41. KAPITEL
Elodie
Der Tag war längst angebrochen, und ich hatte noch kein Auge zugetan. Ich hatte auf der Couch gesessen, vor mich hin gestarrt und versucht, es zu begreifen. Ich war sämtliche Gespräche, die ich mit Bree über Hollis geführt hatte, noch einmal in Gedanken durchgegangen, weil es mir keine Ruhe ließ, ob Bree wusste, dass mein Hollis ihr Hollis war.
Den schmerzerfüllten Ausdruck in seinen Augen würde ich so schnell nicht vergessen. Für mich stand fest, dass ein Teil von ihm sie noch liebte. Und ehrlich gesagt setzte mir dieses Wissen zu. Andererseits liebte ich sie auch. Sehr. Wie konnte ich es ihm da verdenken?
Anna hatte Hollis wegen eines anderen Mannes verlassen. Bree sprach immer von der Liebe, die sie verloren hatte. War damit der andere gemeint oder Hollis? Sie hatte nie weiter darüber reden wollen.
War sie sich womöglich darüber im Klaren gewesen, in wen ich mich verliebt hatte, und hatte mir nichts gesagt aufgrund ihrer Schuldgefühle, weil sie ihn verletzt hatte? Vielleicht wollte sie, dass er eine neue Liebe fand, weil sie wusste, wie sehr sie ihm wehgetan hatte.
Und das war nur eine Theorie. Mir gingen so viele Fragen durch den Kopf. Dabei wusste ich, dass sie vielleicht nie beantwortet werden würden.
Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang ich von der Couch auf und schnappte mir meinen Schlüsselbund, an dem auch der Schlüssel von Brees Haus hing.
Dann rannte ich nach nebenan und schloss die Tür auf. Mir war bewusst, dass ich es nicht hätte tun dürfen, aber ich war verzweifelt und brauchte Antworten. Außerdem vermisste ich meine Freundin. Ohne sie in dem leeren Haus zu sein war mir unheimlich. Mein Blick fiel auf das stets präsente Wasserglas auf dem Tisch neben ihrem Sessel. Es brach mir das Herz, dass sie wahrscheinlich nicht mehr hierher zurückkommen würde.
Ich lief die Treppe hoch und suchte in ihren Schubladen und Schränken nach irgendetwas, was mir weiterhelfen konnte. Als ich nichts fand, kamen mir die Tränen. Meine Verzweiflung wuchs mit jeder Sekunde, die verstrich. Ich sah sämtliche Dinge durch, die sie vielleicht nie wieder benutzen würde, wie zum Beispiel die Kleider in ihrem Schrank. An der Wand über ihrem Schreibtisch hingen Konzertkarten. Sie liebte Musik und Live-Veranstaltungen. Vielleicht würde sie nie wieder eine erleben.
Das Leben ist so unfair!
Auf einmal entdeckte ich ganz unten in ihrem Wandschrank einen Stapel Fotoalben.
Ich holte sie mit zitternden Händen heraus und nahm sie mit ins Wohnzimmer. Nachdem ich mich auf die Couch gesetzt hatte, holte ich tief Luft und öffnete das erste. Es enthielt überwiegend Kinderfotos von Bree. Auf einem Bild war sie so dünn und klein, dass ich unwillkürlich daran denken musste, wie ausgemergelt und kindlich sie heute im Krankenhausbett ausgesehen hatte.
In dem zweiten Album befanden sich Fotos aus ihrer Jugendzeit. Es dauerte nicht lange, bis ich auf das stieß, was ich gesucht hatte: das erste Foto von Hollis und Bree. Anna. Sie waren am Strand, und Hollis hatte einen Arm um sie gelegt. Bree trug einen Bikini und Hollis Badeshorts. Die Sonne schien, und sie sahen fröhlich aus.
Es war völlig unwirklich, die beiden zusammen zu sehen: meine beste Freundin und meinen Freund. Sie liebten einander, oder zumindest liebte Hollis sie. Es war an dem Lächeln zu erkennen, das er ihr auf dem nächsten Foto schenkte. Sie saßen unter einem Baum. Es war eine ungestellte Aufnahme, als wäre zufällig jemandem aufgefallen, wie Hollis sie ansah. Oh Gott, das tut weh.
