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Drei Stunden später verließ Ross Johnson sichtlich gestresst den Vernehmungsraum. Mit fünf langen Schritten stand er im Nebenzimmer, dem Büro von Chief Inspector Jane Lindsay, der uniformierten Beamtin, die für die Untersuchung der Morde verantwortlich war. Sie stand am Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus, auf den Parkplatz unter ihr, wo sich die Presse versammelt hatte.

»Die können da unten von mir aus die ganze Nacht warten«, seufzte sie. »Sie haben ein Statement bekommen, und das ist auch das einzige, das sie kriegen werden.«

Ross runzelte die Stirn, als er dem Blick der Beamtin folgte. Die meisten Journalisten lümmelten auf der niedrigen Mauer um den Parkplatz herum oder in den offenen Türen ihrer Wagen. Ein Gesicht kam ihm vage bekannt vor. Die BBC-Korrespondentin trug einen hochgeschlossenen schwarzen Mantel und sendete live für die 24-Stunden-Nachrichten, während der Korrespondent von Sky hinter ihrer Kamera stand und versuchte, sie mit anzüglichen Gesten aus dem Konzept zu bringen.

»Nun?«, fragte Chief Inspector Lindsay und sah Ross an. »Wie macht sich denn unser Starzeuge?«

»Dante steht unter Schock«, erklärte Ross. »Er zeigt alle Anzeichen einer hyperaktiven Reaktion. Einen Augenblick lang ist er völlig aufgekratzt, und im nächsten fängt er an zu weinen und ruft nach seiner Mum. Aber immerhin hat er sich lange genug zusammengerissen, dass wir eine ordentliche Zeugenaussage haben.«

»Glauben Sie, dass er vor Gericht einen brauchbaren Zeugen abgeben wird?«, fragte Lindsay.

»Er ist zwar erst acht, aber ich schätze schon«, nickte Ross. »Ich habe mich kurz mit seiner Lehrerin unterhalten. Sie sagt, Dante sei eines der intelligentesten Kinder in der Klasse. Er ist ein guter Allrounder, selbstbewusst und beliebt. Nur auf dem Spielplatz kann er gelegentlich ein wenig grob werden, aber sie sagt, dass sie einige Bikersöhne in der Schule haben, die alle so sind. Sie vergöttern ihre Väter, und deren Machogehabe färbt auf sie ab.«

»Wir haben einen brauchbaren Zeugen auch wirklich nötig«, sagte Lindsay. »Der Commander hatte eine halbe Stunde Zeit, um das Haus von Spuren zu säubern, bevor Dante uns anrief, und die Spurensicherung schätzt, dass er ganze Arbeit geleistet hat. Alle Leichen sind stark verbrannt, und was nicht verbrannt ist, wurde von der Feuerwehr bei den Löscharbeiten aufgeweicht.«

»Und wie sieht es abseits vom Tatort aus?«, fragte Ross. »Reifenspuren, Benzinkanister, Augenzeugen?«

»Bis jetzt noch nichts, aber wir geben die Hoffnung nicht auf«, antwortete Lindsay. »Ich habe schon früher Bandits-Fälle bearbeitet, und aus Erfahrung kann ich sagen, dass der Commander seine Kleidung und Schuhe wahrscheinlich verbrannt hat. Die Waffen haben sie mitgenommen und eingeschmolzen.«

»Hat man den Commander schon zur Befragung geholt?« , erkundigte sich Ross.

Lindsay schüttelte den Kopf.

»Wir haben schon damit gerechnet, dass er sich für ein paar Tage aus dem Staub machen würde, aber er scheint recht zuversichtlich zu sein. Wir haben an seine Tür geklopft, ihm ein paar Fragen gestellt und erklärt, dass wir sein Bike in Verbindung mit einer Morduntersuchung brauchen würden. Er hat den Beamten gesagt, sie sollen sich bedienen, aber dann haben sie das Motorrad in seiner Werkstatt in hundertsechzehn Einzelteilen gefunden und mit einem brandneuen Satz Reifen, der es unmöglich macht, die Reifenspuren zuzuordnen.«

»Mist«, sagte Ross kopfschüttelnd. »Was ist mit den anderen Bandits, von denen muss doch irgendjemand etwas wissen?«

»Die sprechen niemals mit Cops«, erklärte Lindsay.

