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Der Motorradclub »The Bandits« war ein Club wie viele andere auch: Harte Jungs auf schweren Maschinen, die Gewalt verbreiten und Bürger in Angst und Schrecken versetzen.

Die Bandits, 1966 von einem amerikanischen Kriminellen gegründet, waren nicht die größte Motorradgang und auch nicht die brutalste oder berühmteste, und so ging man allgemein davon aus, dass sie nach dem Tod ihres Gründers – der 1969 bei einer Schießerei im Gefängnis starb – untergehen würde. Doch anstatt sich aufzulösen oder von einem größeren Club »einverleibt zu werden«, wie es in der Bikersprache hieß, expandierten die Bandits sogar, wie es sich ihr Gründer – als er noch auf seiner Harley-Davidson auf den Freeways von Los Angeles herumkurvte – niemals hätte träumen lassen: 1985 zählten die Bandits über dreitausend vollwertige Mitglieder in siebzig Clubs in den Vereinigten Staaten und hundert weiteren in der ganzen Welt, abgesehen von ungefähr zehn Mal so vielen Verbündeten und Anhängern.

Doch nur ein vollwertiges Mitglied der Bandits durfte das gestickte Clubabzeichen in den Clubfarben tragen: einen Straßenräuber mit Cape, der eine abgesägte Schrotflinte schwingt.

Auszug aus der Bikerbiographie Unterwegs mit den Bandits

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Von den insgesamt elf Clubs in England wurden die South-Devon-Bandits nur von den Londonern in Sachen Macht und Einfluss übertroffen. Zwar bestand das Clubhaus aus nichts als ein paar Scheunen auf einem sechs Hektar großen Gelände, das neben dem reichen Ort Salcombe lag, aber an einem klaren Tag konnte man über die Videokameras, die auf dem Stacheldrahtzaun installiert waren, die Millionärsyachten unten am Meer sehen.

Dante Scott war der acht Jahre alte Sohn von Scotty, dem Vizepräsidenten der Bandits in South Devon; ein selbstbewusster Bursche, der sich mit jedem anlegte, der ihn wegen seines strubbeligen roten Haars aufzog. Er liebte die Abende, die er zusammen mit seinem Vater in dem klapprigen Clubhaus verbrachte, zumeist mittwochs und freitags, wenn seine Mutter nach Plymouth zur Abendschule fuhr.

Die Biker spielten Poolbillard, tranken Alkohol, rauchten Hasch, fluchten und konnten es nicht leiden, wenn ihnen Kinder vor die Füße stolperten. Dantes Mutter hatte ihm verboten, draußen vor dem Clubhaus zu spielen, weil dort nie jemand aufräumte und daher Glassplitter und Metallteile herumlagen, doch er hatte sich noch nie verletzt, und seinem Vater war es sowieso egal, solange Dante nur beschäftigt war.

Dante setzte sich gerne hinter das Lenkrad eines kaputten Fords und tat so, als könne er Auto fahren, oder er baute eine Rampe aus alten Holzteilen und ließ leere Bierfässer den Hang hinunterrollen. Meistens waren auch noch andere Kinder da. Für Fußball war das Gelände zu abschüssig, also spielten sie Verstecken oder Fangen, am liebsten im Dunkeln mit Taschenlampen. Und das Beste war, wenn Teeth kam und ihnen Unterricht im Boxring gab.

Obwohl keiner der Bandits als Teddybär durchging, war Teeth der furchterregendste von allen: groß und muskelbepackt, mit scharfen Sporen an seinen Stiefeln und einer Fahrradkette, die seine dreckigen Jeans zusammenhielt und die er augenblicklich aus dem Bund reißen konnte, um damit jeden windelweich zu schlagen, der sich mit ihm anlegen wollte.

Die Namen der Biker strotzten zumeist vor Ironie: Little George war so groß wie ein Haus, Fatty so dünn wie eine Bohnenstange und Teeth hatte nur noch weiches Zahnfleisch und ein paar braune Backenzähne im Mund. Er verlor kein Wort darüber, wie er seine Zähne eingebüßt hatte, und als Dante ihn einmal danach fragte, antwortete er nur: Du hättest erst mal den anderen sehen sollen!

Teeth war Rausschmeißer in einem Nachtclub und nebenbei Drogendealer, doch am liebsten wäre er professioneller Wrestler geworden. Er war sogar schon ein paar Mal im Fernsehen aufgetreten, aber zu den Stars in den Wrestling-Magazinen, die sich in Dantes Zimmer stapelten, gehörte er nicht gerade.

