges Plätzchen. Hollis verschlang seinen ketchuptriefenden Hotdog und den Kartoffelsalat, während ich meine Burgerfrikadelle ohne alles mit der Gabel aß und ihn weiter beobachtete. Mein Blick blieb an seinen großen Händen hängen. Ich liebte die ausgeprägten Adern darauf. Jedes Mal, wenn er sich Ketchup vom Finger leckte, lief mir ein Schauer über den Rücken.
Als er alles aufgegessen hatte, leckte er sich die Lippen. »Das war gut! Ich habe schon ewig keinen Hotdog mehr gegessen.«
»Sehen Sie? Es ist schön, auch mal etwas anderes zu tun.«
»Glauben Sie mir, mein ganzes Leben ist anders, seit Hailey vor meiner Tür gelandet ist.«
»Das ist mir klar. Und ich weiß auch, dass Sie Ihr Bestes tun.«
»Vielen Dank, aber ich bin nur so gut wie die Hilfe, die ich bekomme.« Er schaute einen Moment auf seinen Teller. »Ehrlich, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Ist schon okay.«
»Nein, ich möchte Ihnen das wirklich einmal sagen.« Er hielt kurz inne. »Ich habe Sie am Anfang ganz falsch eingeschätzt und Ihre Fähigkeiten als Kindermädchen angezweifelt. Aber jetzt kann ich mir keine bessere Nanny vorstellen. Sie nicht einzustellen wäre ein großer Fehler gewesen.«
Mir wurde ganz warm, weil mich die Bestätigung so sehr freute.
Ich lächelte. »Wow. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin die nette Version von Hollis gar nicht gewohnt.«
»Gewöhnen Sie sich auch nicht zu sehr daran. Es liegt wahrscheinlich an den Nitraten, die mir gerade zu Kopf steigen.«
Wir lachten gemeinsam, als Hailey plötzlich zu uns herüberkam.
»Warum bist du nicht bei deinen Freunden geblieben?«, fragte ich.
»Lawrence ist dazugekommen, und ich will nicht in seiner Nähe sein.«
»Welcher ist er?«
»Der mit dem roten Shirt.«
Ich wollte nicht zulassen, dass sie von einem blöden Jungen gemobbt wurde.
»Du darfst ihm nicht einfach so das Feld überlassen, Hailey. Du warst zuerst da. Indem du nicht mehr mitspielst, zeigst du ihm, dass er Einfluss auf dich hat. Und auch wenn es so ist, darfst du es dir nicht anmerken lassen. Gib ihm nicht diese Genugtuung! Steig wieder in das Spiel ein, und ignorier ihn komplett, wenn er etwas sagt.«
Sie atmete geräuschvoll aus. »Okay«, sagte sie und ging widerstrebend zu den anderen zurück.
Ein besorgter Ausdruck zeigte sich auf Hollis’ Gesicht, als er ihr nachsah. »Was hat es mit diesem Lawrence auf sich?«
»Er hänselt sie wegen ihrer Brüste. Er nennt sie offenbar Zyklopentitte, weil er behauptet, die eine sei größer als die andere.«
Hollis ballte die Hand zur Faust. »Dieser kleine Scheißer! Ich drehe ihm den Hals um!«
»Der Vater des Jungen hat mich übrigens vorhin angebaggert. Hailey kam zu uns, und als ich sie mit ihm bekannt gemacht habe, sagte sie: ›Ihr Sohn ist ein Arschloch.‹«
Hollis blieb einen Moment der Mund offen stehen. »Ich weiß gar nicht, ob ich ihr deshalb böse sein kann.«
»Ja, mir ging es genauso. Aber ich habe ihr gesagt, dass sie sich in Zukunft höflicher ausdrücken soll.«
Die nächste halbe Stunde plauderten wir zwanglos miteinander. Dann kam Hailey wieder zu uns gelaufen.
»Elodie, meine Lehrerin braucht deine Hilfe!«
»Was ist los?«
»Die Frau, die das Kinderschminken machen sollte, hat abgesagt. Ms Stein hat alles Nötige besorgt, aber sie hat niemanden, der das Schminken übernehmen kann. Ich habe ihr gesagt, dass meine Nanny Künstlerin ist.«
»Ach … ich weiß nicht. Ich habe das noch nie gemacht.«
»Versuch es doch wenigstens. Bitte! Niemand sonst kann es, und wir wollen alle als Einhorn geschminkt werden!«
Was soll’s? Es kann ja nicht so schwer sein.
Ich stand vom Rasen auf und klopfte mir den Dreck von der Hose.
»Aber wer passt auf Onkel Hollis auf, wenn ich das Kinderschminken übernehme? Wir wollen doch nicht, dass er sich mit den Müttern vom Lehrer-Eltern-Ausschuss unterhalten muss.«
»Geh du schon mal und bereite alles vor«, sagte Hailey. »Onkel
Hollis kommt jetzt sowieso mit mir.«
Hollis stand auf. »Ach ja? Und was willst du von mir?«
Sie zeigte an den Rand der Wiese. »Du und ich – da rüber! Sackhüpfen!«