Am nächsten Morgen machte sich Dante keine Sorgen mehr darüber, ob er auf dem Campus noch Freunde hatte. Bethanys Geburtstagsparty war der perfekte Eisbrecher gewesen. Nachdem sich alle auf den Kuchen gestürzt hatten und dann von einem der Campus-Hausmeister wegen der Feuerwerkskörper angeschrien worden waren, dass sie fast das ganze Haus abgefackelt hätten, ging es in einem der CHERUB-Mini-Vans in die Stadt zum Bowlingspielen inklusive anschließendem Essen im Nandos – das nach der Pleite von Deluxe Chicken neu eröffnet hatte.
Dante erwachte ziemlich spät. Nach seiner Mission hatte er zwar eine Woche frei, bevor er wieder mit dem Unterricht und dem Training anfangen musste, aber er wollte trotzdem nicht die Gelegenheit verpassen, zusammen mit den anderen zu frühstücken. Doch als er in den Speisesaal kam, waren die Einzigen, die er kannte, James Adams und Kerry Chang, die zusammensaßen und nicht gerade den Eindruck machten, als wollten sie gestört werden.
Dante lud sich zwei Kartoffelwaffeln, Schinken und ein Päckchen Crunchy Nut auf sein Tablett, doch gerade als er sich an einen leeren Tisch setzen wollte, hörte er James′ Stimme.
»Riechen wir schlecht oder was?«
»Ich dachte, ihr seid zusammen«, entschuldigte sich Dante verlegen.
»Wir sind nur befreundet«, erklärte James, aber das fand Dante wenig überzeugend: James und Kerry hatten ihre Stühle dicht nebeneinandergeschoben, um in derselben Zeitung, im Guardian, die Musikkritiken lesen zu können, und auch wenn Kerrys Arm nicht direkt um James lag, so hatte sie ihn immerhin um seinen Stuhl gelegt.
»Habt ihr keinen Unterricht?«, erkundigte sich Dante, als er in seine Kartoffelwaffel biss.
»Freistunde«, erwiderte James. »Wir haben einen Haufen Abschlussprüfungen gemacht, und unsere Betreuer haben bis jetzt noch nicht gemerkt, dass dadurch unser Stundenplan nicht mehr ganz so voll ist.«
»Und bis sie′s merken, dauert es hoffentlich noch«, fügte Kerry hinzu, lächelte James an und schnippte mit dem kleinen Finger ein paar Krümel von seinem T-Shirt.
»Genial«, lachte Dante. »Ich bin fast vierzehn, da werden sie mich wahrscheinlich zu einem Haufen Prüfungskursen verdonnern.«
»Höchstwahrscheinlich«, nickte James. »Sieh bloß zu, dass du Geschichte vermeiden kannst, sonst hast du nur lange Aufsätze an der Backe und musst jede Menge langweiliges Zeug lesen.«
»Ich mag Geschichte«, erklärte Dante. »Schlachten und so.«
»Ich auch«, stimmte ihm Kerry zu. »Aber James ist ein Mathestreber. Mathe fällt ihm so leicht, dass er keine Lust hat, seine Energie in irgendetwas anderes zu stecken.«
»Ich glaube, bei Sprachen werde ich völlig versagen«, meinte Dante. »Vor der Grundausbildung habe ich ein Jahr lang Französisch und Spanisch gelernt, ziemlich intensiv sogar, aber dann war ich drei Jahre vom Campus weg und hatte in der Schule nur ganz normalen Französischunterricht.«
»Das ist heftig«, gab Kerry zu. »Ich spreche zum Beispiel Spanisch, Französisch, Japanisch und ein wenig Mandarin. Und da ich diese Sprachen gelernt habe, seit ich sechs Jahre alt war, habe ich die Prüfungen darin leicht bestanden und kann ohne Weiteres zur Uni gehen.«
Dante sah James an. »Ich schätze, bei dir ist das in Mathe genauso?«
»Oh, er ist ein kleiner Klugscheißer«, lächelte Kerry. »Er hatte schon drei Mathe- und einen Physiktest.«
»Mathe ist total einfach«, erklärte James lässig.
Kerry verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Ach, halt doch die Klappe, du selbstzufriedener Trottel.«
James hielt drohend einen Finger vor Kerry, als wolle er sie in die Rippen pieken, und sie musste lachen. »Versuch es nur, und ich breche dir den Finger!«
»Ihr zwei erinnert mich an etwas, das als Nächstes auf meiner Liste steht«, sagte Dante lächelnd. »Eine Freundin auf dem Campus.«
»Das hier ist rein platonisch«, betonte Kerry.
»Ganz offensichtlich«, erwiderte Dante trocken und schob sich eine Ladung Schinken in den Mund.
