45. KAPITEL
Elodie
»Habt ihr euch gestritten, du und Onkel Hollis?«
Ich runzelte die Stirn. »Nein, Liebes. Warum fragst du?«
»Wollt ihr nicht mehr zusammen sein?«
Ich hatte eine Gurke für den Salat geschält und legte das Messer weg, um Hailey meine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Sie saß mir gegenüber an der Küchentheke.
»Nein, wir haben uns nicht getrennt, wenn du das wissen willst.«
»Aber es könnte passieren?«
Ich seufzte und ging auf ihre Seite, nahm sie an die Hand und zog sie von ihrem Hocker. »Komm, wir reden im Wohnzimmer weiter.«
Wir setzten uns auf die Couch, und Hailey spielte an ihren Haaren herum, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. Ich legte die Hand unter ihr Kinn, damit sie mir in die Augen sah.
»Onkel Hollis und ich … wir haben einen Menschen verloren, der uns sehr nahestand. Wir sind nur sehr traurig.«
Das hoffte ich zumindest. Allerdings hatte meine Zuversicht, dass wir alle Schwierigkeiten gemeinsam durchstehen würden, in den letzten Tagen zu bröckeln begonnen.
Hailey nickte, aber sie hatte ganz offensichtlich noch mehr auf dem Herzen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es nichts mit meiner Beziehung zu Hollis zu tun hatte.
»Hailey, hast du jemals einen Menschen verloren, der dir nahestand?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ist das, was deine Freundin hatte, ansteckend?«
»Oh Gott, nein. Auf keinen Fall. Bree litt an einer Krankheit namens Lymphangioleiomyomatose, und die ist nicht ansteckend. Zudem ist sie auch äußerst selten. Es gibt bisher lediglich vierhundert dokumentierte Fälle in den Vereinigten Staaten.«
»Wow.«
»Ja.«
Hailey hatte immer noch diesen Ausdruck im Gesicht.
»Möchtest du noch etwas wissen?«, fragte ich. »Wir können über alles reden.«
Sie schaute weg. »Was passiert eigentlich, wenn man stirbt?«
Eine schwierige Frage. Aber ich wusste, dass Hollis und sein Bruder katholisch erzogen waren, und antwortete in ihrem Sinne. Im Grunde entsprach das dem, was ich in der meisten Zeit meines Lebens ebenfalls geglaubt hatte. In den letzten Tagen hatte ich jedoch vieles infrage gestellt.
»Nun, die Seele steigt in den Himmel auf, und man ist befreit von allen Leiden, die man im irdischen Leben hatte.«
»Dann ist Anna jetzt nicht mehr krank?«
Ich lächelte. An dieser Überzeugung hatte ich immer festgehalten. »Nein.«
»Das ist gut.«
»Ja, ich bin froh, dass sie jetzt ihren Frieden hat.«
»Was ist … wenn Onkel Hollis krank wird?«
»Ach, Liebes, Onkel Hollis ist kerngesund. Darüber musst du dir keine Gedanken machen.«
»Aber Anna war auch mal gesund, oder? Bevor sie krank wurde.«
Da hatte sie natürlich recht. Und ich wusste aus persönlicher Erfahrung, wie es war, sich Sorgen darüber zu machen, was mit einem geschieht, falls die alkoholkranke Mutter eines Morgens nicht mehr aufwacht. Schon vor dem Tod meines Vaters hatte ich mich immer allein gefühlt. Wenn nichts im Leben sicher zu sein scheint, neigt man dazu, viel zu viel darüber nachzudenken, was als Nächstes kommt.
Ich sah Hailey an. Wir kannten uns erst ein paar Monate, aber ich liebte sie von ganzem Herzen.
