48. KAPITEL
Elodie
Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben so viel geputzt. Hollis’ Wohnung war blitzblank, weil ich meine ganze Nervosität an ihr ausgelassen hatte.
Es war eine ganze Weile vergangen, seit wir die Briefe von Bree erhalten hatten. Sie hatte die Absicht gehabt, uns näher zusammenzubringen und uns wissen zu lassen, dass wir ihren Segen hatten. Aber für Hollis war die Sache nicht so einfach. Er musste noch verarbeiten, dass alles, was er zu wissen geglaubt hatte, eine Lüge war.
Ich hatte ihm so viel Raum gegeben, wie ich konnte, aber es war frustrierend. Er fehlte mir. Seine Berührungen fehlten mir. Seine Aufmerksamkeit fehlte mir. Es war vielleicht egoistisch, aber so empfand ich nun einmal. Ich fühlte mich allein und wollte ihn zurückhaben.
Doch man konnte niemanden zwingen, etwas hinter sich zu lassen, was ihn verfolgte. Hollis musste es aus sich heraus schaffen.
Ich hatte zwar Verständnis für sein Verhalten, aber dennoch verlor ich allmählich die Geduld. Weder endlose Grübeleien noch die Zeit konnten uns Bree zurückbringen. Warum versuchten wir also nicht, unser Leben
zurückzubekommen?
Als plötzlich die Tür aufflog, ließ ich vor Schreck fast den Besen fallen. Mit Hollis hatte ich erst in ein paar Stunden gerechnet, und Hailey war nach der Schule zu einer Freundin gegangen, bei der sie auch übernachten wollte.
»Was machst du denn schon zu Hause?«
»Ich bin endlich
nach Hause gekommen«, sagte er atemlos. »Es tut mir sehr leid, dass ich so lange in meinem eigenen Kopf gefangen war.«
Es war, als wäre mein Hollis aus dem Koma erwacht. Er lief auf mich zu und umarmte mich.
Danke, lieber Gott.
Ich schmiegte mich an ihn und atmete seinen Geruch ein. »Du musst dich nicht entschuldigen.«
»Doch, das muss ich. Du hast mich gebraucht, und ich habe dich im Stich gelassen.«
Hollis küsste mich, und mein ganzer Körper erwachte zu neuem Leben.
»Ich habe dich so vermisst«, sagte er nach dem Kuss. »Ich hatte nur Angst, es einzugestehen und Dinge zu fühlen, die ich als egoistisch empfunden habe. Außerdem habe ich dich zwei Wochen lang belogen.«
Ich bekam Herzklopfen. Belogen?
»Was meinst du?«
»Ich war zwei Wochen lang nicht im Büro. Ich bin durch die Stadt spaziert, habe in billigen Diner gegessen – und einfach nichts
getan. Ich weiß nicht, wann ich so etwas das letzte Mal gemacht habe. Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich dich sonst bitten müsste, mich zu begleiten. Aber ich musste allein sein. Ich habe es gebraucht, nicht zu arbeiten und einfach … zu sein.«
Wow.
»Und womit hast du noch deine Zeit verbracht?«
»Mit allem Möglichen. Ich war bei einem Spiel der Yankees und im Park, ich habe im Krankenhaus Videospiele mit Sean gespielt und Annas Grab besucht. Aber ich habe endlich das Licht am Ende des Regenbogens gesehen, sozusagen. Heute war ich auf der onkologischen Kinderstation, und es ist eine lange Geschichte, aber mir ist etwas Wichtiges klar geworden.«
»Und was?«
»Es ist okay, in der Dunkelheit zu lächeln. Es ist okay, glücklich zu sein – unsere Liebsten wollen es so. Ich werde kein schlechtes Gewissen mehr haben, weil ich dich liebe, Elodie. Ich werde kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich nachher über dich herfalle. Ich werde mich wegen alldem nicht mehr schuldig fühlen.«
Ich sprang ihm praktisch in die Arme und schlang die Beine um ihn, während wir uns küssten. Es war ein unglaubliches Gefühl, ihm wieder so nah zu sein.
»Du bist wirklich wieder da.«
»Und ich gehe auch nirgendwo mehr hin, versprochen.« Er stöhnte. »Ich möchte am liebsten sofort in dir sein. Aber ich habe schlecht geplant. Wir müssen los.«
»Jetzt? Warum?«
»Wir werden in ein paar Minuten abgeholt.«
»Abgeholt? Fahren wir weg?«
»Ja.«
»Warum nehmen wir nicht dein Auto?«
»Ich finde, wir brauchen einen Tempowechsel.«
Ich lächelte. »Okay.«
Als wir aus dem Haus traten, wartete direkt vor der Tür eine Pferdekutsche. Hollis hatte sich daran erinnert, was ich ihm über das Rendezvous meiner Träume erzählt hatte.