Hollis hatte auf diesen Bildern eine Arglosigkeit an sich, die inzwischen verschwunden war. Als ich ihn kennengelernt hatte, war er bereits von Verlusten geprägt gewesen. Den Mann auf diesen Fotos gab es schon lange nicht mehr. Ich blätterte weiter. Noch mehr Bilder von den beiden. Auf manchen küssten sie sich. Auf vielen lachten sie. Ein Bild vom Highschool-Abschlussball. Zeugnisvergabe. Sie hatten viel miteinander erlebt. Ich fragte mich, ob es für beide die erste große Liebe gewesen war.
Warum, Bree? Warum hast du es mir nicht gesagt? Ich hatte ihr so viel über meine sich entwickelnden Gefühle für Hollis erzählt. Hatte sie die Verbindung wirklich nicht hergestellt? Oder hoffte sie, dass es nicht wahr war, weil sie mir das Leben nicht schwer machen wollte?
Sie hatte Hollis an dem Wochenende, als er bei mir in Connecticut gewesen war, nicht sehen wollen. Ich hatte es merkwürdig gefunden, es angesichts ihres schlechten Zustands aber auch verstanden. Hatte sie etwas geahnt und die Wahrheit nicht sehen wollen? Oder kannte sie die Wahrheit?
Ich fragte mich, ob es zwischen mir und Hollis jemals wieder so sein würde wie vorher. Konnte unsere Beziehung das überstehen?
Ich klappte das Fotoalbum zu. Alle Fragen mussten erst einmal warten, denn Bree kämpfte um ihr Leben. Spielte irgendetwas anderes überhaupt eine Rolle?
In den Krankenhausfluren war es still. Nur ein älterer Mann, der im vierten Stock den Boden vor dem Aufzug wischte, sang leise einen Song von Johnny Cash. Es war noch früh, aber auf der Intensivstation gab es keine Besuchszeiten. Ich überlegte, ob Richard vielleicht schon da war, aber eigentlich rechnete ich damit, allein bei Bree zu sein.
Vor der geschlossenen Doppeltür angekommen desinfizierte ich meine Hände und drückte den Schalter, um sie zu öffnen. In der Schwesternstation war es ruhig, und ich sprach die Frau an, die in der Nacht nach Bree gesehen hatte, bevor wir gegangen waren.
»Da sind Sie ja schon wieder!«, sagte sie.
»Ja, ich konnte nicht schlafen. Wie geht es ihr?«
Die Schwester lächelte traurig. »Briannas Zustand ist unverändert. Ich habe vor einer halben Stunde ihre Vitalwerte gemessen und mich vergewissert, dass so weit alles in Ordnung ist.«
Brianna.
Ich würde mich vermutlich nie daran gewöhnen. Der Name lastete wie ein Gewicht auf meiner Brust, und mir schwirrte der Kopf … Brianna . Hollis’ Anna. Oh Gott. Und auch Hueys Anna. Ich rieb mir das Brustbein.
»Okay, vielen Dank. Darf ich sie besuchen?«
»Kein Problem. Wir haben bald Schichtwechsel, dann müssen Sie und Ihr Bruder eine Zeit lang nach draußen, aber jetzt ist es in Ordnung.«
»Mein Bruder?«
Sie wies mit dem Kinn auf die gegenüberliegende Seite des Raums, wo Brees Bett stand.
»Er ist schon eine halbe Stunde hier. Scheint auch nicht viel geschlafen zu haben.«
In der Erwartung, Tobias zu sehen, folgte ich ihrem Blick und hatte augenblicklich einen Kloß im Hals.
Hollis.
Er saß neben Brees Bett.
Seine Haare waren völlig zerzaust. Ein Blick genügte, und ich wusste, dass er sie sich stundenlang gerauft hatte. Aber was machte er jetzt schon hier? Die Fahrt in die Stadt dauerte fast zwei Stunden mit dem Auto. Er konnte also nicht nach Hause gefahren und wieder hergekommen sein. Mir wurde übel. Hatte Hollis mich zu Hause abgesetzt, um schnell zum Krankenhaus zurückzufahren und mit Bree allein zu sein?
Dieser Gedanke weckte viele Emotionen in mir: Traurigkeit, Verwirrung und auch – ich gab es nur ungern zu – eine gewisse Eifersucht.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich mich zu ihm gesellen oder ins Wartezimmer gehen und ihm Zeit mit ihr geben? Oder wäre es besser, zu verschwinden und später wiederzukommen?
Nachdem ich eine Weile darüber gegrübelt hatte, wurde mir klar, dass es in dieser Situation keine richtige Lösung gab. Also atmete ich tief durch und beschloss, zu ihm zu gehen und ihn zu fragen, ob er allein sein wollte. Ich wollte meine Anwesenheit nicht verheimlichen, und ich musste meine beste Freundin sehen – wenigstens ein paar Minuten.
