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Carol drehte sich um. Jordan stand am Fußende der Treppe, Dante auf halber Höhe.

»Raus!«, schrie sie den Jungen zu, ließ die Flinte fallen und rannte zur Tür. »Raus aus dem Haus! Sofort!«

Jordan lief seiner Mutter zur Tür nach, Dante beeilte sich, die restlichen Treppenstufen nach unten zu kommen, und duckte sich, als der Commander Felicitys Pistole abfeuerte. Es war ein blinder Schuss unter dem Tisch hervor, der die Wand durchschlug und im Schrank auf der anderen Seite die Töpfe klirren ließ.

Der Commander stieß den Tisch mit dem Fuß um und zielte beim zweiten Schuss genauer. Er traf Carol in den Rücken, als sie nach dem Türriegel griff. Ihr Körper schlug gegen die Milchglasscheibe, versperrte Jordan den Weg und zwang ihn, wieder in den Flur zurückzulaufen.

Der Commander trat aus dem Wohnzimmer und zog eine Blutspur von der schnell größer werdenden Lache um Scotty hinter sich her.

»Komm, Jordan!«, flehte Dante, der die Treppe Richtung Elternschlafzimmer hinaufrannte.

Doch Jordan war klar, dass er ein Rennen gegen eine Kugel nicht gewinnen konnte, nicht treppauf. Vielleicht um sein eigenes Leben zu retten, vielleicht aber auch, weil er wusste, dass er verloren war und er Dante die Chance zur Flucht geben wollte, packte Jordan das erstbeste, was ihm in die Finger kam, und griff den Commander an.

Es war ein Metalleimer voller Regenschirme und Spielzeug von Holly. Während die Sachen durch die Luft flogen, sprang Jordan verzweifelt nach vorn, um dem Commander einen Tritt zu verpassen. Er war genauso groß wie dieser, und sein Angriff sowie der Inhalt des Eimers zwangen den Commander, sich wieder ins Wohnzimmer zurückzuziehen – doch zugleich drückte er ab und schoss Jordan in den Bauch.

Der Teenager stürzte zu Boden. In einem Regen von Schirmen, Legosteinen und Plüschtieren senkte der Commander den Lauf der Pistole und jagte Jordan noch eine Kugel in den Kopf.

In diesem Moment erreichte Dante das Elternschlafzimmer. Seine Beine brannten, sein Magen rebellierte. Im Zimmer war es eng, aus den kaputten Schranktüren quollen Kleider hervor und die Wiege der kleinen Holly stand in schrägem Winkel zwischen dem Doppelbett und der Heizung. Holly strampelte mit den Beinchen in der Luft, kaute an ihrer Faust und gab kleine Laute von sich, mit denen sie verlangte, dass jemand sie hochhob und wieder in den Schlaf wiegte.

Lizzie hatte durch die offene Schlafzimmertür alles mit angesehen. Sie hatte das Fenster aufgerissen, um zu springen, wollte aber Holly nicht zurücklassen und überlegte verzweifelt, ob sie es mit dem Baby im Arm wagen sollte.

Der Commander trat über Jordan hinweg und rannte die Treppe hinauf. Dante knallte die Tür zu, drehte den Schlüssel herum und verschaffte ihnen damit ein paar Sekunden Zeit.

»Geh zum Fenster!«, schrie Lizzy, gab Dante einen Stoß und packte dann den großen Kleiderschrank. Mit aller Kraft zog sie an dem dünnen, laminierten Sperrholz, das schließlich knarrend vor die Tür fiel. Metallbügel klirrten im Inneren, und von den selten benutzten Koffern, die auf dem Schrank gelegen hatten, stiegen Staubwolken auf.

»Kommt raus, dann mach ich′s kurz!«, tobte der Commander und schoss durch die obere Hälfte der Tür. Dante und Lizzie duckten sich und der Schuss ging in die Wand.

»Was sollen wir machen?«, schrie Dante, als die Tür erbebte; der Commander musste sich mit der Schulter dagegengeworfen haben.

