Vom College bis zur Marina-Heights-Anlage brauchte man etwa dreißig Minuten. Nigel fuhr voran und zeigte James ein paar Abkürzungen über Feld- und Wanderwege. An einem Montagnachmittag um zwei Uhr war die Anlage wie ausgestorben, und hinter den Läden fanden sie locker einen breiten Parkplatz für ihre beiden Bikes.
Mit den Helmen in der Hand steuerten Nigel und James die Motorradwerkstatt an. Nach dem Wochenende quollen die großen Stahlmülleimer über und die Hitze verstärkte den Geruch nach verdorbenen Lebensmitteln noch, als sie an dem jetzt abgeschalteten Neonlogo am Clubhaus der Bandits vorbeikamen. James bemerkte die Videokameras, die in allen Richtungen angebracht waren, die Gitter vor den Fenstern und die massiven Stahlpoller, die verhindern sollten, dass sich jemand mit einem schweren Fahrzeug den Weg ins Clubhaus bahnen konnte.
»Mal ehrlich, wie schätzt du die Bandits ein?«, wollte James wissen.
»Die sind schon heftig«, antwortete Nigel. »Ich meine, ich habe schon immer hier gewohnt, aber ich bekomme immer noch Angst, wenn ich einen von ihnen sehe.«
»Hast du je mitgekriegt, dass es Ärger gegeben hat?«
»Nein. Aber man liest manchmal was in der Lokalzeitung. Vor ein paar Wochen wurde hier draußen auf dem Pflaster einem Mann der Schädel eingeschlagen. Es gibt einen Punkt, der von den Überwachungskameras nicht erfasst wird, und das ist genau die Stelle, an der du eins überkriegst, wenn die Bandits dich nicht mögen.«
»Also geht man ihnen am besten aus dem Weg?«, vermutete James.
»Zu den Einheimischen sind sie ganz nett«, erzählte Nigel. »Sie veranstalten sogar so was wie einen Tag der offenen Tür in ihrem Clubhaus, für wohltätige Zwecke und so. Man darf sich bloß nicht mit ihnen anlegen. Aber ehrlich gesagt sind sie mir immer noch lieber als solche Möchtegernbiker wie Ben.«
James war verwundert. »Aber Ben schien doch ganz nett.«
Nigel zuckte mit den Achseln. »Okay, er ist ganz nett. Aber bei Ben geht′s immer nur ums Image. Man sieht ihm schon an, dass er jeden Morgen eine halbe Ewigkeit damit verbringt, seine Haare zu gelen und dieses Bärtchen zu stutzen. Und offensichtlich hält er sich für eine Art James Dean mit seiner Zigarettenschachtel im T-Shirt-Ärmel.«
»Stimmt schon, er ist ein bisschen zu sehr bemüht«, fand James.