»Wenn deinem Onkel Hollis irgendetwas zustoßen sollte – was nie passieren wird –, dann würde ich deinen Vater darum bitten, dass du bei mir wohnen darfst.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Das würdest du tun?«
Ich legte die Hände um ihr Gesicht. »Ja, absolut.«
Hailey entspannte sich sichtlich. »Danke!«
»Es gibt keinen Grund, mir zu danken. Ich würde dich liebend gern bei mir aufnehmen, Kleine.«
Kurz vor acht klingelte es. Hollis hatte mir erst vor einer halben Stunde geschrieben, er komme heute spät nach Hause. Deshalb erwartete ich ihn eigentlich noch nicht, dachte aber, er hätte seinen Schlüssel vergessen. Doch als ich durch den Spion schaute, sah ich einen Mann vor der Tür stehen, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
Ich machte ihm auf. »Richard? Ist alles in Ordnung?«
Er lächelte freundlich, sah aber sehr müde aus. »Ja, meine Liebe, alles okay. Kann ich reinkommen?«
Ich trat zur Seite. »Ja, natürlich.« Ich nahm an, dass er mit Hollis reden wollte. »Hollis arbeitet heute länger. Er ist noch nicht zu Hause.«
»Das habe ich mir gedacht. Ich war vorhin noch bei ihm.«
Ich stutzte. »Du hast ihn in seinem Büro besucht?«
Richard nickte. »Ich habe ihm etwas vorbeigebracht.«
»Oh. Okay.«
Er sah sich um. »Seine Nichte wohnt auch hier, oder?«
»Ja, sie ist mit einer Freundin in ihrem Zimmer. Möchtest du sie sehen?«
»Nein, nein. Ich habe gehofft, wir könnten uns kurz unter vier Augen unterhalten.«
»Oh. Selbstverständlich. Möchtest du etwas trinken? Wasser oder vielleicht einen Wein?«
»Ein Glas Wasser könnte ich gebrauchen. Leitungswasser ist okay.«
Als ich in die Küche ging, folgte Richard mir. Er setzte sich auf den Hocker an der Theke, wo Hailey zuvor gesessen hatte. Ich füllte ein Glas mit Eiswürfeln und Wasser aus dem Spender des Kühlschranks.
Ich reichte es ihm und beobachtete, wie er in einem Zug fast das ganze Glas leerte und danach ein lautes »Aaah« von sich gab.
»Mir fehlt das New Yorker Wasser. Das verdammte Wasser von Connecticut schmeckt anders.«
Ich lächelte. »Weniger Ratten in der Kanalisation. Connecticut ist so sauber.«
Richard griff hinter sich und zog einen Umschlag aus seiner Hosentasche. Als er ihn mir hinlegte, sagte er: »Pass auf, meine Liebe, ich komme gleich zur Sache. Ich weiß, dass du ein ehrlicher, offener Mensch bist und es nicht leiden kannst, an der Nase herumgeführt zu werden.«
»Okay … Danke, glaube ich.«
»Bree wollte, dass ich dir diesen Brief gebe. Sie schuldet dir ein paar Antworten, und ich denke, die wirst du hier drin finden.« Er tippte auf den Umschlag.
»Sie hat mir einen Brief geschrieben?«
Er nickte. »Ich muss dir nicht sagen, dass meine Tochter dich wie eine Schwester geliebt hat. Du bist die einzige gute Entscheidung, die mein missratener Stiefsohn in seinem Leben getroffen hat. Sein Verlust war der Gewinn meines kleinen Mädchens. Du hast ihrer Seele gutgetan, Elodie.«
Mir stiegen die Tränen in die Augen. »Und sie hat meiner gutgetan.«
Er setzte sein Glas an die Lippen und trank noch den letzten Schluck aus. »Ich lasse dich jetzt allein. Wir wollen keine Wunden aufreißen, die gerade erst zu heilen anfangen. In ein paar Monaten können wir uns besser unterhalten. Ich finde, wir sollten uns alle im November zu Brees Geburtstag oben am See versammeln und über die guten Zeiten reden. Dann wird es leichter sein.«
Ich lächelte. »Das fände ich sehr schön.«
Er stand auf und ging zur Tür. Als er sie öffnete, drehte er sich noch einmal um und sah mir in die Augen. »Sei nicht sauer auf sie. Sie hat es gut gemeint.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.
Warum sollte ich sauer auf Bree sein?
Richard schloss mich in die Arme und drückte mich. Dann gab er mir einen Kuss auf den Kopf.
»Die Liebe findet auf unterschiedliche Weise zu uns. Es ist nicht wichtig, wie es passiert. Es ist nur wichtig, dass sie echt ist. Pass gut auf dich auf, meine Liebe.«
Mir zitterten die Hände. Ich wusste nicht, warum ich so nervös war. Das Schlimmste, was passieren konnte, war bereits passiert. Doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass es hier um Hollis und mich ging. Es war alles schon kompliziert genug, und auf einen weiteren Schlag war ich nicht vorbereitet. Ich nahm den Umschlag dreimal in die Hand und legte ihn wieder hin.
Ich wappnete mich und beschloss dann, zuerst Hollis zu schreiben, um ihn wissen zu lassen, was ihn zu Hause erwartete. Es war gut möglich, dass ich komplett zusammenbrach, während ich den Brief las.
Elodie: Richard war eben hier. Er hat mir einen Brief von Bree gebracht.
Ich schaute ungeduldig auf das Display, bis ich sah, dass er die Nachricht empfangen und gelesen hatte. Sekunden später kam die Antwort.
Hollis: Er war auch bei mir im Büro. Ich habe ebenfalls einen bekommen.
Richard hatte erwähnt, dass er bei Hollis gewesen war, um ihm etwas zu bringen. Natürlich hatte auch er einen Brief erhalten.