Sobald Vanessa die Tür wieder geschlossen hatte, ließ sie sich auf ihren Schreibtischsessel fallen und vergrub den Kopf in den Händen. Ross starrte sie enttäuscht an.
»Wie schlimm ist es, auf einer Skala von eins bis zehn?«, fragte er leise, weil er wusste, dass Dante vor der Tür saß.
»Sieben oder acht«, entgegnete Vanessa. »Ich hatte gehofft, dass Dantes Erklärung für seine Lüge etwas anderes beinhalten würde als die Tatsache, dass er ausgerechnet mit dem Sohn jenes Mannes in eine blutige Schlägerei geraten ist, den er beschuldigt, ein paar Stunden später seine Eltern ermordet zu haben. Und Dantes Schulzeugnisse sind auch nicht gerade überragend. Er hat sich häufig geprügelt, und er soll andere schikaniert haben.«
»Aber er ist kein brutaler Schläger«, wandte Ross ein.
»Ich weiß, aber die Anwälte des Commanders werden versuchen, Dante als gewalttätiges, verhaltensgestörtes Kind darzustellen, stark traumatisiert von dem, was er gesehen hat. Er war erst acht Jahre, es war mitten in der Nacht, er war müde, und noch dazu haben sie den Beweis, dass er gelogen hat.«
»Was ist mit dem versuchten Bombenattentat? Hilft uns das?«
»Der Richter wird jede Erwähnung der Bombendrohung abweisen, wenn wir keine klaren Beweise dafür liefern, dass die Bombe mit dem Commander in Verbindung steht.«
»Aber er ist ein kluger Junge«, sagte Ross. »Er wird sich im Zeugenstand gut machen, und es gibt jede Menge Beweise, dass Dantes Beschreibung von dem, was passiert ist, mit den Einschlaglöchern der Kugeln und den Leichen im Haus übereinstimmt.«
»Das weiß ich«, nickte Vanessa. »Und niemand wird leugnen, dass er das alles gesehen hat. Aber es werden weitere Zeugen auftreten, einschließlich der Söhne des Commanders und anderer Bandits, die ihm ein Alibi geben werden. Ein Experte wird erklären, wie ein Achtjähriger, der mit ansieht, wie seine Familie erschossen wird, so traumatisiert sein kann, dass er falsche Schlüsse zieht und Dinge bemerkt, die gar nicht da sind.«
»Also werden Sie den Commander nicht verhaften und anklagen?«, fragte Ross.
Vanessa schüttelte müde den Kopf.
»Ich würde es tun, wenn ich außer Dantes Aussage noch einen weiteren Beweis hätte. Nur einen einzigen handfesten Beweis. Eine Waffe, die zu den Kugeln im Haus passt. Einen der Motorradstiefel des Commanders. Rückstände des Schießpulvers. Aber die Bandits hatten mindestens eine halbe Stunde Zeit, um am Tatort aufzuräumen, und das haben sie verdammt gründlich gemacht.«
Ross seufzte. »Dann bleibt der Commander also ein freier Mann?«
»Fürs Erste ja«, antwortete Vanessa. »Es ist zwar nicht so, dass die Polizei ihre Nachforschungen bei einem fünffachen Mord nach weniger als drei Monaten einstellt. Aber wir brauchen einen wirklichen Durchbruch, und je länger die Untersuchung andauert, desto unwahrscheinlicher wird das.«
»Gibt es noch irgendetwas von forensischer Seite, was man tun kann?«
»Nein. Das Einzige, was uns in diesem Fall helfen würde, wäre ein weiterer Zeuge. Vielleicht verhaften wir wegen einer anderen Sache einen Bandit, der weiter unten in der Befehlskette steht, und bieten ihm einen Deal an, wenn er uns Informationen zu dem Mordfall liefert. Oder vielleicht kommt eines Tages irgendjemand mit einer Waffe oder einem Kleidungsfetzen zur Polizei, die nicht richtig verbrannt sind. Man kann nie wissen.«
»Der arme Dante«, seufzte Ross. »Er ist so ein toller Junge. Der Commander muss hinter Gitter, damit er ein neues Leben beginnen kann.«
Vanessa bat Dante und Ross, noch ein paar Stunden zu bleiben, für den Fall, dass sie ihnen nach dem Meeting mit ihren Bossen bei der Staatanwaltschaft und den Beamten, die für die polizeiliche Untersuchung zuständig waren, noch weitere Fragen stellen musste.
