Nach ihrer Tour über den Campus brachte Zara ihre beiden Schützlinge zu einem späten Frühstück in den Speisesaal. Der Raum bot genug Platz für dreihundert Leute, die an den Tischen mit Ahornplatte sitzen konnten. Da die Agenten und das Personal zu unregelmäßigen Zeiten aßen, war es möglich, zu jeder Tages- und Nachtzeit frisch zubereitetes Essen zu bestellen.
Nach der Fahrt in dem offenen Golfbuggy wärmten sich Lauren und Zara mit Suppe und frisch gebackenem Brot auf, während Dante sich ein Baguette mit heißem Truthahn und Schinken bestellte, das er aufklappte und in drei Päckchen Ketchup ertränkte.
Dante war mehr als bereit, CHERUB beizutreten. Lauren zögerte noch.
»Training und Kämpfen im Schlamm«, sagte sie misstrauisch, während sie ein Stück von dem warmen Brot abriss. »Ich weiß nicht, ich stehe zwar nicht auf Röckchen und Glitzer, aber dieses Training sah echt heftig aus.«
»Das stimmt«, gab Dante zu, »aber wenn dein Bruder die Grundausbildung überstanden hat, ist er steinhart. Dann kann er einfach irgendwo hineinspazieren und jeden zusammenschlagen, wie es ihm passt.«
»James′ Training dient seiner Selbstverteidigung, Dante«, lächelte Zara. »Und Lauren, wir verlangen nicht, dass du dich heute schon entscheidest, Agent zu werden. Ich schlage vor, ihr bleibt erst einmal auf Probe hier und seht, wie es euch gefällt. Ihr fangt mit dem normalen Unterricht an, beginnt mit dem Fitnesstraining für Anfänger und der Kampfausbildung. Du bist nicht das erste Mädchen, das vor dem Anblick des Geschehens hier zurückschreckt, aber wenn du dich erst einmal eingewöhnt und Freunde gefunden hast, wirst du das alles viel entspannter sehen. Und falls du dich dazu entschließt, nicht hierzubleiben, dann suchen wir dir ein schönes Kinderheim, und du kannst immer noch in der Nähe deines Bruders bleiben.«
»Wenn ich hierbleibe, was passiert dann mit Holly?«, wollte Dante wissen.
»Holly kann auf dem Campus aufwachsen«, erklärte Zara. »Wir haben einen ausgezeichneten Kindergarten, und du kannst sie jeden Tag sehen. Mit vier Jahren kann sie mit dem Combat- und Sprachtraining anfangen. Und mit zehn wird sie alt genug sein, ihre eigene Entscheidung zu treffen, ob sie die Grundausbildung machen und Agentin werden will.«
»Und wenn einer von uns die Grundausbildung nicht schafft?«, erkundigte sich Lauren. »Oder wenn mein Bruder sie nicht besteht?«
Zara rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum.
»Manchmal braucht man zwei oder drei Versuche, aber es ist sehr selten, dass jemand die Grundausbildung gar nicht schafft. Wir können nicht jede Eventualität einplanen, aber wir hatten schon Fälle, in denen ein Kind ein CHERUB-Agent wurde, während der Bruder oder die Schwester bei einer Pflegefamilie in der Nähe des Campus wohnte. Ich muss dabei betonen, dass kein CHERUB-Agent jemals dazu gezwungen wird, etwas gegen seinen Willen zu tun. Man kann ein Training auslassen, eine Mission absagen oder auch den Campus verlassen und sich entschließen, ein normales Leben zu führen, wenn man das will.«
Das beruhigte Lauren einigermaßen und Dante freute sich, dass er wieder mit Holly zusammen sein würde. Ihm gefiel die Vorstellung – obwohl es bis dahin noch neun Jahre waren –, dass auch sie eines Tages die Chance haben würde, eine Top-Spionin zu werden.
»Möchtet ihr beide also einen Schritt weitergehen und die medizinischen Tests und Eignungsprüfungen machen?«, fragte Zara.
»Ich glaub schon«, antwortete Lauren.
Dante hatte gerade den Mund voll, aber dafür nickte er umso eifriger.
Zara ließ den neuen Rekruten nach dem Essen eine halbe Stunde Zeit zum Verdauen, dann brachte sie die beiden in die Krankenstation des Campus, wo sie sich bis auf die Unterwäsche ausziehen mussten. Ein grauhaariger deutscher Arzt namens Kessler röntgte ihren ganzen Körper inklusive der Zähne und nahm dann Blutproben.
Dr. Kessler versicherte ihnen, dass die Muskelbiopsie nicht sehr wehtun würde, und nannte sie prompt Jammerlappen, als das federgetriebene Röhrchen ihre Haut durchstieß und ihnen ein winziges Stück Muskelgewebe entnahm.
»Das Gewebe wird unter einem Mikroskop untersucht«, erklärte Kessler. »So kann das Training an eure körperliche Verfassung angepasst werden. Wenn wir wissen, wozu eure Körper in der Lage sind, werden wir euch nicht zu weit treiben, aber auch bemerken, wenn ihr vorzeitig schlappmacht.«
Er brachte sie in einen Raum mit ein paar Laufbändern und einigen Hightech-Geräten zum Testen von Sehvermögen, Reflexen und Koordination.