»Ich habe dir vor langer Zeit eine Kutschfahrt versprochen, bevor ich den Abend dann versaut habe. Das will ich wiedergutmachen. Ich will so einiges wiedergutmachen.«
Hollis nahm meine Hand und half mir beim Einsteigen.
Ich kuschelte mich an ihn, und wir genossen die Fahrt, während die Sonne allmählich unterging. Der Geruch der Pferde war ziemlich … kräftig, was mein Glück jedoch nicht trübte. Abgesehen von den Verkehrsgeräuschen und dem Klappern der Hufe war es sehr ruhig.
Irgendwann wandte Hollis sich mir zu. »Elodie, ich möchte dir gerne etwas sagen.«
»Ja?«
Er schluckte und wirkte nervös. »Du darfst nicht eine Sekunde lang glauben, dass mein distanziertes Verhalten irgendetwas damit zu tun hatte, dass ich irgendwelche Bedenken dir gegenüber hatte. Die Liebe für Anna ist anders als die Liebe, die ich für dich empfinde. Und das Wissen, dass sie mich geliebt hat, als sie sich von mir trennte, schmälert meine Liebe zu dir überhaupt nicht.«
»Danke, dass du mir das sagst. Obwohl ich nie den Eindruck hatte, es ginge um Konkurrenz.«
Er legte die Hand unter mein Kinn und sah mir in die Augen. »Meine Gefühle für dich sind unvergleichlich, Elodie. Ich liebe Anna und werde sie immer lieben, aber vor allem liebe ich sie, weil sie uns zusammengebracht hat. Ich will keinen einzigen Tag mehr darauf verschwenden, die Bedeutung von allem und jedem zu hinterfragen. Ich will einfach der Mann sein, den du verdienst, und dir tagtäglich zeigen, wie viel du mir bedeutest.«
Diese Worte hätten mir für ein ganzes Leben gereicht, doch dann griff Hollis zu meiner Überraschung in die Tasche und holte ein Ringkästchen hervor.
»Was ist das?« Ich schlug die Hand vor den Mund. Mein Herz schlug schneller. »Was hast du vor?«
Als er das Kästchen öffnete, funkelte mich ein großer Diamant an, der von zwei kleineren Steinen eingefasst war.
»Ich weiß, es erscheint ziemlich verrückt, vor allem nachdem ich mich so lange zurückgezogen habe, aber lass es mich erklären«, sagte er.
Ich fasste mir ergriffen an die Brust. »Oh mein Gott, Hollis!«
Ist es wirklich wahr?
»Als ich heute das Krankenhaus verlassen habe und auf dem Weg zu dir war, habe ich einen Regenbogen gesehen. Ich glaube, es war Anna – ihr Wesen. Ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen, bis er wieder verschwand. Und als ich ihn nicht mehr sehen konnte, stellte ich fest, dass ich mich vor einem Juweliergeschäft befand. War das vielleicht ein Zeichen? Ich weiß es nicht. Aber die Sache ist die: Es war mir nicht wichtig, ob es ein Zeichen war oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt war mir jeder Vorwand recht, um das zu tun, was ich schon tun wollte, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Ich will ein gemeinsames Leben mit dir beginnen, Elodie. Ich will dir die Füße massieren, während du türkische Soaps guckst, die ich nicht verstehe. Ich will jede Nacht an deiner Seite schlafen. Ich will das ganze Paket. Aber du sollst dich durch den Ring nicht gedrängt fühlen. Es geht mir nicht darum, gleich morgen zu heiraten. Der Ring ist ein Versprechen, eine Erinnerung daran, dass mein Herz ganz und gar dir gehört und niemand anderem. Ich will nicht, dass du das jemals wieder in Zweifel ziehst.«
Seine Hände zitterten leicht.
»Deshalb frage ich dich … ob du mich heiraten willst … eines Tages, wenn du dazu bereit bist?«
Mir schossen die Tränen in die Augen, und ich nickte heftig. »Ja! Ich will dich heiraten, eines Tages, morgen oder heute. Wann du willst!«
Wir küssten uns, doch der Moment wurde jäh gestört, weil die Kutsche abrupt stehen blieb. Die Pferde wären fast in ein Taxi
gelaufen.
»Alles okay!«, rief der Kutscher uns zu. »Es war knapp, aber es ist nichts passiert!«
»Wir sind Unfälle gewöhnt«, sagte Hollis schmunzelnd. »So haben wir uns sogar kennengelernt. Sie ist mir hintendrauf gefahren.«
»Eigentlich …«, verbesserte ich ihn, »ist er mir rückwärts reingefahren.«