Doch es gab keine Fragen mehr.
Allerdings war es nach Aufnahme der neuen Zeugenaussage und dem Ende des Meetings fast sechs Uhr abends, und Ross hatte keine Lust mehr, die lange Strecke bis nach London zurückzufahren. Also nahmen sich Ross, Dante, Steve und Jennifer ein Zimmer in einem unauffälligen Hotel an der Autobahnzufahrt. Dante teilte sich das Zimmer mit Ross. Da sie sich wieder in Devon aufhielten, musste er sicherheitshalber durch einen Nebeneingang ins Hotel geschmuggelt werden, und als der Zimmerservice ihr Essen brachte, versteckte Ross ihn im Badezimmer.
Das Zimmer hatte zwei Doppelbetten, aber Dante legte sich neben Ross aufs Bett, aß scharfes Hühnchen mit Reis, trank Pepsi aus einer Glasflasche und teilte sich mit Ross eine Portion Chips aus einer Schüssel zwischen ihnen. Steve, der Leibwächter, machte in seinem eigenen Zimmer ein Nickerchen, während Jennifer sich zu ihnen gesellte und an einem kleinen Schreibtisch ihnen gegenüber ihre Lasagne verspeiste.
»Nun, Dante, wie fühlst du dich?«, fragte sie.
Dante war gerne mit Ross zusammen. Jennifer dagegen mochte er überhaupt nicht, und er verstand immer noch nicht, warum sie überhaupt so plötzlich aufgetaucht war.
»Ich hab keine Lust, Ihnen das zu erzählen«, erklärte er böse. »Es haben schon genügend Leute ihre Finger im Spiel.«
Ross sah Dante warnend an, aber Jennifer lachte nur.
»Das ist nicht ganz fair, nicht wahr?«, fragte sie.
Dante rollte die Augen. »Kann ich denn nicht mal in Ruhe essen?«
»Jennifer ist hier, um dir zu helfen, Dante«, erklärte Ross. »Sie versucht doch nur, dich etwas besser kennenzulernen.«
»Na toll«, fauchte Dante. »Wenn ich in der ganzen letzten Zeit eine Sache gelernt habe, dann, dass das Leben nicht fair ist. Der Commander bringt meine Mum, meinen Dad, meinen Bruder und meine Schwester um. Dann versucht er, mich mit einer Bombe in die Luft zu jagen. Und damit kommt er auch noch durch, weil mir in der Jury offensichtlich niemand glaubt, nur weil ich über ein blutiges T-Shirt eine dumme Lüge erzählt habe.«
»Niemand hat gesagt, dass er damit durchkommt«, berichtigte Ross. »Die Staatsanwaltschaft braucht nur noch mehr Beweise.«
»Bla, bla, bla«, erwiderte Dante und knallte seinen Teller auf den Nachttisch. »Ich hätte gar nie mit der Polizei reden sollen. Die Bandits unternehmen wenigstens was, anstatt zu Meetings zu gehen und auf Beweise zu warten und all so einen Mist.«
»Ich verstehe sehr gut, dass du dich aufregst«, bemerkte Jennifer.
»Ihr seid doch alle nutzlos!«, schrie Dante. »Wenn ich alt genug bin, besorge ich mir eine abgesägte Schrotflinte und ein Motorrad. Und dann fahre ich zum Haus des Commanders und schieße ihm in die Beine, hänge ihn an einem Haken auf und sehe zu, wie er langsam verblutet!«
Dante spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, und das ärgerte ihn noch mehr. Vor einer knappen Minute hatte er noch gemütlich mit Ross zu Abend gegessen, und jetzt war er so was von außer sich.
»Alles wird besser werden«, versprach Jennifer.
»Blödsinn!«, tobte Dante. »Ich hab′s so satt, dass alle ständig auf mir herumhacken. Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!«
Plötzlich schleuderte er seinen Teller in Jennifers Richtung und begann zu schluchzen. Der Teller verfehlte die Psychologin nur knapp, nicht jedoch der Reis-und-Hühnchen-Regen, der auf den Schreibtischstuhl und den Teppich niederging.