Überrascht zog Ross eine Augenbraue hoch. »Aber in diesem Fall… Ich meine, schließlich sind zwei ihrer eigenen Leute tot. Eine Frau, zwei Kinder …«

»Vielleicht hat irgendjemand in der Gang damit tatsächlich ein Problem«, bestätigte Lindsay, »aber selbst wenn das so ist, dann werden sie das intern regeln, und wir erfahren erst davon, wenn eine weitere Leiche auftaucht. Wenn die Spurensicherung also nichts Spektakuläres findet oder wenn sich kein Augenzeuge mehr meldet, dann hängt dieser Fall davon ab, wie sich Dante als Zeuge macht. Ich kann nur hoffen, dass er keine Lügengeschichten erzählt.«

»Ich glaube, er sagt die Wahrheit«, meinte Ross. »Abgesehen von der Sache mit dem blutigen T-Shirt.«

»Was für einem T-Shirt?«

»Die Spurensicherung hat eines von Dantes T-Shirts in einem Busch beim Haus gefunden«, erklärte Ross. »Es war voller Blut. Ich habe den Jungen danach gefragt und er hat gesagt, dass sein Freund Joe Nasenbluten gehabt hätte, als sie gespielt haben.«

»Dann verfolgt man die Sache also?«, wollte Lindsay wissen.

Ross seufzte.

»Joe ist der jüngere Sohn des Commanders. Er ist so alt wie Dante und geht in dieselbe Klasse wie er. Aber so, wie das Blut über das T-Shirt verteilt ist, sieht es für mich nicht nach normalem Nasenbluten aus. Und als ich es Kate gegenüber erwähnt habe, hat sie gesagt, dass Dante getrocknetes Blut auf seinem Arm und unter den Fingernägeln hatte, als er herkam. Der Arzt, der ihn untersucht hat, hat Proben genommen und Fotos gemacht.«

»Verdammt!«, fluchte Lindsay.

Ross zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, er hat diesen Joe mit dem Ellbogen erwischt oder so und will es mir nicht sagen, weil er befürchtet, dass er Ärger bekommt, wenn er sich geprügelt hat.«

»Höchstwahrscheinlich«, nickte Lindsay. »Aber die Tatsache, dass er lügt, vermindert seine Glaubwürdigkeit als Zeuge.«

»Trotzdem«, entgegnete Ross, »hat Dante uns eine einstündige Zeugenaussage geliefert. Ich gehe nicht davon aus, dass irgendjemand glaubt, ein Achtjähriger wäre in der Lage, sich eine solche Geschichte derartig detailliert auszudenken.«

Lindsay hob die Schultern.

»Wollen wir′s hoffen.«

»Was machen wir jetzt mit Dante?«, fragte Ross. »Konnten Sie irgendwelche Verwandten ausfindig machen?«

Lindsay schüttelte den Kopf. »Scotty war das Ergebnis unseres Sozialsystems. Unbekannter Vater, Mutter verstorben. Es gibt einen Onkel, aber der sitzt in Wandsworth im Gefängnis und wird erst in zehn Jahren wieder als Babysitter zur Verfügung stehen. Auf Seiten von Carol Scott gibt es eine Großmutter, aber die lebt in einer psychiatrischen Anstalt, ansonsten keine Tanten und Onkel.«

»Mist«, sagte Ross.

Lindsay zuckte mit den Schultern.