»Eben«, nickte Nigel. »Echte Biker scheren sich einen Dreck um so was. Die rauchen, nehmen Drogen, bumsen irgendwelche Schlampen, fahren geile Bikes und schlagen jeden zu Brei, der ihnen dumm kommt. Mein Bruder sagt, wenn ich achtzehn bin, sorgt er dafür, dass ich auch in den Monster Bunch aufgenommen werde. Wenn ich das richtige Bike finde, fahre ich diesen Sommer vielleicht zum ersten Mal bei einer Tour mit.«
»Wahnsinn«, fand James. »Aber was stimmt denn nicht mit deinem eigenen Bike?«
Nigel schüttelte den Kopf. »Die Gangs fahren in Formation mit hundertzwanzig oder sogar hundertfünfzig Stundenkilometern. Das schafft man nicht mit einer Zweihundertfünfziger. Und selbst wenn man die Geschwindigkeit mithalten könnte, würden einen die Älteren so verarschen, dass man sich total mies fühlt. Ich müsste in einem der Busse oder im Begleitlaster mitfahren.«
»Über diese Touren habe ich in den Biker-Magazinen gelesen«, nickte James. »Klingt toll. Was ist mit deinem Kumpel Julian, fährt der auch mit?«
»Nein«, lachte Nigel. »Wir sind zwar zusammen aufgewachsen, aber heute verbindet uns eigentlich nur noch die Schule. Sein Vater ist Richter. Er ist ziemlich verwöhnt, aber wird an der kurzen Leine gehalten. Als er letztes Jahr sein Auto ramponiert hat, kurz nachdem er es bekommen hat, sind seine Eltern ausgerastet. Und als sie Pot in seinem Zimmer gefunden haben, hat er einen Monat lang Hausarrest gekriegt.«
Mittlerweile waren James und Nigel am Clubhaus vorbeigelaufen und hatten die Motorradwerkstatt erreicht. Alles hier war blitzsauber, das Werkzeug lag in Rollcontainern verstaut, und über hydraulische Hebebühnen konnten die Bikes nach oben befördert werden, sodass man bequem daran arbeiten konnte, ohne darunterkriechen zu müssen. Aus einem Ghettoblaster an der Wand dröhnte Lynyrd Skynyrd.
Weiter hinten befand sich ein Laden mit allen möglichen teuren Ersatzteilen an der Wand. Auf einer Seite hingen drei Harley-Davidsons in unterschiedlichen Montagephasen mitten in der Luft. Eine davon war eine ziemlich schäbige Maschine mit dem Logo der Bandits auf dem Benzintank.
James ging hinüber, um sie sich genauer anzusehen, und stand plötzlich vor einem Mann ohne Hemd, dem aus allen möglichen Körperöffnungen Haare wuchsen.
»Fass niemals das Bike eines Bandits an, es sei denn, deine Fresse gefällt dir nicht mehr«, kläffte der Typ ihn an.
»Ich hab nichts angefasst«, verteidigte sich James vorsichtig. Die Jeans des Bikers war schon ganz steif von Öl und Dreck. James erkannte ihn als einen Bandit namens Heartbreaker. Er sah aus, als wäre es schon einige Jahrzehnte her, dass er ein Bad von innen gesehen hatte, und sein Rasierwasser war Eau de Benzin.
»Wenn ihr Jungs wegen eines Bikes hier seid, müsst ihr die Metalltreppe rauf zu Rhino gehen.«
James kannte Rhinos Namen aus den Polizeiakten. Er war achtunddreißig, seit langem Biker und Verbündeter der Bandits und hatte eine Reihe kleinerer Vorstrafen aufzuweisen. Neil Gauche zufolge hatte er das Angebot einer Bandits-Anwärterschaft schon mehrmals abgelehnt, weil er stolz auf seinen Status als einsamer Wolf war und er keine Lust auf die Streitereien hatte, die eine Clubmitgliedschaft mit sich brachte.
Nachdem sie an zwei Mechanikern in ordentlichen türkisfarbenen Overalls vorbeigekommen waren, gingen sie nach oben und fanden Rhino in Jeans und AC/DC-T-Shirt an einem Schreibtisch sitzen. Hinter ihm erstreckte sich ein großer Raum, dessen weißer Fußboden Reifenspuren trug. Der Raum war voller Motorräder, von verbeulten Harleys und Ducati-Rennmaschinen bis hin zu pinkfarbenen Lambrettas und Quads.
Nachdem James ihm das Problem mit seinen Bremsen erklärt hatte, gab ihm Rhino eine Karte und erklärte ihm, dass er die Serviceabteilung anrufen und einen Termin für diese Woche ausmachen müsse. Nigel hatte sich währenddessen umgesehen und war auf ein halbes Dutzend mittelgroßer Maschinen gestoßen, ähnlich wie die von Ben. Sie waren bereits ein paar Jahre alt, hatten aber zumeist nur ein paar tausend Kilometer auf dem Tacho und der Preis lag unter 2000 Pfund.