In einem großen Raum in der Hauptscheune stand ein alter Boxring mit ausgefransten Seilen und unebenem Boden, und dort zeigte Teeth Dante und allen anderen Jungen, die es interessierte, wie man richtig boxt, wie man Karatetritte setzt und jemanden in den Schwitzkasten nimmt und noch viele andere Sachen, von denen Dante seiner Mutter lieber nichts erzählte – weil sein Dad sagte, dass sie dann ausrasten würde.

Jeden Mittwochabend fand das obligatorische Clubtreffen statt, auch Kirche genannt, und alle Mitglieder auf der ganzen Welt waren verpflichtet, daran teilzunehmen. Diese Kirchenabende mochte Dante am liebsten. Die Frauen und Freundinnen der sechzehn vollwertigen Clubmitglieder bereiteten das Essen zu und betranken sich an der Bar, während die Männer in einem kleinen Nebengebäude, der sogenannten Kapelle, ihr Treffen abhielten.

Neben Dante war auch Joe immer dabei. Er war der Sohn des Commanders, des Clubpräsidenten von South Devon. Dante und Joe besuchten zusammen die vierte Klasse und waren gute Freunde. An diesem besonderen Mittwoch hatten sich die beiden mit Chicken Wings, Cocktailwürstchen, Pommes Frites und Cola vollgestopft und sich dann eine kräftige Ohrfeige und die Androhung von noch weiteren eingefangen, weil sie ein älteres Mädchen namens Isobel bei den vor der Tür stehenden Motorrädern in eine Pfütze geschubst hatten.

Danach rülpsten die Jungen eine Weile lautstark, um Joes streberhaften elfjährigen Bruder davon abzuhalten, sich auf sein Buch zu konzentrieren, bevor sie ein wenig miteinander kämpften und sich gegenseitig um den Boxring herumjagten. Schließlich rannten sie völlig außer Atem zur Bar zurück, um sich mit Muffins und Fanta neue Energie zu holen.

Nach ein paar Boxrunden wurde es ihnen jedoch langweilig, und daher waren sie ganz zufrieden, als die Kirche endlich vorbei war und Teeth aus der Kapelle kam. Die meisten Bandits gesellten sich zu den Frauen und den Clubanhängern an der Bar, während Teeth am Poolbillard-Tisch und dem blinkenden Spielautomaten vorbeiging, den Kopf zwischen den Seilen um den Boxring hindurchsteckte und die beiden Achtjährigen abklatschte.

»Wie geht′s meinen beiden kleinen Champions?«, fragte Teeth mit breitem, zahnlosem Grinsen. Beim Sprechen rollten sich seine Lippen nach innen, weshalb er Schwierigkeiten mit dem S und dem T hatte, worüber sich allerdings niemand lustig zu machen wagte.

Beide Jungen hatten während ihres Spiels bereits mehrmals Bekanntschaft mit dem Boden des Boxringes gemacht und waren dreckig und staubig, ihre Gesichter hochrot und verschwitzt.

»Zeigst du uns was Neues?«, fragte Joe atemlos, setzte sich hin und ließ die Beine über den Rand des Ringes baumeln.

»Kickbox-Übungen«, sagte Teeth ernst.

Die beiden Jungen stöhnten.

»Aber das ist so laaangweilig«, beschwerte sich Dante. »Zeig uns lieber was Cooles, so wie diesen Geheimgriff, von dem du uns erzählt hast und mit dem du jemandem so auf den Hinterkopf geschlagen hast, dass ihm die Augen aus dem Kopf gefallen sind.«

»Dafür seid ihr zu jung«, erklärte Teeth fröhlich. »Raffinierte Tricks machen noch keinen guten Kämpfer aus.«

Er schlüpfte aus den Schuhen, sprang mit seinen löchrigen Socken in den Ring und zog sich einen riesigen Schaumstoffhandschuh über.

»Ich sag euch was: Ihr zeigt mir ein paar gute Schläge und Tritte, und dann zeige ich euch vielleicht, wie man jemandem die Schulter ausrenkt. Dante, du fängst an.«

In der nächsten Viertelstunde jagten ihn die beiden Jungen durch den Ring und traktierten den Sparringshandschuh so mit Tritten und Schlägen, dass Teeth ins Schwitzen kam. Schließlich gesellten sich ein paar ältere Mädchen zu ihnen, und Teeth zeigte ihnen einen geschickten Daumengriff, mit dem man jeden Jungen auf Abstand bringen konnte, der seine Pfoten an verbotenen Stellen hatte. Dante und Joe sahen an die Seile gelehnt zu.