»Erinnerst du dich, wie Jordan dich mal herausgefordert hat, aus dem Fenster zu springen, und du dir den Knöchel verstaucht hast?«, fragte Lizzie hektisch, während der Commander ein zweites Mal gegen die Tür prallte und es schaffte, das Schloss zu sprengen und den umgekippten Schrank ein paar Zentimeter zu verschieben. »Glaubst du, du kannst das noch mal machen, und zwar ohne dich zu verletzen?«

»Klar, das ist zwei Jahre her«, nickte Dante. »Ich bin jetzt größer.«

»Gut«, sagte Lizzie. »Du springst, ich lass Holly zu dir runter und komme dann nach.«

»Okay«, nickte Dante eilig.

Wieder warf sich der Commander gegen die Tür. Der Spalt war jetzt fast breit genug, dass er sich hindurchquetschen konnte. Holly gefiel der Krach nicht und sie begann zu schreien, als Dante sich aufs Fensterbrett schwang. Auf einmal bemerkte er die Wärme an seinen Beinen, aber erst als er den nassen Fleck in seinem Schritt sah, begriff er, dass er sich vor Angst in die Hosen gemacht hatte.

»Los!«, schrie Lizzie, als Dante in die Tiefe sah, drei Meter bis zu dem ungepflegten, vom Regen aufgeweichten Rasen. Dante musste an den letzten Sprung denken und zögerte, bis der Commander erneut gegen die Tür knallte.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bein, als er auf dem Boden landete und mit der bloßen Schulter in den Schlamm klatschte. Als er sich wieder aufrappelte, beugte sich Lizzie bereits aus dem Fenster und hielt die zappelnde Holly am ausgestreckten Arm nach unten.

Dante stellte sich auf die Zehenspitzen und griff nach Hollys molligen Füßchen.

»Hast du sie?«, schrie Lizzie.

»Ich glaub schon«, antwortete Dante. Er musste sich weit in die Höhe recken und war nicht ganz sicher, in welche Richtung das Baby kippen würde, wenn Lizzie es losließ.

Ein lautes Krachen ertönte, das Zeichen dafür, dass der Commander den Schrank überwunden hatte, der ihm den Weg versperrte.

»Nimm sie!«, kreischte Lizzie. »Warte nicht auf mich, lauf los!«

Dante stolperte zurück, als er Hollys Gewicht übernahm und ihre Knöchel umklammerte. Das Baby schwankte gefährlich; Kopf und Körper waren viel schwerer als die Beine.

Dante keuchte erschrocken auf, als Hollys Kopf an der verputzten Hauswand entlangstreifte. Holly brüllte und Dante versuchte verzweifelt, nicht hinzufallen, damit sie nicht auch noch mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Endlich gelang es ihm, sie fest an seine Brust zu pressen.

Inzwischen stand der Commander mitten im Schlafzimmer. Doch Lizzie konnte nicht springen, ehe Dante und Holly aus dem Weg waren, und noch bevor sie überhaupt eine Chance hatte, zerrte sie der Commander vom Fenster weg.

»Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für so ein süßes Ding wie dich«, lachte er dreckig.

Lizzie trat, spuckte und kämpfte mit den Ellbogen, ohne dem Unvermeidlichen entrinnen zu können. Das Letzte, was sie sah, war ihre eigene, an einem zerbrochenen Spiegel platt gedrückte Nase, als ihr der Commander die Pistole an den Hinterkopf setzte.

Der Schuss hallte hinaus in die Dunkelheit um das alte Farmhaus herum. Holly zappelte und schrie, als Dante mit ihr wegzulaufen versuchte. Der Wind war schneidend kalt auf seiner nackten Brust, und mit seinen Socken glitt er immer wieder im Schlamm aus.

Dennoch wagte er einen Blick zurück und sah, wie der Commander aus dem Schlafzimmerfenster zielte. Das Gelände war offen, aber es war dunkel und der Commander kein guter Schütze. Er gab zwei Schüsse ab. Der erste ging weit daneben, doch der zweite schoss so dicht über Dantes Kopf hinweg, dass er es pfeifen hörte, bevor die Kugel irgendwo zwischen Büschen und Blättern einschlug. Dann folgten keine weiteren Schüsse mehr und Dante begriff, dass der Commander keine Munition mehr hatte. Es war Felicitys Pistole, und selbst wenn es ein Reservemagazin gab, so hatte es der Commander nicht.

