Zweieinhalb Monate später
Dante und Holly waren bei Pflegeeltern in Guildford untergekommen, dreihundert Kilometer von den South-Devon-Bandits entfernt. Donald und Lisa Graves waren Vollzeit-Pflegeeltern. Im Laufe von dreißig Jahren hatten sie über hundert Kinder betreut, seit Neuestem in einem großen Einfamilienhaus, in dem acht Pflegekinder gleichzeitig wohnen konnten. Manche von ihnen blieben nur ein paar Tage, andere Monate oder Jahre.
Dantes Zimmer lag im ersten Stock, und jeden Morgen aufs Neue wurde er von Holly überfallen. Er lachte, wenn ihre kleinen Hände mit dem Türgriff kämpften, versteckte sich unter der Bettdecke und tat, als ob er schliefe, wenn sie ins Zimmer stürmte und ihm die Decke wegzog.
»Ich will schlafen«, kicherte Dante, als sie auf seine Matratze kletterte und ihm mit einem klebrigen Händchen auf den Bauch schlug. Da sie Dante noch nicht richtig aussprechen konnte, sagte sie Ant zu ihm.
»Ant! Ant!«
Dante verbarg das Gesicht unter dem Kissen. Holly quietschte vergnügt und krabbelte neben ihn, bis sie Nase an Nase mit ihrem Bruder lag.
»Auf!«, verlangte Holly und stieß mit den Fingern nach Dantes Gesicht.
Sie hatte noch keinerlei Gefühl für Gefahr, daher schoss Dante schnell hoch, bevor sie ihm einen Finger ins Auge rammen konnte.
»Du verrücktes Baby!«, lachte Dante, küsste sie kurz und sah sich dann in seinem Zimmer um. Durch die dünnen Vorhänge fiel etwas Licht herein.
Das Bett über ihm war noch unbesetzt, und auf dem Fußboden lagen seine Schuluniform und sein Rucksack herum. Normalerweise spielte Dante länger mit Holly, aber jetzt stand der elektrische Rollstuhl des dreizehnjährigen Carl in der Tür. Carl litt an einer schweren cerebralen Lähmung und wohnte schon bei Donald und Linda, seit er ein Kleinkind gewesen war. Heftige Krämpfe zuckten durch seine Hände und sein Gesicht, als er den Rollstuhl mit einem Steuerhebel in den Raum hineinbewegte.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte Carl und hielt Dante ein Geschenk hin. Hinter ihm betrat Linda das Zimmer.
Linda war klein und mollig und trug eine dicke Brille. Ihr dauergewelltes Haar wurde langsam grau und ihre verblichene Kleidung schien weit mehr Wäschen hinter sich zu haben, als ihrem Aussehen guttat.
Dante setzte sich lächelnd auf die Bettkante und betrachtete die verknitterte Taschentuchverpackung um Carls Geschenk. Der Tesafilm klebte schief darauf, aber Dante wusste, dass eine im Grunde einfache Aufgabe, wie das Einwickeln eines Geschenkes, für Carl mit erheblicher Anstrengung verbunden war.
»Cool, vielen Dank!«, rief Dante und riss die Papiertaschentücher weg, unter denen ein Reiseschachspiel zum Vorschein kam. Die Figuren steckten in einem Schaumstoff unter dem Brett, das man zu einer Schachtel zusammenklappen konnte.
»Da sind Stifte dran«, erklärte Carl. »Dann kann ich die Figuren nicht umstoßen, wenn wir spielen.«
Dante hatte noch nie Schach gespielt, bevor Carl es ihm beigebracht hatte.
»Nach der Schule spielen wir«, versprach Dante. »Und eines Tages werde ich dich schlagen.«
Carl zeigte ein breites Grinsen. »Davon träumst du nur!«
Linda stellte eine Woolworth-Tüte auf den Rand des Bettes.
»Nur ein paar Haribos und ein paar Extra-Hemden«, erklärte sie. »Aber lass ja nicht das Baby an die Plastiktüte!«
Als hätte sie es verstanden, steckte Holly ihre Hand in die Tüte und zog ein Hochglanzjahrbuch des WWE hervor. Es war die Ausgabe des letzten Jahres, heruntergesetzt auf 99 Pence.
»Das ist doch das Wrestling-Buch, das du dir gewünscht hast, nicht wahr?«, fragte Linda.
Dante nickte begeistert.
»Das hatte ich, bevor unser Haus abgebrannt ist. Da drin steht jede Menge über Bill Goldberg.«
»Wrestling ist doof«, fand Carl. »Das ist doch alles nur Fake.«
»Red keinen Blödsinn«, fuhr Dante ihn an. »Diese Kerle sind so stark, dass sie dich mit einer Hand aus deinem Stuhl reißen und an die Wand werfen könnten!«
»Aber im Schach würde ich sie alle schlagen«, lächelte Carl. Holly schlug das Buch auf und probierte es als Hut aus.