»Wozu der Aufwand, Sandra?«, erkundigte sich Dante unschuldig. »Du bist doch so hässlich, dass dir sowieso kein Junge zu nahe kommt.«

Die dreizehnjährige Sandra hatte die Haare streng zurückgebunden und eine Stimme wie ein Nebelhorn.

»Trau dich her und sag das noch mal«, forderte sie ihn heraus. »Ich reiß dir deinen bescheuerten kleinen Kopf ab.«

»Meine Cousine glaubt, dass du schon mit der Hälfte der Jungs aus der zehnten geschlafen hast«, fügte Joe hinzu.

»Ach ja?«, höhnte Sandra und stemmte die Hände in die Hüften. »Die muss gerade reden, nach allem was sie angestellt hat mit …«

»He, he, he!«, unterbrach sie Teeth. »Spielt ordentlich! Wenn ihr anfangt zu kreischen und zu heulen, gehe ich wieder an die Bar und besaufe mich.«

Dante warf Sandra eine freche Kusshand zu und Joe hob den Sparringshandschuh auf.

»Wollen wir noch ein wenig Sparring machen?«, fragte er Dante.

»Zu k. o.«, keuchte dieser mit Blick auf die Uhr an der Wand hinter dem Ring. »Lass uns was trinken.«

Gerade als die Jungen aus dem Ring sprangen, betraten ihre Väter – der Commander und Scotty – den Raum. Nach Ende der Kirche hatten die beiden noch über eine Stunde im Clubbüro zusammengesessen.

Scotty war vierunddreißig, groß und grobschlächtig, mit kantigem Kinn und dem gleichen strubbeligen roten Haar wie sein Sohn. Der Commander war zwanzig Jahre älter, klein und gedrungen, mit einem albernen Hitlerbärtchen und Armen voller Tätowierungen. Beim Anblick seines Kahlkopfs und des dicken Bauchs musste Dante immer unwillkürlich an einen Kegel denken.

»Ist Martin hier?«, schrie der Commander so wütend, dass die Adern an seinem Hals hervortraten. Dann wandte er sich an Teeth. »Hat mein Martin mit dir gesprochen?«

Teeth schüttelte den Kopf. Dante wunderte sich, denn Martin war der Letzte, der in einen Boxring steigen würde.

»Ich habe ihm gesagt, er soll mit dir reden«, erklärte der Commander und stampfte dann ins Nebenzimmer.

Joe grinste Dante an und flüsterte erfreut: »Mein Streberbruder kriegt einen Tritt!«

Noch bevor er das näher erläutern konnte, kam der Commander zurück und schleifte den elfjährigen Martin am Kragen seines weißen Schulhemdes hinter sich her.

»Was hab ich dir gesagt, du Rotznase?«, brüllte der Commander. Sandra und die anderen Mädchen wichen zurück, als Martin gegen die Wand gestoßen wurde.

»Ich soll mit Teeth reden«, erwiderte Martin verlegen. »Hab ich vergessen.«

»Und was hast du stattdessen getan?«, schrie der Commander und riss seinem Sohn das Buch aus der Hand. »Harry Potter!«, schnaubte er. »Die ganze Nacht lang liest du Bücher über irgendwelche Drachen, und morgen gehst du wieder in die Schule und lässt dich verprügeln. Was ist bloß los mit dir?«

»Blödsinn«, rief Martin trotzig. »Mit Prügeln löst man keine Probleme!«

Ein scharfes Klatschen erklang, und Martin hatte eine Ohrfeige im Gesicht. Dann wandte sich der Commander an Teeth und Scotty. »Gestern hab ich den kleinen Sack hier in der Küche erwischt, wie er sich bei seiner Mama ausgeheult hat. Er sagt, dass ihn die Kinder in der Schule hänseln. Könnt ihr euch das vorstellen? Mein Sohn als Prügelknabe der Schule? Also hab ich ihn heute Abend hierhergeschickt, damit ihm Teeth ein paar Dinge beibringt. Und was macht er stattdessen?«

Joe freute sich ganz offensichtlich, dass sein großer Bruder Prügel einsteckte, und konnte nicht widerstehen, seinen Senf dazuzugeben. »Er kann nichts dafür, Dad! Er ist einfach der geborene Loser!«