Dante erreichte das Ende des Gartens, duckte sich unter dem Lattenzaun hindurch und begann, über das Brachfeld einer Nachbarfarm zu laufen.

»Bitte, Holly«, flehte Dante und streichelte seiner strampelnden Schwester über den Kopf. »Du musst leise sein!«

Sie blutete. Entsetzt dachte er daran, dass seine Mutter ihn immer ermahnt hatte, niemals Hollys Kopf zu berühren oder gar zu stoßen, weil Babyköpfe so empfindlich seien. Hatte er ihr vielleicht einen Hirnschaden zugefügt, als sie die Wand gestreift hatte?

Auf dem matschigen Boden, ohne Schuhe und mit Holly im Arm kam Dante nur sehr langsam voran. Er wusste, dass er es nie schaffen würde, über die drei Felder bis zum Haus des Zwiebelfarmers Norman zu laufen – der Commander würde ihn locker einholen.

Von klein auf hatte Dante auf diesen Feldern gespielt und kannte jede Menge gute Verstecke, doch die nutzten ihm gar nichts, solange Holly aus Leibeskräften brüllte. Er spielte mit dem Gedanken, Holly hier zurückzulassen und Hilfe zu holen. Ein Baby war kein brauchbarer Zeuge, also gab es auch keinen Grund für den Commander, Holly umzubringen. Aber der Commander war wütend und brauchte vielleicht gar keinen Grund, oder vielleicht würde er Holly auch einfach als Geisel nehmen.

Am liebsten hätte sich Dante auf den Boden geworfen und geweint. Er hatte gesehen, wie seine Mutter, sein Vater, sein Bruder gestorben waren, er hatte gehört, wie seine Schwester gestorben war, vielleicht war der Tod auch für ihn die beste Lösung. Aber andererseits war er fest entschlossen, den Commander nicht gewinnen zu lassen.

»Scht«, schniefte er, blieb stehen und duckte sich hinter einen Busch, um Holly sanft zu wiegen, damit sie sich beruhigte. Im Mondlicht sah er, wie sein Atem sich in der Luft kräuselte und seine Socken im Matsch versanken.

Und dann hatte er plötzlich einen genialen Einfall. Er wischte seinen kleinen Finger an seinen Pyjamahosen ab, dort, wo sie am wenigsten verdreckt waren, und stecke ihn Holly sanft in den Mund. Holly bekam gerade Zähne und biss so fest zu, dass er normalerweise aufgeschrien hätte, aber er unterdrückte den Schrei und stellte erleichtert fest, dass Hollys Gebrüll in ein leises, zufriedenes Gurgeln überging. Sie zappelte auch nicht mehr so stark, sodass er sie besser halten konnte.

Dante sah, wie der Commander in den Garten kam, rasch mit einer Taschenlampe herumleuchtete und den Busch, hinter dem sich Dante versteckte, in einen Lichtkegel tauchte. Dann blieb der Commander stehen und zog ein Handy hervor.

»Nein, hier ist nicht Scotty«, meldete er sich. »Ich bin′s … Ich kann mein eigenes Handy nicht benutzen … Halt den Mund und hör zu. Hier bei Scotty ist eine Riesenschweinerei passiert. Du musst mit Benzin herkommen. Wir müssen alles niederbrennen … Keine Einzelheiten am Telefon, tu einfach, was ich sage! Ich muss diesen verfluchten Jungen finden, bevor er den Mund aufmachen kann. Hol das Benzin und komm so schnell wie möglich her!«

Während der Commander Scottys Handy in seiner Lederjacke verstaute, ratterten Dantes Gedanken. Eine Flucht über die Zwiebelfelder war unmöglich, der Lichtstrahl der Taschenlampe würde ihn sofort einfangen. Vielleicht schaffte er es unbemerkt bis zur Straße, aber in dieser Gegend hier waren die Straßen nachts menschenleer. Und mit Holly würde er auch nicht weit kommen. Wahrscheinlich würde er als Erstes demjenigen in die Arme laufen, mit dem der Commander gerade telefoniert hatte.