Ich ging zögernd auf Brees Bett zu. Meine Beine fühlten sich bleischwer an. Hollis sah mich nicht kommen, weil er mit dem Rücken zu mir saß. Als ich nicht mehr weit von ihm entfernt war, hörte ich ihn leise reden und blieb ruckartig stehen.
»Ich habe das Versprechen gebrochen, das ich dir gegeben habe.«
Er ergriff ihre Hand, und meine Brust schnürte sich so fest zusammen, dass ich kaum noch Luft bekam. Trotzdem rührte ich mich nicht von der Stelle.
»Es ist mir wieder eingefallen, als ich vorhin die Schilder zur Kinderonkologie gesehen habe. Erinnerst du dich noch an den Abend, als du mir das Versprechen abgenommen hast, meine Besuche fortzusetzen? Es war der Abend, an dem Adam gestorben ist.«
Hollis hielt inne und schwieg eine Weile. Ich hätte mich zurückziehen und ihm etwas Privatsphäre geben müssen, aber ich konnte mich nicht bewegen.
Er seufzte und fuhr fort. »Von dir hat er seinen ersten Kuss bekommen. Und seinen letzten.« Er schüttelte den Kopf und lachte trocken. »Ich war tatsächlich eifersüchtig. Ich glaube, das habe ich dir nie erzählt. Du hast einem todkranken Teenager, der in dich verknallt war, seinen ersten und letzten Kuss gegeben, und ich war in diesem Moment eifersüchtig auf ihn. Wie bescheuert ist das denn?«
Er räusperte sich.
»Obwohl ich dir versprochen habe, die Kinderonkologie weiterhin zu besuchen und Videospiele mit den Patienten zu spielen, habe ich damit aufgehört, als du mich verlassen hast. Ich habe zwar jedes Jahr an Weihnachten einen Scheck für neue Spiele und solche Dinge an die Station geschickt, aber ich bin nicht mehr hingegangen, Anna. In uns allen steckt Gutes und Böses. Aber als du mich verlassen hast, hast du alles Gute von mir mitgenommen. Mir ist erst kürzlich bewusst geworden, dass ich es aber zurückbekommen kann. Ich dachte, es wäre für immer weg.« Er stockte. »Jedenfalls bin ich letzte Nacht nicht nach Hause gefahren, sondern irgendwie in einem Walmart gelandet, der rund um die Uhr geöffnet hat. Ich habe ein paar Spiele und eine Spielekonsole gekauft und die Sachen hier in die Kinderstation gebracht. Die Schwestern waren sehr nett und haben mir erlaubt, die Konsole anzuschließen. Dabei habe ich Sean kennengelernt. Er ist fünfzehn und macht seine zweite Chemo, aber er ist gut drauf. Er hat mich bei Grand Theft Auto geschlagen.«
Er drückte Brees Hand.
»Ich glaube, ich habe damals mit den Besuchen aufgehört, weil ich sauer auf dich war. Die Begegnung mit Sean hat viele Erinnerungen geweckt. Ich musste wieder daran denken, wie wir zusammen im Aufenthaltsraum gesessen und mit den Kids gespielt haben – und dass du jeden verdammten Tag an meiner Seite warst, als meine Mutter krank war.«
Hollis schüttelte den Kopf, und ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen.
»Ich weiß nicht, was zwischen uns passiert ist. Aber ich weiß noch sehr gut, dass du für mich da warst. Und ich bin hier, Anna, hier an deiner Seite, wie du immer an meiner Seite warst.«
Eine Schwester tippte mir auf die Schulter. Ich zuckte erschrocken zusammen.
»Entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie hätten mich bemerkt. Soll ich Ihnen einen Stuhl bringen? Dann können Sie sich auch zu Brianna setzen.«
Hollis drehte sich um, und wir sahen uns in die Augen. »Elodie.«
»Ich … Ich brauche einen Moment …«
Ich trat die Flucht an und verließ die Intensivstation im Laufschritt. Im Flur fiel mein Blick auf das Ausgangsschild, und ich lief in die angezeigte Richtung. Durch eine Tür gelangte ich ins Treppenhaus. Ich wollte mich nur noch verstecken und niemanden mehr sehen. Ich schaffte eine Etage, bevor ich mich auf eine Stufe setzen musste, weil ich so sehr weinte, dass ich kaum noch etwas sehen konnte.