»Und ich bin selber so nutzlos, dass ich nicht mal mehr eine alte Oma mit einem Teller treffe!«, brüllte Dante, stampfte wutentbrannt durch das Zimmer, knallte die Badezimmertür hinter sich zu und schloss sich ein.
Als er sein gerötetes Gesicht im Spiegel sah, holte er aus und verpasste der Kloschüssel einen Tritt. Dann warf er Ross′ Waschbeutel an die Wand, nahm den kleinen Mülleimer und schmetterte ihn auf die Milchglasscheibe der Tür. Doch anstatt hindurchzufliegen, wie er gehofft hatte, prallte der Mülleimer ab und traf ihn am Kopf.
»Auuuu!«, schrie Dante und fiel auf die Knie, während Ross an die Tür hämmerte.
»Mach auf!«, verlangte Ross. »Du regst dich nur noch mehr auf. Und das hilft dir auch nicht weiter, oder?«
»Verschwinde!«, schrie Dante und trat gegen die Tür. Dann stolperte er zurück und setzte sich auf den Klodeckel.
Plötzlich erschien zwischen Tür und Riegel die Klinge eines Taschenmessers. Dante sprang vor, als er merkte, dass sich der Riegel bewegte, und prallte im nächsten Moment überrascht zurück. Er hatte Ross erwartet, doch stattdessen stand Jennifers schlanke Gestalt in der Tür.
Besinnungslos vor Zorn wollte Dante seinen Kopf in ihren Bauch rammen, doch dann wurde er plötzlich herumgewirbelt. Jennifer drehte Dante den Arm auf den Rücken und hielt ihn mit einem unangenehm festen Griff umklammert, zog ihn aus dem Badezimmer und ließ ihn quer aufs Bett fallen.
»Beruhige dich«, mahnte Jennifer. »Ich lasse dich los, wenn du dich nicht mehr wehrst.«
Dante schluchzte hysterisch, als Ross zu ihnen kam.
»Halten Sie ihn ruhig«, verlangte Jennifer. »Ich hole meine Tasche.«
Ross setzte sich neben Dante aufs Bett, streichelte ihm den Rücken und versuchte, ihn zu beruhigen, während Jennifer in den Gang lief. Einen Augenblick später war sie mit ihrer Handtasche zurück.
»Wie kann es sein, dass der Commander damit durchkommt?« , schluchzte Dante. »Er hat meine ganze Familie umgebracht! Es muss doch noch mehr Beweise geben!«
Ross, dem Dante ans Herz gewachsen war, beobachtete mit feuchten Augen, wie Jennifer ihre Tasche durchsuchte.
»Dante, mein Junge«, sagte sie schließlich und zog die Kappe von einer sterilen Spritze. »Jetzt halt mal bitte zwei Sekunden still.«
Dante blickte über die Schulter zurück und sah, wie eine fünf Zentimeter lange Nadel im Licht aufblitzte.
»Nein!«, schrie er.
»Halten Sie ihn still, Ross«, befahl Jennifer, zog Dantes Hosen ein paar Zentimeter herunter und tupfte die Haut seiner linken Pobacke mit einem Desinfektionsschwämmchen ab.
»Er darf nicht damit durchkommen!«, brüllte Dante. »Lasst mich in Ruhe! Was macht ihr denn da?!«
Ross drückte Dante fest gegen das Bett, damit er sich nicht mehr bewegen konnte, als die Nadel in seinen Po stieß. Jennifer zog einen Blutstropfen in die Spritze und verabreichte ihm dann ein Beruhigungsmittel.
Nach wenigen Sekunden entspannte sich Dante, und vor seinen Augen verschwamm alles. Nach zwanzig Sekunden hatte er zu schluchzen aufgehört, sein Atem ging wieder normal und er war in einen tiefen Schlaf gesunken.
Jennifer wischte sich erschöpft mit dem Handrücken über die Stirn und meinte: »So viel dazu zu warten, bis er eingeschlafen ist.«
Ross rollte Dante auf den Rücken und betrachtete traurig das tränenüberströmte Gesicht des Jungen.
»Ich habe ihn sehr gerne, Jennifer«, sagte er leise. »Ich kann immer noch nicht glauben, was Sie mir erzählt haben.«
Jennifer lächelte.
»Das wird Dante auch nicht, wenn er morgen früh wieder aufwacht.«