Teeth zeigte sich da schon etwas mitfühlender. »Das ist gar nicht so schwer, Martin. Nach vier oder fünf Lektionen weißt du Bescheid, wie du dich verteidigen kannst. Ich treffe mich gerne mit dir ein paar Nachmittage nach der Schule und helfe dir.«

»Ich will aber nicht lernen, wie man kämpft«, widersprach Martin zornig. »Ich regle das auf meine Art!«

»Und was ist deine Art?«, wollte der Commander wissen. »Dich bei Mami auszuheulen? Oder die gemeinen Hunde mit einer Tüte Bonbons zu bestechen?«

»Ich bin Pazifist«, erklärte Martin und sah seinen Vater finster an. »Ich bin nicht wie du, Dad. Ich will nicht zur Eisenstange greifen und jemandem den Rücken brechen wie du bei dem Kerl, der jetzt im Rollstuhl sitzt.«

Der Commander packte Martin und stieß ihn erneut gegen die Wand.

»Wenn du nicht in diesen Ring steigst, bist du derjenige, der hier im Rollstuhl sitzt! Und wenn ich dich das nächste Mal beim Lesen erwische, stecke ich dir das verdammte Buch in den Hintern!«

Martin wurde vom Boden hochgerissen und einfach in den Ring geworfen. Er stöhnte auf, als er mit der Hüfte aufschlug. Mittlerweile hatten die Leute den Lärm bemerkt und kamen aus der Bar angelaufen, um zu sehen, worüber sich der Commander so aufregte.

»Ein Schritt aus dem Ring, und ich brech dir deinen dürren Hals!«, warnte der Commander.

Martin hielt sich die schmerzende Hüfte und stolperte zur anderen Seite des Ringes, aber er versuchte gar nicht erst, zu flüchten. Stattdessen packte er den Kragen von Teeths Bandits-Clubjacke, die über dem Eckpfosten hing, und spuckte auf das Abzeichen.

Dante klappte der Unterkiefer herunter. Das Abzeichen. Das Heiligtum eines jeden Bikers. Man musste in einer überfüllten Bar nur aus Versehen daran stoßen, und schon wurde man verprügelt. Hätte ein Erwachsener auf Teeths Abzeichen gespuckt, wäre er wahrscheinlich nicht mehr lebend davongekommen.

»Das ist genau das, was ich von dir und deinem dämlichen Motorradclub halte!«, schrie Martin zornig, spuckte erneut und zeigte seinem Vater den Mittelfinger.

»Du kleiner Scheißkerl!«, knurrte der Commander, packte das oberste Seil und wollte in den Ring steigen.

»Oh ja, du großer mutiger Mann!«, höhnte Martin. »Komm und zeig deinen ganzen Kumpels, wie du deinen elfjährigen Sohn verprügelst!«

Joe mochte seinen Bruder nicht besonders, aber er wollte auch nicht zusehen müssen, wie er starb.

»Martin!«, flehte er. »Halt deine blöde Klappe! Dad bringt dich um!«

»Ach, verpiss dich doch!«, schrie Martin zurück. »Du machst doch auch nur alles nach, was Dad macht!«

Inzwischen hatten sich noch mehr Leute aus der Bar um den Ring versammelt. Als sich herumsprach, dass Martin auf Teeths Abzeichen gespuckt hatte, machte sich Unmut breit.

Teeth wollte nicht, dass der extrem jähzornige Commander Martin etwas antat, was er später bereuen würde. Also packte er seinen Präsidenten um die Taille und zog ihn von den Seilen herunter. Obwohl er doppelt so groß war wie der Commander, musste er sich ziemlich anstrengen, um ihn festzuhalten. Scotty und ein weiterer Biker kamen ihm zu Hilfe.

»Er ist nur ein Junge, der sich aufspielt«, sagte Scotty. »Beruhige dich. Ich weiß doch, dass du ihm nicht wirklich etwas antun willst.«

»Das ist nicht mein Sohn!«, kreischte der Commander, deutete auf Martin und drohte: »Wenn ich dich in die Finger kriege, breche ich dir jeden einzelnen Knochen im Leib!«

Teeth war auch nicht gerade erfreut darüber, dass sein Abzeichen beschmutzt worden war. Martin hatte seiner Meinung nach eine Abreibung verdient – aber nicht, von einem Erwachsenen in Grund und Boden gestampft zu werden.