Dante und Lauren lieferten sich einen kleinen Wettkampf, der allerdings sehr ausgeglichen war: Dante war stärker, aber Lauren bei den technischen Aufgaben besser, zum Beispiel wenn es darum ging, mit einem randvollen Wasserglas in der Hand auf einem Bein zu balancieren oder innerhalb einer Minute so viele kleine Fußbälle wie möglich durch einen Basketballreifen zu schießen.
Der letzte Test jedoch war der schlimmste: dreißig Minuten auf dem Laufband, angeschlossen an einen Herzmonitor und mit Sauerstoffmaske vor dem Gesicht. Dabei war das Laufband so eingestellt, dass sich Geschwindigkeit und Widerstand dem Erschöpfungsgrad des Läufers anpassten. Dr. Kessler befahl Dante und Lauren, über die Schmerzgrenze hinweg zu laufen und den Notschalter nur zu betätigen, wenn sie das Gefühl hatten, das Bewusstsein zu verlieren.
Als der Motor des Laufbandes sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich abschaltete, war Lauren ungeheuer erleichtert. Keuchend stemmte sie die Hände in die Taille und kämpfte gegen Seitenstechen an, Schweiß rann ihr in kleinen Bächen übers Gesicht und ihr orangenes T-Shirt war von dunklen, nassen Flecken übersät. Dante sah noch viel mitgenommener aus und stolperte zur Wand, bevor er sein Truthahn-Schinken-Sandwich hervorwürgte und in einen hastig von der Schwester bereitgestellten Eimer spuckte.
Dann folgten zwanzig Minuten Erholungszeit, während ein Zahnarzt ihren Mund überprüfte und eifrig an ihren Zähnen kratzte. Laurens Gebiss war perfekt, aber Dante musste einen Termin vereinbaren, um ein Loch füllen und eventuell einen schiefen Backenzahn ziehen zu lassen.
Nach dem Besuch beim Zahnarzt wurden sie in einen Warteraum geführt, in dem Zara ihre geschwollenen Beine hochgelegt hatte, um sich auszuruhen.
»Zwei mehr oder weniger perfekte Exemplare«, stellte Dr. Kessler fest, als er eine Viertelstunde später auftauchte. »Dante könnte zum Lesen Kontaktlinsen brauchen. Lauren hat leichtes Übergewicht und eine schwache Fitness, aber wir haben zehn Monate lang Zeit, daran zu arbeiten, bis ihre Grundausbildung beginnt.«
Im Anschluss an das Gespräch mit Dr. Kessler suchte Zara im Hauptgebäude nach einem leeren Klassenzimmer für den schriftlichen Test. Die neunzigminütige Prüfung umfasste Mathematik, Allgemeinwissen, Rechtschreibung, IQ-Fragen und die Aufgabe, in einem kurzen Aufsatz zu erläutern, was man für seine größten Stärken und Schwächen als CHERUB-Agent hielt. Der Test hatte es in sich, und die Tatsache, dass sie nach den körperlichen Herausforderungen erschöpft und müde waren, machte die Sache nicht gerade einfacher.
Während Zara die Tests auswertete, warteten Dante und Lauren im Speisesaal. Es war kurz nach drei und die Cherubs in den roten T-Shirts, alle unter zehn Jahren, hatten für heute Schulschluss. Manche von ihnen gingen zwar noch außerschulischen Aktivitäten nach, aber es waren an die dreißig, die sich jetzt ihre Zeit im Speisesaal vertrieben und jede Menge Toasts mit Butter und Schokoriegel verdrückten.
Dante fühlte sich fehl am Platz. Die Rothemden schienen sich alle gegenseitig zu kennen, unterhielten sich, schrieben Hausaufgaben voneinander ab, liehen sich Radiergummis und hatten miteinander Spaß. Aber keiner von ihnen sprach mit Dante oder Lauren, die in ihren orangefarbenen T-Shirts verloren dasaßen. Die Vorstellung, sich wieder an ein neues Zuhause gewöhnen zu müssen und sich mit neuen Kindern anzufreunden, erschreckte Dante.
»Was glaubst du, wie du bei dem Test abgeschnitten hast?«, fragte Lauren leise und sah auf die Tischplatte.
»Nicht schlecht«, antwortete Dante achselzuckend. »Nur dieser blöde Aufsatz … Ich hasse es, wenn ich erzählen soll, was ich an mir selbst gut oder schlecht finde.«
»Kann ich verstehen«, stimmte Lauren zu, doch noch bevor sie ganz ausgesprochen hatte, flog eine Ladung Toastkrümel an ihrer Nase vorbei und landete direkt auf Dantes T-Shirt.
Ein paar Tische weiter begannen einige Sechs- bis Achtjährige zu lachen. An seiner Körpersprache erkannten Dante und Lauren sofort, wer für den Krümelanschlag verantwortlich war: Jake Parker, der Junge, den sie vor dem Büro des Vorsitzenden hatten warten sehen.