Ich wusste nicht einmal genau, was mich in diesem Moment so sehr aus der Fassung brachte: die Geschichte, die Hollis Bree erzählt hatte, und die Erkenntnis, wie sehr er sie geliebt hatte, oder die Tatsache, dass meine Freundin auf dem Sterbebett lag.
Es war wohl beides. Ich verkraftete es nicht. Es war einfach zu viel auf einmal.
Zum Glück waren um diese Uhrzeit nur wenige Leute im Treppenhaus unterwegs. Ich saß sehr lange allein auf den Stufen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Als sie schließlich versiegten, ging ich hinunter ins Erdgeschoss, nur um das Krankenhaus wieder durch die Eingangshalle zu betreten. Ich lief unschlüssig herum, bis ich ein Schild zur Kapelle entdeckte.
In dem kleinen Raum gab es nur ein halbes Dutzend Bänke auf jeder Seite und einen Gang, der zu einem schlichten Altar führte. Es war dunkel, aber ich verzichtete darauf, das Licht einzuschalten. Ich setzte mich in die letzte Reihe und betete leise mit geschlossenen Augen. Dabei kam ich innerlich endlich ein bisschen zur Ruhe. Meine Schultern lockerten sich, und mein Nacken war nicht mehr ganz so verspannt.
Da ich es vermeiden wollte, Hollis so bald wieder gegenüberzutreten, entschied ich mich, noch ein bisschen zu bleiben, denn die ruhige Atmosphäre tat mir gut. Ich musste irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen sein, denn plötzlich wurde ich von einem Mann geweckt – von einem Mann mit Priesterkragen.
»Wie spät ist es?« Ich rieb mir verschlafen die Augen.
Der Geistliche lächelte. »Es ist etwa zehn Uhr. Ich habe Sie vor einer Weile hier entdeckt und dachte, Sie brauchen offensichtlich ein bisschen Schlaf. Aber in ungefähr zwanzig Minuten fängt die Messe an. Deshalb wecke ich Sie lieber jetzt, damit Sie nicht mittendrin aufwachen.«
»Oh. Entschuldigung. Okay. Danke. Ich verschwinde. Ich bin aus Versehen eingeschlafen.«
»Nur keine Eile. Darf ich Sie fragen, warum Sie im Krankenhaus sind? Besuchen Sie jemanden?«
Ich nickte. »Meine beste Freundin. Sie ist sehr krank.«
»Tut mir leid, das zu hören.«
»Danke.«
»Ist es okay, wenn ich mich ein paar Minuten zu Ihnen setze?«
»Ja klar.«
Ich saß gleich am Anfang der Bank und rutschte ein Stück zur Seite, damit der Priester neben mir Platz nehmen konnte.
»Wird Ihre Freundin lange im Krankenhaus bleiben?«
Ich runzelte die Stirn. »Ich denke schon. Es sei denn …«
Ich konnte es nicht aussprechen, doch er nickte verständnisvoll. »Wissen Sie, niemand kümmert sich um die Angehörigen. Alle konzentrieren sich natürlich auf den Patienten, aber die Angehörigen und Pflegenden spielen eine wichtige Rolle. Sie müssen sich ausruhen und sich um Ihre Bedürfnisse kümmern, um dem geliebten Menschen zur Seite stehen zu können.«
Ich seufzte. »Ja. Ich weiß. Letzte Nacht, das war einfach so ein Schock.«
»Wie heißt Ihre Freundin?«
»Bree … Anna. Sie heißt Brianna.«
»Und Sie?«
»Elodie.«
Der Priester reichte mir die Hand. »Ich bin Pater Joe. Sollen wir gemeinsam für Brianna beten?«
»Oh ja. Das wäre schön.« Ich legte meine Hand in seine und schloss die Augen.