»Ein gesunder Junge mit einer herzzerreißenden Geschichte und einer süßen kleinen Schwester. Bei der Adoption wird man sich um sie reißen. Ich weiß, es ist traurig, aber auf lange Sicht gesehen ist es wohl besser, wenn sie nicht von solchem Bikerabschaum großgezogen werden.«

Ross nickte. »Aber ich dachte eigentlich mehr an heute Nacht. Dante ist der einzige Zeuge. Der Commander wird seinen Tod wollen. Wir können einen Achtjährigen nicht im Polizeirevier wohnen lassen, also müssen wir irgendeinen sicheren Ort für ihn finden.«

»Könnten Sie das nicht übernehmen?«, fragte Lindsay. »Vielleicht könnten Sie ihn für ein paar Tage unter Ihre Fittiche nehmen, bis wir ein geeignetes Heim gefunden haben. Wir suchen Ihnen ein schönes Hotelzimmer.«

»Klingt vernünftig«, fand Ross. »Ich komme aus London, also brauche ich sowieso ein Hotel. Allerdings sollte es mindestens eine Fahrstunde von Salcombe entfernt sein. Außerdem benötige ich etwas Geld zum Einkaufen. Er hat nichts außer den Sachen, die er gerade trägt.«

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Jedes Mal, wenn Dante aufwachte, hoffte er, dass alles nur ein Traum gewesen war. Er wollte wieder in seinem eigenen Bett liegen, Jordans Teenagergeruch schnuppern und ihrer beiden Sachen auf dem Boden herumliegen sehen. Doch auch an diesem dritten Morgen erwachte er in einem riesigen Bett im Bristol Park Hotel, nachdem er in der Nacht nur mithilfe von Medikamenten geschlafen hatte.

Nichts konnte den Verlust seiner Familie wiedergutmachen, aber das schicke Hotel bot wenigstens ein paar Ablenkungen: Zimmerservice, Minibar, Filme auf Bestellung und das Beste – ein Swimmingpool am Ende des Flurs.

Dantes Familie war nicht reich gewesen. Er hatte noch nie in einem Hotel gewohnt und immer nur die abgetragenen Sachen von Jordan angezogen. Es freute ihn, jeden Morgen Klebeetiketten und Schilder von neuen Boxershorts und Socken zu entfernen. Die Polizei von Devon hatte außerdem genügend Geld für einen neuen Adidas-Trainingsanzug, zwei gute Jeans, ein paar warme Pullover, einen Camouflage-Mantel und ein Paar blaue Skaterschuhe lockergemacht, die so ziemlich das coolste waren, was er je an den Füßen gehabt hatte.

Ross schlief bei stets offener Tür im Nebenzimmer. Dante ging hinüber und sah, dass auf dem Fernseher GMTV fast ohne Ton lief. Ross selbst war im Bad und rasierte sich.

»Guten Morgen«, begrüßte er Dante, als er ihn im Spiegel erblickte. »Hast du gut geschlafen?«

Dante lächelte ein wenig.

»Diese Pillen sind so, wie wenn man auf einen magischen Knopf drückt. Man nimmt eine und – PENG! – schläft man tief und fest.«

»Wahrscheinlich sollte ich die Dosis verringern. Du fühlst dich nicht erschöpft? Keine Kopfschmerzen?«

»Nichts«, verneinte Dante und warf einen Blick auf Ross′ Laptop auf dem Schreibtisch. »Sagen sie etwas über uns in den Nachrichten?«

Ross wischte sich das Gesicht an einem Handtuch ab und kam in Boxershorts und Hemd ins Zimmer.

»Ich bin zwar erst seit zehn Minuten wach, aber den Journalisten scheint die Luft auszugehen.«

Dante war enttäuscht. Schon nach drei Tagen war die Geschichte aus den Nachrichten verschwunden, obwohl sie für ihn das Wichtigste war, was je geschehen würde, und wenn er hundert Jahre alt werden sollte.

»Du wirkst heute Morgen recht ausgeglichen«, fand Ross. »Du weißt ja, dass du deine Gefühle nicht vor mir zu verstecken brauchst, nicht wahr? Ich bin hier, um dir zu helfen.«

»Ich weiß«, antwortete Dante, ließ sich auf Ross′ ungemachtes Bett fallen und starrte die Stuckrosette an der Decke an. »Ich werde immer noch ganz traurig, wenn ich zu sehr an alles denke.«

»Hast du das Gefühl, dass es trotzdem irgendwie weitergeht?«, fragte Ross.