Er überlegte, ob er sich ins Haus zurückschleichen sollte, um die Polizei zu rufen, aber wenn er dabei gesehen wurde, saß er in der Falle. Außerdem hatte er gar keinen Schlüssel und konnte nur durch die Hintertür hinein – und genau da stand der Commander.

Dante hatte nur eine Chance: Er musste sich eines der Fahrräder schnappen. Sein eigenes BMX-Rad nutzte ihm allerdings nichts, denn damit konnte er nicht schnell fahren und gleichzeitig Holly festhalten. Doch an dem Fahrrad, mit dem Lizzie jeden Morgen zur Schule fuhr, war hinten eine große Tasche befestigt, in die sie ihren Rucksack und die Hockeysachen steckte.

Es war kein sehr guter Plan, aber der einzige, den Dante hatte. Er sah, wie der Commander am Ende des Gartens auf die Felder abbog, und nutzte die Bäume und Büsche als Deckung, um selbst zum Carport neben dem Haus zurückzulaufen.

Die Fahrräder lehnten an der Ziegelsteinmauer und daneben stand die schäbige alte Harley aufgebockt auf ihrem Ehrenplatz. Das Haus war immer noch hell erleuchtet, und in den nach draußen fallenden Lichtstrahlen konnte Dante zum ersten Mal seinen Aufzug begutachten. Er schauderte.

Seine Socken und die Beine seiner Pyjamahosen waren schlammverschmiert, der Rest seines Körpers war völlig verdreckt und der dunkle Urinfleck in seinem Schritt hatte sich ausgebreitet. Er stellte sich vor, was Jordan wohl sagen würde, wenn er sah, dass Dante sich vor Angst in die Hosen gemacht hatte – doch dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag: Sein Bruder würde nie wieder etwas zu ihm sagen.

Dante versuchte, den Gedanken abzuschütteln, und sah sich vorsichtig um. Er stand im Schutz des Hauses, und der Commander lief weiter über die Felder, doch wenn Holly wieder anfing zu heulen, würde er es immer noch hören können. Dummerweise brauchte Dante aber beide Hände, um Jordans Rennrad beiseitezuziehen und an Lizzies Fahrrad zu kommen.

Er duckte sich und hob Hollys Kopf vorsichtig von seiner Schulter. Normalerweise trug er sie höchstens von der Haustür zum Auto, und wenn er sie tatsächlich mal länger halten musste, war sie erstaunlich schwer.

»Gutes Mädchen«, flüsterte Dante, doch als er die Hand von Hollys Nacken nahm, sah er erschrocken das blutige Dreieck, das sich von dem Riss in ihrem Kopf auf ihrem Schlafanzug ausgebreitet hatte. Holly gab keinen Laut von sich, als er sie auf den Betonboden legte und seinen Finger aus ihrem Mund zog.

Das Baby blieb ruhig, hielt die Augen geschlossen, die Wangen schweißnass. Holly atmete, aber sie wirkte so steif und leblos, dass sie Dante an eine Plastikpuppe erinnerte.

»Es tut mir leid, dass ich dir den Kopf angeschlagen habe«, sagte Dante leise, während er Lizzies Fahrrad von den Wandhaken nahm und den Klettverschluss der Tasche aufriss.

Schnell warf er Lizzies Prüfungsbuch für Geschichte und ihren Biologieordner hinaus und legte stattdessen Holly vorsichtig hinein. Dann zog er den Klettverschluss wieder zu, aber so locker, dass sie noch Luft bekam.

Natürlich war Dante wesentlich kleiner als die sechzehnjährige Lizzie. Um aufzusteigen, musste er das Rad stark auf eine Seite neigen, und vom Sattel aus erreichten seine Füße nicht mehr den Boden. Doch nach einem etwas wackeligen Start fuhr er schließlich die Auffahrt entlang und blickte ein letztes Mal über die Schulter hinweg zurück.

Die Bäume an der Straße würden ihm Deckung geben, aber Dante hatte Angst, dass der, mit dem der Commander telefoniert hatte, die Auffahrt erreichen würde, bevor er selbst weg war. Als er endlich zur Straße kam, schaltete er die Fahrradlampe ein, sah sich nach rechts und links um und trat in die Pedale.