In der Zwischenzeit hatte Linda schmutziggraue Socken, Unterhosen und ein tintenbeflecktes Schulhemd vom Boden aufgehoben.
»Ab unter die Dusche, und zieh dir heute frische Schulsachen an!«, befahl sie streng. »Was sollen denn die Leute von mir denken, wenn ich dich voller Dreck und Tinte in die Schule gehen lasse!«
Dante lächelte. Er mochte es, wenn Linda sich über Kleinigkeiten wie einen losen Schnürsenkel oder einen Kratzer in seinem Gesicht aufregte. Aber manchmal wurde er auch traurig, weil sie genau die gleichen Ausdrücke benutzte wie seine Mutter.
Auch Holly war noch im Schlafanzug, wie Dante feststellte.
»Willst du mit Dante unter die Dusche kommen?«, fragte er und breitete die Arme aus.
Holly machte im Bad immer ein furchtbares Theater, außer sie durfte zusammen mit Dante duschen. Aber Linda sah auf die Uhr.
»Ich werde der kleinen Miss nachher im Waschbecken ein Bad bereiten, wenn ihr anderen in der Schule seid«, erklärte sie. »Sonst kommt ihr wieder zu spät!«
Dante war das egal, aber Holly wusste gleich, was es geschlagen hatte, und verzog grimmig das Gesicht, als Dante sein Handtuch vom Türhaken nahm und über den Gang ins Bad verschwand.
»Iiiich!«, jaulte sie.
Sie wollte schon zu toben anfangen, als sie hörte, wie die hydraulische Plattform von Carls Rollstuhllift an der Treppe surrte.
»Alle Mann an Bord!«, rief Carl, rollte den Stuhl auf die Plattform und schloss den Riegel. Holly wetzte los und Carl hob sie auf seinen Schoß. Zufrieden fuhr sie mit ihm zusammen nach unten.
Dante duschte, bis Linda an die Tür klopfte und ihn zur Eile antrieb, weil sie ihm sein Lieblingsfrühstück aus Rührei mit Schinken und Kartoffeln gemacht hatte. Dante warf sich in seine Unterhose und kämmte sich rasch, dann raste er über den Flur und stellte erstaunt fest, dass Linda sein Bett gemacht und saubere Schulkleidung zurechtgelegt hatte. Nach der Schule ging er noch zum Fußballtraining, deshalb hatte sie ihm auch die Sportschuhe bereitgestellt und seine Wasserflasche und die Schienbeinschoner in den Rucksack gesteckt.
Dante sang Happy Birthday to me vor sich hin, während er schwarze Trainingshosen und ein rotes Schulhemd anzog, dann schnappte er sich den Rucksack und lief nach unten. Plötzlich hielt er erschrocken die Luft an – durchs Fenster sah er einen Mann in Lederjacke auf einem riesigen Harley Touring Bike die Einfahrt heraufkommen. Dante konnte ihn nicht erkennen, aber das Abzeichen auf seinem Helm war unverkennbar das der Bandits.
Es klingelte an der Tür. Dante raste in die Küche und schrie: »Ruft die Polizei! Lasst ihn nicht rein!«
Doch die zwölfjährige Abby hatte im Flur direkt neben der Haustür gestanden und sie bereits geöffnet.
»Guten Morgen«, grüßte der Biker. Linda kam hektisch aus der Küche gelaufen, um ihm den Weg zu versperren.
Die Treppe führte direkt in die große Wohnküche, die Donald, Linda und acht Kindern genügend Platz bot. Dante sah erst in die eine Richtung zu Holly in ihrem Kinderstuhl und dann in die andere und überlegte, ob er sich ein Messer aus der Küchenschublade greifen sollte. Doch dann zog er sich lieber wieder auf die Treppe zurück und griff nach seinem Handy.
Als geschützter Zeuge musste Dante sein Handy stets bei sich tragen. Donald sorgte dafür, dass es jede Nacht aufgeladen wurde, und Dante hatte sogar die Sondererlaubnis, es in die Schule mitzunehmen. Es war so eingestellt, dass ein Notruf bei der örtlichen Polizeidienststelle einging, sobald er die Null-Taste drei Sekunden lang gedrückt hielt.
Während Dante die Taste drückte, hörte er, wie Linda dem Biker wütend befahl, sich verdammt noch mal vom Acker zu machen. Der Typ hatte einen holländischen Akzent, der Dante irgendwie bekannt vorkam.