»Du fährst doch eine Zweihundertfünfziger, oder?«, fragte Rhino, der ein Geschäft witterte. »Du bist Wills Bruder.«
Nigel nickte. »Ihr habt hier ein paar echt schöne Bikes, aber ich sehe mich nur um.«
»Du kannst dich ruhig umsehen, so viel du willst«, lud ihn Rhino ein.
James setzte sich auf eine 498ccm Kawasaki ER-5 für 1800 Pfund und prüfte die Federung.
»Genau das richtige Bike für einen jungen Mann wie dich«, behauptete Rhino. »Leicht zu fahren, fünfzig PS und schafft zweihundertfünfzig Kilometer die Stunde.«
»Dafür brauchst du aber diese Drossel«, meinte Nigel, »damit sie langsamer wird.«
Rhino lächelte. »Ganz unter uns, bei einem Motorrad mit fünfzig PS bauen wir dir das Ding ein, geben dir die Bescheinigung und stellen dann sicher, dass du keinen Unterschied spüren wirst, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Alles reine Theorie«, lächelte James. »Ich hab keine achtzehnhundert Mäuse.«
»Vielleicht brauchst du die auch gar nicht«, meinte Rhino. »Dein altes Bike geht als Anzahlung von mindestens vierhundert durch. Dann sind es nur noch vierzehnhundert und bei null Prozent Finanzierungszinsen bei einer Laufzeit von drei Jahren macht das weniger als zehn Pfund die Woche.«
»Sie können uns Geld leihen?«, fragte Nigel ungläubig.
Rhino schüttelte den Kopf. »Die Papiere müssen eure Eltern unterzeichnen. Aber das sind reine Formalitäten. Alle unsere Maschinen sind grundsolide. Ihr habt gesehen, was wir für eine Werkstatt da unten haben, und die ganzen Maschinen hier sind auf Herz und Nieren geprüft worden. Dein Freund sitzt auf einem Bike, das weniger als sechstausend Kilometer auf dem Buckel hat. Es ist kaum eingefahren, aber du zahlst nur ein Drittel von dem, was irgendein Idiot vor drei Jahren in einem Laden dafür bezahlt hat.«
James lächelte, als er sich vorstellte, wie er mit einem 500ccm Motorrad über die Autobahn heizte. »Vielleicht frage ich mal meine Mutter.«
»Wenn ich diesen Sommer auf eine Tour mitwill, brauche ich ein größeres Bike«, stellte Nigel fest. »Aber die Versicherungskosten dafür werden mich umbringen.«
Als er das hörte, schaltete Rhino den Verkäufermodus ab und klang plötzlich persönlich interessiert. »Mit wem willst du denn auf Tour?«
»Hoffentlich mit dem Monster Bunch«, antwortete Nigel. »Mein Bruder hat gesagt, er versucht, was für mich zu arrangieren, wenn er in ein paar Wochen von der Uni zurückkommt.«
»Fährt er immer noch diese alte Sportster 883?«
Nigel nickte. »Er hat jede Menge Geld in die Reparaturen gesteckt. Sieht ganz gut aus, hat aber immer wieder Ausfälle.«
»Beim Verkauf von Motorrädern verfolgen wir hier eine ganz eigene Philosophie«, erklärte Rhino und schaltete wieder in den Verkäufermodus. »Ihr seid Teenager. Jetzt habt ihr zwar nicht viel Geld, aber die Begeisterung für Motorräder hält ein Leben lang an. Ich hab großes Interesse daran, euch auf guten, zuverlässigen Bikes hier rauszuschicken. Dann kann ich euch bluten lassen, wenn ihr älter seid und herkommt, um zehn Riesen für eine Harley auszugeben.«
James und Nigel lachten.
»Kennt ihr Teeth?«, fragte Rhino.
James kannte den Namen, schüttelte aber den Kopf.