Dante schoss von seinem Stuhl hoch und brüllte: »He, du Knirps, soll ich rüberkommen und dir den Kopf durch die Wand schlagen?«
Das ließ Jake sich nicht zweimal sagen und stolzierte zwischen den Tischen hindurch auf Dante zu.
»Du bist vielleicht größer als ich«, grinste er, »aber ich hab den schwarzen Gürtel in Judo und Karate, also pass lieber auf, was du sagst.«
Da tauchte einer von Jakes Freunden hinter ihm auf und zog ihn wieder zum Tisch zurück. »Jake, du sprichst mit Orange. Du wirst noch Strafrunden aufgebrummt kriegen.«
Jake wusste, dass sein Freund recht hatte, und gab freiwillig nach.
»Feigling«, neckte Dante ihn und zeigte den Mittelfinger.
Das war zu viel für Jake. Er rannte los und holte zu einem heftigen Tritt aus. Tische und Stühle fielen krachend zu Boden, als Dante auswich, aber Jake kam weiter auf ihn zu und baute sich in Kampfhaltung vor ihm auf, die Hände in Karatestellung. Dante war einen ganzen Kopf größer als er, aber Jake bewegte sich so blitzschnell, dass Dante allmählich dämmerte, sich mehr Ärger eingehandelt zu haben, als er bewältigen konnte.
Doch noch bevor Jake richtig loslegte, wurde er von einem älteren Mädchen mit dunklem Haar zurückgerissen. Sie zog ihn einfach am Gummibund seiner Trainingshose in die Höhe und warf ihn über einen der Tische.
Diese Chance wollte sich Dante nicht entgehen lassen. Er hechtete zu Jakes Tisch, holte aus, schlug zu – und traf nur Luft, weil ihn Lauren in die andere Richtung zog.
»Kein Ärger«, verlangte sie hektisch und schob Dante zu seinem Platz zurück. »Los, komm schon, setz dich wieder hin.«
Jetzt baute sich eine Mauer aus roten T-Shirts zwischen Dante und Jake auf, und hinter dem Tresen rief einer der Köche hervor: »He, ihr, lasst den Unsinn!«
Jake jaulte auf, als ihn das Mädchen, das ihn über den Tisch geworfen hatte, einen Idioten schimpfte und ihm den Arm mit einem brutalen Schlag lähmte.
Doch mit einem Mal erstarb der Aufruhr genauso plötzlich, wie er entstanden war, und alle eilten zu ihren Plätzen. Zara hatte den Speisesaal betreten, der deutliche Spuren der Auseinandersetzung aufwies. Die kleinen Gesichter vor ihr schienen allerdings kein Wässerchen trüben zu können.
Jake stöhnte auf, als ihn das ältere Mädchen auf seinen Stuhl warf.
»Bethany«, sagte Zara streng, »was habe ich dir zum Thema Streit mit deinem Bruder gesagt?«
»Ach, da war doch gar nichts«, gab das Mädchen zurück. »Wir machen doch nur Spaß, stimmt′s, Jake?«
Jake hielt sich den Arm und zog ein finsteres Gesicht, bestätigte aber nickend die Geschichte seiner Schwester.
Als Dante sich wieder setzte, bemerkte er, dass Zara zwei in Plastiktüten eingeschweißte rote T-Shirts dabeihatte.
»Da du so viel Energie hast, Bethany«, sagte Zara, »könntest du unsere beiden neuen Rekruten Lauren und Dante zum Juniorblock hinüberbringen. Such ihnen ihre Betten und hilf ihnen dabei, sich bei uns zurechtzufinden. Sie brauchen Kleidung, Handtücher, und ich denke, nach dem, was sie heute schon hinter sich haben, würden sie gerne duschen.«
Während Zara ihnen die T-Shirts reichte, tippte Bethany Lauren auf die Schulter.
»Willkommen bei CHERUB«, sagte sie. »In meinem Zimmer ist noch ein Bett frei, falls du bei mir einziehen möchtest.«
Auch ein paar Jungen kamen angelaufen, um sie zu begrüßen. Dante und Lauren verabschiedeten sich von Zara, dann führte Bethany sie in den Gang hinaus.
»Wir Rothemden wohnen alle zusammen im Juniorblock«, erklärte sie unterwegs. »Das ist ziemlich cool. Wir haben unsere eigenen Klassenzimmer, ein großes Heimkino, wo wir uns Filme ansehen können, und wenn ihr Tiere mögt – es gibt eine Art Streichelzoo mit Meerschweinchen, Mäusen, Fröschen und so was.«
»Das mit deinem Bruder tut mir leid«, entschuldigte sich Dante. »Es waren ja schließlich nur Toastkrümel. Ich hätte nicht so austicken sollen.«
»Lass dich lieber nicht auf einen Kampf ein, bevor du nicht ein paar Monate Training absolviert hast«, warnte ihn Bethany. »Aber bei mir musst du dich echt nicht entschuldigen. Jake ist ein totaler Schwachkopf.«