»Da ist noch was, über das ich gestern Abend nicht mit dir reden konnte«, sagte James. »Ich bin mit Terry Campbell befreundet. Kennst du ihn?«
»Der technische Leiter von CHERUB«, nickte Dante. »Weißer Bart, Typ Fachidiot.«
»Genau der«, nickte James. »Weißt du, ich stehe total auf Motorräder, und hier in der Werkstatt steht eine heruntergekommene alte Harley, die ich gerne in Schuss bringen würde. Terry sagt, sie gehört dir.«
Dante nickte. »Die hat meinem Vater gehört.«
»Ich weiß alles über Motorräder«, erklärte James. »Ich hab jedes Motorradmagazin verschlungen. Ich könnte sie dir abkaufen, zu einem fairen Preis.«
Dante sah ihn überrascht an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, tut mir leid, James. Das war das Bike meines Vaters. Nachdem er gestorben ist, ist unser Haus abgebrannt, und dieses Bike ist so ziemlich das Einzige, was mir von ihm geblieben ist.«
»Dein Dad hatte also mit Motorrädern zu tun?«, fragte James nach.
Dante hörte auf zu essen und wurde rot. Er räusperte sich. »Sorry. Das ist ziemlich kompliziert, und ich möchte lieber nicht über meine Familie sprechen.«
James war überrascht, dass seine harmlose Frage Dante so aufwühlte, und bekam ein schlechtes Gewissen.
»Keine Angst«, antwortete er beschwichtigend. »Auf dem Campus hat jeder eine Vergangenheit, und du bist nicht der Einzige, der nicht gerne darüber redet.«
Kerry hielt es für angemessen, das Thema zu wechseln, und tippte auf die CD-Kritiken in der Zeitung vor ihr.
»Und welche Musikrichtung magst du so, Dante?«, fragte sie.
Als Neil Gauche aufwachte, sah er als Erstes die Ameisen, die über den Arm vor seinem Gesicht spazierten. Sein Kopf schmerzte, in seinen Ohren klingelte es und von seiner rechten Schläfe zog sich ein blutiger Riss bis zu seiner Augenbraue.
Es grenzte an ein Wunder. Er konnte sich an alles erinnern, bis zu dem Augenblick, als direkt neben seinem Ohr die Pistole abgefeuert wurde und die Kugel sich ein paar Meter entfernt in den Boden bohrte. Dann war er bewusstlos geschlagen worden. Entweder durch einen Tritt oder, was wahrscheinlicher war, mit dem Kolben der Pistole. Aber warum?
Hatte der Commander etwa beherzigt, was Neil über den Ärger gesagt hatte, den er bekommen würde, wenn er einen Cop tötete? Oder hatte er von vornherein vorgehabt, ihm einfach nur eine Scheißangst einzujagen? Neil tastete suchend um sich und stellte fest, dass er sein Handy und seinen Geldbeutel im Mercedes des Commanders liegen gelassen hatte, als er ausgestiegen war.
Ein schmerzhafter Stich schoss durch seinen Kopf, als er sich auf den Rücken rollte und aufsetzte. Die Sommersonne stand schon hoch am Himmel; er musste fünf oder sechs Stunden lang reglos dagelegen haben, sein Arm und seine Wange trugen deutliche Spuren von Erde und kleinen Steinchen.
Durch das hohe Korn um ihn herum konnte er ohne aufzustehen nur Baumwipfel und den Himmel erkennen. Er musste aufstoßen, und der säuerliche Geschmack von Tex-Mex-Essen, Bier und Tequila vom Vorabend erfüllte seinen Mund.
Aufgrund des Blutverlusts fühlte Neil sich schwach. Aber er schaffte es, auf die Beine zu kommen, und als er sich umsah, erkannte er, wo er war. Zweihundert Meter weit entfernt stand am Ende eines leichten Abhangs ein Haus. Die neuen Besitzer nutzten es als Feriendomizil und hatten eine Menge Geld in die Sanierung gesteckt, doch Neil hatte es zu oft auf Polizeifotos und in den Nachrichten gesehen, um es nicht zu erkennen.
Es war das Haus der Familie Scott. Der Tatort des Mordes an Familie Scott. Neil ausgerechnet hierherzubringen und eine Exekution vorzutäuschen, war eine klare Botschaft des Commanders an die Polizei: Er war sich absolut sicher, mit allem durchzukommen.
»Arrogantes kleines Arschloch«, knurrte Neil, als er auf das Haus zulief.
Während Neil Gauche mit zwei Mann Verstärkung in einer Notaufnahme in Devon wartete, war der Rest der NPBTF alarmiert worden und hatte sich noch vor neun Uhr in der Polizeiwache von Hornsey versammelt.
Als ausgebildeter Psychologe neigte Ross Johnson nicht zu starken Gefühlsausbrüchen, und so war es für viele Kollegen das erste Mal, dass sie miterlebten, wie er die Fassung verlor. Jetzt stand er brütend am Fenster, als eine schlanke Beamtin das Büro betrat.
»Kaffee«, sagte sie und stellte einen Becher auf den Schreibtisch.
»Danke, Tracy«, erwiderte Ross knapp. »Sie müssen sich mit Scotland Yard in Verbindung setzen. Die Bandits heuern Privatdetektive an. Sie wissen, dass Neils Bike hierhergeliefert wurde, und sie beobachten uns. Wir brauchen neue Räumlichkeiten, und wenn es ein rattenverseuchtes Kellerloch ist. Wir können keine verdeckten Ermittlungen durchführen, wenn der Feind unser Kommen und Gehen im Blick hat.«
»Wenn sie uns observieren, dann könnten sie auch George Kahns Identität entdeckt haben«, gab Tracy zu bedenken.