»Ich hab schon von ihm gehört«, sagte Nigel.
»Nun, Teeth ist zur Zeit die rechte Hand des Commanders«, erklärte Rhino. »Er betreibt an der Promenade von Marina Heights die Reinigungsarbeiten, die Wartung, den Diner und die Imbissstände. Er kann euch keinen wahnsinnig reizvollen Job bieten, aber auf jeden Fall Minimum sechs Pfund die Stunde. Ihr könntet samstags arbeiten, und wenn die Ferien anfangen, könntet ihr vierzig oder mehr Stunden die Woche machen. Wenn ihr bereit seid, ordentlich zuzupacken, dann könnt ihr so ein Bike leicht in einem einzigen Sommer abbezahlen.«
Nigel schnaubte. »Wissen Sie, wie schwierig es ist, einen Job in der Marina-Heights-Anlage zu kriegen? Alle Kids in der Stadt möchten da arbeiten, ebenso wie eine Million älterer Typen, die zum Surfen an den Strand kommen.«
Rhino nickte. »Aber falls ihr es noch nicht gemerkt habt, Marina Heights wird von den Bandits betrieben. Wir sind Motorradfans und ihr seid Motorradfans. Wenn ihr hier ein Bike kauft, gehe ich zu Teeth und sorge dafür, dass eure Namen ganz oben auf der Liste für die Samstags- und Sommerjobs stehen. Dafür müsst ihr euch nur ein Bike aussuchen, ein Elternteil hierherbringen und wir machen den Deal klar. Ihr könntet noch heute Abend auf einer dieser Maschinen nach Hause fahren.«
James war ziemlich intelligent und hatte schon viel erlebt, aber einem so ausgebufften Verkäufer wie Rhino war er noch nie begegnet, und die Aussicht, auf einer ungedrosselten 500er Kawasaki durch den Sommer zu fahren, versetzte ihn in ungeahnte Aufregung.
»In diese ER-5 könnte ich mich echt verlieben«, lächelte er, während er hinter Nigel in den Sonnenschein hinaustrat. »Glaubst du, du wirst eine bekommen?«
Nigel schüttelte den Kopf. »Kein Bike ist es wert, einen ganzen Sommer lang Klos zu putzen, Burger zu servieren oder Kaugummi von den Sitzen zu kratzen. Außerdem hab ich schon ein kleines Geschäft am laufen; ich verkaufe Julian und dieser Clique ein bisschen Pot. Damit mache ich zwar nur dreißig oder vierzig Kröten die Woche, aber es reicht für meinen eigenen Bedarf und meine Bike-Versicherung, ohne dass ich einen Finger dafür rühren muss.«
»Super«, fand James. »Warum kaufst du dir das Bike dann nicht von deinem Drogengeld?«
»Oh ja«, lachte Nigel, »ich komme mit einer Fünfhunderter nach Hause und meine Mum fragt mich, woher ich das Geld dafür habe?«
»Gutes Argument«, gab James zu.
»Aber wenn du mal was Gutes zum Rauchen brauchst, musst du nur mich fragen.«
James schüttelte den Kopf. »Ich hab′s ein paar Mal mit Marihuana versucht, aber irgendwie komme ich damit nicht klar.«
»Liegt wahrscheinlich an dem billigen Scheiß«, vermutete Nigel. »Das Zeug, das ich verkaufe, ist erstklassig. Es wird hier in Devon angebaut. Hundert Prozent biologisch, irre THC-Werte.«
»Werd′s mir merken«, sagte James vorsichtig, als sie zu ihren Bikes kamen. »Was machst du jetzt noch?«
»Ich stinke!«, antwortete Nigel prompt. »Ich geh nach Hause und dusche, und dann muss ich noch einen Aufsatz schreiben. Ich glaube, heute Abend treffen sich alle am Strand. Wenn du mir deine Handynummer gibst, schreibe ich dir, wann und wo.«