»Das ist mein Abzeichen, und ich muss es verteidigen«, erklärte er, als sich der Commander endlich so weit beruhigt hatte, dass ihn die drei Biker loslassen konnten. »Aber ich werde mich nicht mit einem kleinen Kind prügeln und du auch nicht.«

»Damit lasse ich ihn nicht durchkommen!«, antwortete der Commander. »Er ist schließlich alt genug, um zu wissen, was das Abzeichen für uns bedeutet!«

»Jemand von seiner Größe …«, überlegte Teeth, und dann fiel sein Blick auf Dante. »He, Dante, willst du die Ehre des Clubs verteidigen?«

Dante, der sich mit Joe in eine Ecke des Raumes zurückgezogen hatte, stellte überrascht fest, dass ihn plötzlich alle anstarrten.

»Hä?«, stieß er hervor.

Teeth beugte sich zu Dante herunter und flüsterte ihm zu: »Martin ist zwar einen Kopf größer als du, aber nur Haut und Knochen. Den schaffst du locker. Willst du in den Ring steigen und für die Ehre meines Bandits-Abzeichens kämpfen?«

Dante wusste nicht recht, was er sagen sollte. Teeth war einer der Erwachsenen, die er am liebsten mochte, und normalerweise hätte er alles für ihn getan. Aber es war nicht gerade normal, dass ein Erwachsener einen Jungen darum bat, in den Ring zu steigen, um einen anderen Jungen zu verprügeln.

Scotty ging neben seinem Sohn in die Hocke.

»Wir müssen etwas unternehmen, um den Commander zufriedenzustellen«, erklärte er im Flüsterton. »Du kennst seine Launen. Wenn wir zulassen, dass er Martin selbst in die Mangel nimmt, wird der Junge höchstwahrscheinlich mit gebrochenem Schädel im Krankenhaus enden.«

Dante sah Teeth abschätzend an.

»Soll ich es ihm leicht machen?«

Teeth schüttelte den Kopf.

»Der kleine Mistkerl hat gerade auf mein Abzeichen gespuckt. Er verdient Schmerzen. Ich will nur nicht, dass der Commander ihn umbringt.«

Dante betrachtete die beiden Männer neben ihm, die er am meisten auf der Welt bewunderte.

»Okay, ich kämpfe.«

Martin wirkte jetzt zunehmend ängstlicher. Er stand immer noch auf der anderen Seite des Rings und hatte mit angesehen, wie sein Dad weggezerrt worden war, hatte aber keine Ahnung, was stattdessen auf ihn zukam – bis Teeth nun die Glocke am Ring läutete. Mittlerweile waren fast vierzig Leute im Raum.

»Ladys und Gentlemen!«, verkündete Teeth. »Nachdem mein geliebtes Bandits-Abzeichen durch diesen mickrigen kleinen Kerl dort entweiht wurde, freue ich mich, verkünden zu können, dass wir einen kühlen Kopf bewahrt haben. Die Ehre der Bandits wird von jemandem in Martins eigener Gewichtsklasse verteidigt werden, und zwar von Dante Scott!«

Die meisten Leute waren betrunken und jubelten laut, als Teeth Dante in den Ring hob und sein Dad seinen Namen rief und zu Sprechchören aufforderte. Auf einmal erschien Dante der Ring riesig, und er fühlte sich furchtbar einsam.

»Bring den Streber um, Dante!«, schrie Sandra. »Schlag ihm den Schädel ein!«

»Nimm die Fäuste hoch, Martin«, verlangte Joe. »Sei nicht so ein Feigling!«

Alle brüllten irgendetwas, bis auf den armen Martin, der auf der anderen Seite des Rings stand und die Schultern hängen ließ. In Dantes Kopf überschlugen sich die Gedanken und dann fielen ihm zwei Dinge gleichzeitig ein. Erstens trug er keine Handschuhe, keinen Mundschutz oder irgendwelche andere Schutzkleidung, und niemand hatte irgendetwas von Regeln gesagt. Und zweitens war es in der Schule so, dass sich die Kinder nach einer Prügelei gegenseitig die Hände reichen mussten, und die Lehrer sie in der nächsten Stunde nebeneinander sitzen ließen.