»Was ist denn los?«, fragte der elfjährige Ed und sah die Treppe hinauf. »Warum versteckst du dich, Dante? Der Kerl hat ein Geburtstagsgeschenk für dich.«
Dante antwortete nicht, weil in diesem Moment die Polizei seinen Anruf entgegennahm. Seine Nummer war bekannt, und er erklärte schnell die Situation.
»Bleib außer Sichtweite«, befahl ihm eine weibliche Beamtin. »Wir schicken sofort einen Wagen hin, er müsste in fünf bis zehn Minuten da sein.«
Dante überlegte, ob er flüchten sollte, aber der Biker stand im Eingang, und der Garten hatte einen hohen Zaun, der extra dafür gebaut worden war, dass die Kinder drinnen blieben. Er schlich sich wieder in die Küche und gesellte sich zu Abby, Ed und zwei anderen Kindern, die von der Küchentür aus die Szene im Gang beobachteten.
Der Holländer war jetzt ein paar Schritte hereingekommen und versuchte, Linda zu beruhigen. Er sah wie ein typischer Biker aus: Stiefel, Jeans, angegrauter Bart und verspiegelte Sonnenbrille.
»Ich weiß, dass der Junge Geburtstag hat«, erklärte er. »Wir sind doch keine Tiere. Ich schäme mich für das, was Scotty und seiner Familie passiert ist.«
Dante spähte zwischen den anderen Kindern hervor, und da erkannte er den Biker. Er hieß Doods, was auf Holländisch so viel wie Tod heißt. Dante hatte ihn einmal auf einem Sommerfest in England getroffen und einmal in Deutschland, während der großen jährlichen Europatour der Bandits. Scotty hatte jedes Mal eine große Show daraus gemacht, ihn kräftig zu umarmen.
»Ich hab ein Geschenk für den Jungen«, erklärte Doods. »Bitte haben Sie keine Angst, Ma′am. Scotty war wie ein Bruder. Wir sind nicht alle einverstanden mit dem, was dem Jungen und seiner Familie angetan wurde. Ich wollte ihm nur zum Geburtstag gratulieren. Ich will Sie nicht weiter aufregen. Nehmen Sie das Geschenk, dann gehe ich.«
Linda klang besorgt. Dantes Aufenthaltsort sollte eigentlich geheim sein. Dafür war er dreihundert Kilometer weit gereist und hatte in der neuen Schule sogar einen anderen Nachnamen angenommen, damit ihn die Leute nicht aus den Nachrichten erkannten.
»Dante, geh zurück«, knurrte sie, als er sich zwischen den anderen Kindern in den Flur schob.
Aber Dante war jetzt ruhiger. In seinem kurzen Leben hatte er schon jede Menge Kämpfe beobachtet. Doods war auf jeden Fall stark genug, um Linda aus dem Weg zu stoßen, und wenn er das gewollt hätte, hätte er es bestimmt schon längst getan.
»Junge«, sagte Doods und hielt Dante eine große Tüte von Toys R Us hin. »Ich wünsche dir einen schönen Geburtstag. Du warst wahrscheinlich noch zu klein, um dich daran zu erinnern, aber vor ein paar Jahren bin ich in der Schweiz mal aus einer Kurve geflogen. Dein Dad hat mich aus den Leitplanken gezogen, mich wiederbelebt und mir einen Druckverband ums Bein gelegt, um die Blutung zu stoppen. Ich schulde deinem Vater etwas, Dante. Das ist der einzige Grund, warum ich hergekommen bin.«
Doods stellte die Tüte ab und zog sich zur Tür zurück.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«, fragte Dante, der in der Ferne die Polizeisirenen hörte.
»Das hat der Commander irgendwie herausbekommen«, meinte Doods achselzuckend. »Sie wissen auf jeden Fall, dass du hier bist. Sie haben versucht, einen Bandit aus Mexico City anzuheuern, der dich umbringen soll. Du bist hier nicht länger sicher. Und ich verschwinde lieber, bevor ich Ärger mit den Bullen kriege.«
Doods ließ die Tüte stehen und lief zu seiner Harley zurück. Nur Sekunden bevor ein Polizeiwagen um die Ecke bog, verschwand er in die andere Richtung. Linda rannte auf die Straße und wedelte mit den Armen, um die Aufmerksamkeit der Polizisten zu erringen, während Dante vorsichtig in die Tüte schaute.
Das Geschenk war nicht verpackt: zwei ferngesteuerte Geländewagen, zwei Hummer, auf deren Schachtel eine riesige Tafel Milchschokolade und eine Geburtstagskarte klebten.
»Coole Sache«, fand Ed. »Lad sie auf, bevor wir in die Schule gehen, dann können wir im Garten ein Rennen machen, wenn wir nach Hause kommen.«