Dante schüttelte den Kopf. »Es ist komisch, weil alles so anders ist. Am Montag habe ich dich noch gar nicht gekannt, und jetzt scheinst du mein einziger Freund auf der Welt zu sein.«

Ross fühlte sich geschmeichelt und musste unwillkürlich lächeln. »Nur noch für ein paar Tage, bis wir eine Pflegefamilie für dich gefunden haben, Dante.«

»Also«, meinte Dante nachdenklich, »hat es schon viele Jungs und Mädchen wie mich gegeben, um die du dich gekümmert hast, wenn ihnen was Schreckliches passiert ist?«

»Ich habe mich schon in ganz England mit Kindern unterhalten und mich um sie gekümmert. Ich helfe den Zeugen bis zu ihrer Aussage vor Gericht, und wenn sie mich brauchen, auch noch danach«, erklärte Ross. »Aber die meisten Kinder in deiner Lage haben Großeltern, eine Tante, einen älteren Cousin oder irgendjemanden, bei dem sie wohnen können. Das ist erst das dritte Mal, dass ich mit einem Kind in einem Hotel wohne.«

Dante lächelte.

»Dann bin ich also etwas Besonderes?«

Ross lachte und sah auf die Uhr am Fernseher.

»Genauso etwas Besonderes wie jedes andere Kind, mit dem ich gearbeitet habe. Also, wenn ich unser Frühstück auf neun oder viertel nach neun bestelle, dann haben wir noch eine halbe Stunde Zeit für einen Sprung in den Pool. Wie findest du das?«

»Meine Badehose hängt am Handtuchhaken zum Trocknen. Ich ziehe sie gleich an!«

Dantes Badeshorts waren noch feucht vom Vorabend, und er schauderte beim Anziehen. Als er in Ross′ Zimmer zurückkam, bestellte Ross gerade telefonisch ihr Frühstück und Dante erstarrte. Auf dem Fernsehbildschirm war das Gesicht des Commanders zu sehen. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto, und der Mann darauf sah viel jünger aus als der, den Dante kannte.

Er nahm die Fernbedienung von Ross′ Kopfkissen und stellte den Ton lauter.

»Laut Polizeiaussage soll der vierundfünfzigjährige Ralph Donnington heute vor Gericht erscheinen. Donnington, der Präsident der South-Devon-Bandits, besser bekannt als der Commander, wurde heute früh verhaftet. Er wird im Zusammenhang mit dem Mord befragt werden, der in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag an vier Mitgliedern der Familie Scott auf einer Farm in der Nähe von Salcombe begangen wurde.«

Seit der Mordnacht hatte Dante das Gesicht des Commanders nicht mehr gesehen, und der Anblick erschreckte ihn.

Ross legte schnell das Telefon weg und trat zu Dante.

»Alles okay?«, fragte er.

»Super«, log Dante, als ihm Ross beruhigend die Hand auf die Schulter legte. »Wie lange wird das alles dauern?«

»Sechs Monate«, antwortete Ross, »aber es kann sich auch noch viel länger hinziehen.«

»Das ist ja ewig«, fand Dante.

»Ich fürchte, die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen ziemlich langsam.«

»Gestern hast du meine Schlaftabletten offen liegen lassen«, erzählte Dante nach kurzem Schweigen. »Ich habe überlegt, ob ich sie alle nehmen soll, damit ich tot bin wie Jordan und Lizzie. Aber wenn ich jetzt sterbe, dann kommt der Commander mit allem davon!«

»So ist es«, bestätigte Ross und wechselte dann das Thema, um Dantes Gefühle nicht überzustrapazieren. »Aber wenn wir pünktlich zum Frühstück wieder zurück sein wollen, dann sollten wir jetzt gleich zum Pool aufbrechen.«