Dante hatte das Gefühl, in zwei Welten zu leben. Da war zum einen die Welt seiner Lehrer und seiner Mutter, in der man nicht fluchen durfte und immer nett zueinander sein sollte. Zum anderen war da die Welt der Bandits, die Drogen verkauften, Verräter erstachen, sich betranken, Autos stahlen und es völlig in Ordnung fanden, einen Jungen in einen Boxring zu stellen und ihm zu sagen, er solle einen anderen Jungen windelweich prügeln, weil dieser auf eine Jacke gespuckt hatte.

»Keine Hinhaltetaktik, Dante!«, rief der Commander. »Wisch mit dem kleinen Stinker den Boden auf!«

Dante trat von den Seilen weg und sah, wie Martin in die entgegengesetzte Ecke des Rings zurückwich. In die Ecke gedrängt zu werden, ist für einen Boxer das Schlimmste, was es gibt, aber Martin hatte noch nie im Leben geboxt und verschränkte nur abwehrend die Arme vor dem Gesicht.

Dante schoss vor und schlug zu. Überrascht stellte er fest, wie schnell Martin auswich und dachte – hoffte – schon, dass der Kampf vielleicht ausgeglichener sein würde, als alle annahmen. Er ließ einen Karatetritt folgen und traf Martin mit seinem Turnschuh mitten in den ungeschützten Bauch.

Die Menge johlte auf, als Martin zur Seite taumelte. Von den Anfeuerungsrufen bestärkt, schlug Dante weiter auf den älteren Jungen ein, als dieser gegen die Seile fiel und ihm von dort entgegenkippte. Er traf ins Gesicht, in den Magen und dann, mit einem besonders befriedigenden Schlag, die weiche Spitze von Martins Nase.

Blut spritzte über Dantes Arm und über sein T-Shirt, während Martins Beine nachgaben. Dante erschrak angesichts der Menge an Blut, doch der Jubel gab ihm das Gefühl, der König der Welt zu sein. Das Publikum spielte verrückt, und Dante fühlte sich groß und schrecklich zugleich. Ganz vorne in der Menge hüpfte Sandra auf und ab und kreischte: »Kill ihn! Kill ihn! Schlag ihm den Schädel ein!«

Martin schluchzte und machte keinerlei Anstalten, aufzustehen, obwohl ihn ein paar wenig mitfühlende Seelen aufforderten, ein Mann zu sein und wieder hochzukommen.

Teeth hielt symbolisch seine Bandits-Jacke hoch und läutete die Glocke am Ring.

»Die Ehre ist wiederhergestellt!«, rief er und sah dann den Commander an. »Bist du damit zufrieden, Boss?«

Es wurde still im Raum, während der Commander sich seine Antwort überlegte.

»Der Junge hat bekommen, was er verdient hat«, nickte er schließlich. »Ich bin zufrieden.«

Teeth stieg, ganz offensichtlich erleichtert, in den Ring.

»Holt mir bitte mal jemand etwas Eis für Martins Nase?«

Als Dante aus dem Ring kletterte, fand er sich plötzlich vor dem Commander wieder.

»Was für eine nette kleine Bulldogge«, strahlte dieser, umarmte Dante kurz und steckte ihm einen Zehn-Pfund-Schein zu. »Willst du auch mal das Bandits-Abzeichen tragen?«

»Klar«, antwortete Dante, während sich die anderen Bandits mit Sprüchen wie »Du hast die Ehre des Clubs gerettet« um ihn versammelten und ihm die Hand schüttelten.

Hinter ihm im Ring hatte Teeth gerade Martin dazu gebracht, sich aufzusetzen. Blut lief ihm aus der Nase und tropfte auf die Holzbretter. Teeth hielt ihm ein Taschentuch an die aufgeplatzte Lippe und Martin bedankte sich immer und immer wieder bei ihm, denn er wusste nur zu gut, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können, mit seinem Vater als Gegner.

Während Dante in Richtung der leeren Bar ging, betrachtete er das Blut auf seinem Arm, das langsam trocknete.

»Du warst einsame Spitze!«, rief Joe begeistert und rannte seinem Freund hinterher. »Wie du meinem Bruder die Nase eingeschlagen hast! Oh, Mann, wenn ich nur an deiner Stelle hätte sein können!«

Dante antwortete nicht und ging einfach weiter.

»Alles okay?«, erkundigte sich Joe unsicher. »Er hat dich doch nicht getroffen, oder? Und du hast einen Zehner von meinem Vater gekriegt!«

»Halt einfach die Klappe!«, befahl Dante. Er war völlig durcheinander und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Wäre Joe nicht neben ihm gewesen, hätte er am liebsten geheult.