»Das ist möglich«, stimmte Ross zu. »Aber er ist erst seit drei Wochen bei uns, und hier gehen eine Menge Asiaten ein und aus.«
»Ich rufe bei der Grundstücksverwaltung an, sobald sie öffnet, und bitte um eine dringende Versetzung«, sagte Tracy. »Was passiert da unten in Devon? Wollen wir den Commander wegen des Anschlags auf Neil verhaften? Ihn vielleicht wegen Waffenbesitz anklagen?«
Ross schüttelte den Kopf. »Es wird schwer zu beweisen, wer was getan hat, besonders wenn man es mit solchen Schwergewichten von Anwälten wie denen der Bandits zu tun bekommt. Und der Commander ist nicht dumm, er wird uns keinerlei Hinweise hinterlassen haben, wir werden die Waffe niemals finden und er wird ein Dutzend Zeugen vorweisen, die bereitwillig schwören, dass er zur Zeit dieses Vorfalls bei ihnen gewesen ist.«
»Es kommt einem so vor, als stehe er über dem Gesetz«, seufzte Tracy. »Und was ist mit dem Bike?«
Ross seufzte noch lauter und griff nach seinem Kaffee.
»Neil hätte tot sein können, aber wenn wir eine offizielle Untersuchung starten, wer die Harley auf so offensichtliche Weise gekauft hat, dann sind wir monatelang beschäftigt, und es schafft außerdem keine besonders gute Atmosphäre. Geben Sie Folgendes in Umlauf: Ich will, dass der Beamte, der das Motorrad gekauft hat, sich meldet. Und wenn er noch zu meiner Einheit gehört, dann will ich, dass er sich mit einem ausgefüllten Versetzungsantrag bei mir meldet. Heute noch.«
»Ja, Boss«, sagte Tracy. »Und wenn sich niemand meldet?«
»Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist. Sie waren es ja hoffentlich nicht, oder?«
»Nein.«
Ross seufzte erleichtert auf. »Gott sei Dank. Sie und Neil sind meine beiden besten Leute.«
»Ich werde fast verrückt, wenn ich darüber nachdenke, dass wir um Haaresbreite einen Beamten verloren hätten«, sagte Tracy. »Was machen wir jetzt? Unsere ganze Operation baute darauf auf, dass George den großen Waffendeal abschließt und Neil vor Ort in Salcombe herausfindet, wie die Bandits die Waffen ins Land bringen.«
Ross fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres Haar. »Vielleicht hätte ich lieber bei meinem Job als Berater für minderjährige Zeugen bleiben sollen. Ich hätte Vernehmungen durchgeführt, einen Bericht geschrieben und die ganze Angelegenheit den Detectives überlassen, damit sie die losen Enden zusammenfügen. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass es der Mord an der Scott-Familie war, durch den mein Interesse an den Outlaw-Bikern geweckt wurde?«
»Als ich vom Drogendezernat hierhergekommen bin, hat der Junge, der damals überlebt hat, noch bei Ihnen gewohnt«, erwiderte Tracy.
»Dante war ein toller Junge«, erinnerte sich Ross. »Ein absolut tragischer Fall. Ab und zu schreibt er meiner Tochter Tina sogar noch eine E-Mail.«
»Bis wir einen neuen Weg gefunden haben, die South-Devon-Bandits zu infiltrieren, ist das Spiel für uns gelaufen«, meinte Tracy. »Nichts für ungut, Sir, aber ich glaube, Sie sollten jetzt da rausgehen und unser Team ein wenig aufbauen. Sie alle haben so hart an dem Fall gearbeitet, und die Stimmung da draußen ist selbstmörderisch.«
»Später«, wehrte Ross ab, und plötzlich blitzten seine Augen auf. »Vielleicht steckt unser Karren noch nicht ganz so tief im Dreck, wie alle annehmen. Schließen Sie die Tür, wenn sie hinausgehen, ich muss dringend telefonieren.«
Sobald Sergeant Tracy gegangen war, holte Ross ein Adressbuch aus seiner Jacke, die am Türhaken hing, und sah unter M wie Mitchum nach. Jennifer Mitchums Büro erteilte ihm die Auskunft, dass sie mittlerweile pensioniert sei, doch ein paar Minuten später rief jemand von Nebraska House zurück und gab ihm ihre Privatnummer.
»Sie erinnern sich bestimmt daran, dass Sie mir geholfen haben, als ich einen sicheren Aufenthaltsort für Dante suchte«, erklärte Ross, nachdem sie ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten. »Sie haben nur ganz vage darüber gesprochen, wohin Dante geht und was CHERUB macht, aber meine Ermittlungen sind gerade völlig zum Erliegen gekommen, und ich frage mich, ob man mir dort vielleicht helfen kann.«