Pater Joe sprach einige Gebete und fügte am Ende hinzu: »Himmlischer Vater, heute möchte ich dich bitten, voller Barmherzigkeit auf unsere Freundin Brianna hinunterzublicken, die ans Krankenbett gefesselt ist. Bitte spende ihr Trost. Wir bitten dich in deiner unendlichen Güte um Stärkung und Heilung, ganz gleich, welches Problem zu ihrer Erkrankung geführt hat. Und wir bitten um Kraft für ihre Familie und Freunde, besonders für Elodie, damit sie ihr in dieser schwierigen Zeit voller Zuversicht und Liebe die Hand halten können. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Ich bekreuzigte mich und öffnete die Augen. »Amen.«
Pater Joe lächelte mir warmherzig zu. »Möchten Sie die Beichte ablegen? Viele Leute finden es hilfreich, Ballast abwerfen zu können. Man hat schon genug zu tragen, wenn man sich um einen geliebten Menschen kümmert, der krank ist.«
Ich lächelte. »Sie sagten, gleich beginnt die Messe. Ich weiß nicht, ob die Zeit ausreicht, Ihnen alles zu erzählen, was ich mir seit meinem letzten Kirchgang habe zuschulden kommen lassen.«
Pater Joe lachte. »Versuchen Sie es ruhig, wenn Sie möchten. So schlimm kann es nicht sein.«
»Also, ich habe auf jeden Fall ein paarmal gelogen.«
»Okay.«
»Und vielleicht lüge ich jetzt schon wieder. Ich bin nämlich ziemlich sicher, dass ich öfter als ein paarmal gelogen habe. Bei meinem letzten Job habe ich Männer in kompromittierende Situationen gebracht, damit ihre Frauen mehr Geld aus der Scheidung herausholen konnten.«
Der Pater zog die Augenbrauen hoch. »Entschuldigung. Wir dürfen keine Emotionen zeigen, aber das habe ich wirklich noch nie zuvor gehört.«
Ich lächelte müde. »Ja, das waren nicht gerade meine besten Momente. Ich habe jedenfalls eine Menge gelogen, und ich fluche wie ein Bierkutscher, und manchmal missbrauche ich auch den Namen des Herrn. Oh, und ich bin geschieden. Aber mein Ex-Mann hat mich betrogen und ist ein Idiot, also müsste ich dafür eigentlich etwas gutgeschrieben bekommen.«
»Sonst noch etwas?«
»Ich glaube nicht. Oh, Moment. Vorehelicher Sex ist eine Sünde, oder?«
»Ja.«
»Aber ich liebe den Mann. Das muss doch auch zählen, oder?«
Pater Joe lächelte. »Sprechen Sie vier Ave-Maria und zwei Vaterunser.«
»Okay.« Ich schloss die Augen, aber dann fiel mir noch etwas ein. »Kann ich Sie etwas fragen?«
»Sicher.«
»Ist es möglich, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben?«
»Das ist eine schwierige Frage.« Er hüllte sich eine Zeit lang in Schweigen. »Ich denke, dass es möglich ist, viele Menschen gleichzeitig zu lieben. Aber ich halte es nicht für möglich, zwei Menschen auf genau die gleiche Weise zu lieben.«
»Aber kann sich ein Mann in eine Frau verlieben, wenn er nie aufgehört hat, diejenige zu lieben, mit der er zuvor zusammen war?«
»Es gibt Menschen, die kommen in unser Leben und nehmen ein kleines Stück unseres Herzens mit, wenn sie wieder gehen. Diese Liebe behalten sie also für immer bei sich. Aber das Herz ist robust und heilt sich irgendwann selbst. Das neue Herz ist also nicht das Gleiche wie das alte, und deshalb können wir zwei Menschen nicht auf die gleiche Weise lieben.«
»Klingt plausibel.«
»Machen Sie sich Sorgen um den Mann, mit dem Sie zusammen sind?«
»Das ist eine lange Geschichte … und es ist unglaublich egoistisch von mir, mich ausgerechnet jetzt damit zu beschäftigen, aber ja.«
»Ich verstehe.«
»Er hat eine Frau geliebt, die ihm das Herz gebrochen hat. Sie hat, wie Sie sagten, ein kleines Stück von seinem Herzen mitgenommen, als sie ging.«
»Lieben Sie ihn?«
»Ja. So sehr, dass es mir Angst macht.«
Pater Joe sah mich freundlich an. »Daran erkennt man, dass es wahre Liebe ist. Ich bin natürlich nicht so erfahren in diesen Dingen, aber in meinen vierzig Jahren Priesterschaft habe ich viele Paare beraten. Ich würde Ihnen empfehlen, diesem Mann etwas Zeit zu geben. Vielleicht hat er genauso viel Angst wie Sie.«
Ich seufzte und nickte. »Sie haben recht. Zeit. Wir brauchen wirklich Zeit. Am besten spreche ich jetzt schnell meine Gebete und verschwinde, bevor Ihre Messe beginnt. Aber vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch genommen haben.«
»Keine Ursache, Elodie. Ich bin jeden Tag hier, ungefähr von acht bis sechs. Und sollte ich einmal nicht hier sein …« Er zeigte auf das Kreuz über dem Altar. »Dann ist er auf jeden Fall da. Also kommen Sie ruhig vorbei und reden Sie mit einem von uns, wenn Sie es brauchen.«