22

Freitagmorgen

Das Wetter hatte sich verschlechtert und der Regen prasselte ans Fenster, als James in Socken und Unterhosen auf dem Bett lag und mit Ashley telefonierte.

»Also, was hast du an?«, fragte er. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Schwarz ist sexy! Weißt du, was ich jetzt gerne machen würde? Mich in deinem Bett ganz dicht an dich drücken und …«

Abrupt brach James ab, als Lauren ins Zimmer platzte.

»Hör auf, deiner Freundin schmutzige Sachen zu erzählen, und komm nach unten!«

»Ich muss leider auflegen«, sagte James, verabschiedete sich und klappte das Handy zu. Dann sah er Lauren finster an. »Hast du noch nie was von anklopfen gehört?«

Lauren grinste. »Hast du noch nie was davon gehört, dass man die Tür abschließen sollte, wenn man an sich herumspielt?«

»Ich habe telefoniert!«, protestierte James.

»Chloe will unten eine Konferenz abhalten, bevor Dante und ich in die Schule müssen.«

James warf sich in Jeans und T-Shirt und stellte überrascht fest, dass Chloe am Herd stand und Rührei machte.

»Wir sind jetzt sechs Tage hier«, erklärte sie, stellte den Herd ab und nahm vier Teller aus dem Küchenschrank. »Ich brauche Fortschrittsberichte. Lauren, Dante, wie sieht es mit Joe aus?«

»Ganz gut«, begann Lauren. »Ich hab mich ins Spiel gebracht. Er hat keine Freundin, also habe ich angedeutet, dass ich Interesse hätte. Er hat eine große Klappe, aber bei Mädchen ist er, glaube ich, ziemlich schüchtern.«

»Jetzt kommt das Wochenende«, bemerkte Chloe. »Vielleicht ist es Zeit, aufs Ganze zu gehen und ihn um ein Date zu bitten.«

Lauren nickte. »Das habe ich mir auch schon überlegt. Allerdings kommt alles darauf an, ihn allein zu erwischen, ohne seine sechzehn hirnlosen Anhänger.«

»Nun, das sollte oberste Priorität haben«, bestimmte Chloe. »Denk daran, dass diese Mission schnell durchgeführt werden muss. Mir ist es lieber, wir gehen ein paar Risiken ein und scheitern vielleicht damit, als gar nichts zu tun und damit garantiert nichts zu erreichen. Was ist mit dir, Dante?«

»Für mich ist es schwieriger, näher an Joe heranzukommen«, sagte Dante. »Ich bin nicht in seiner Klasse. Ich habe zwar ein paar Mal mit ihm gesprochen, aber er ist ziemlich beliebt, und ich kann nichts erzwingen.«

Lauren half Chloe, die vier Teller mit Rührei und Toast zum Frühstückstresen zu bringen.

»Du verbringst eine Menge Zeit mit Anna«, stellte Chloe sehr direkt fest. »Dient das eher der Mission oder dir selbst?«

Dante zog ein beleidigtes Gesicht. »Ja, ich hab Spaß, Chloe, aber falls du es vergessen haben solltest: Ich bin heißer darauf als jeder andere hier, dass diese Mission Erfolg hat.«

»Stimmt«, gab Chloe zu und hob beschwichtigend die Hand. »Ich frage mich nur, wie wir deine Beziehung zu Anna nutzen können, um Joe auf Lauren aufmerksam zu machen. Könntest du Joe zum Beispiel flüstern, dass Lauren auf ihn steht, und ihr arrangiert so eine Art Double-Date oder geht zusammen shoppen? Wenn ihr am Wochenende was unternehmen wollt, kann ich euch gerne in die Einkaufszentren von Exeter fahren oder ins Kino oder so.«

»Könnte klappen«, nickte Dante.

»Gut, dann ist das für heute in der Schule und für das ganze Wochenende eure Aufgabe«, meinte Chloe. »Und, James, wie sieht es bei dir aus?«

James zuckte mit den Achseln. »Ich gehe aufs Oberstufencollege, und an manchen Abenden bin ich mit ein paar Leuten in der Marina-Heights-Anlage oder am Strand. Wenn ich sechs Monate Zeit hätte, könnte ich bestimmt einige Verbindungen herstellen und mich an die Bandits-Organisation herantasten. Aber es muss ja schnell gehen, und mir sind die Hände gebunden.«

»Jetzt fang nicht schon wieder mit dieser blöden Kawasaki an!«, stöhnte Lauren.

»Was ist mit Nigel?«, fragte Chloe. »Er verkauft Drogen. Wir wissen, dass die Bandits den Drogenhandel hier in der Gegend kontrollieren. Kannst du herausfinden, von wem er das Zeug bekommt?«

»Irgendwann schon«, nickte James. »Aber so was kann man schlecht nach vier Tagen fragen. Erst recht nicht, wenn ich selbst kein Dope rauche.«

»Wie wäre es mit einem Deal?«, schlug Dante vor. »Du weißt schon, du erwähnst, dass ein paar Freunde in London Interesse an Nigels gutem Stoff haben. Entweder will er das selbst übernehmen oder er bringt dich mit jemandem in Kontakt, der höher in der Verkaufskette steht.«

»Könnte funktionieren«, stimmte James zu. »Aber da würde ich auch nur mit jemandem in Kontakt kommen, der ein klein wenig höher steht als Nigel selbst. Wahrscheinlich irgendein kleines Licht vom Monster Bunch, das den Stoff für ein paar andere Kids wie Nigel organisiert. Ich bin immer noch der Meinung, dass die Möglichkeit, die ich am Montag erwähnt habe und über die Chloe seitdem nachdenkt, am schnellsten zu Ergebnissen führen würde.«

Lauren schüttelte den Kopf. »James, seit du vor drei Jahren aus Arizona zurückgekommen bist, willst du ein schickes Motorrad. Das ist doch das Einzige, worum es dir hier geht.«

»Schwachsinn«, fuhr James auf, der die Geduld verlor. »Ich habe euch doch erklärt, wie es funktioniert. Wir gehen da hin, Chloe versichert, dass wir uns das Bike nicht leisten können, wenn ich keinen Job kriege, und Rhino spricht mit Teeth, der mir dann irgendeinen beschissenen Job in der Marina-Heights-Anlage besorgt. Genau da, wo die Bandits und die anderen Gangs abhängen.«

»Und warum bewirbst du dich nicht einfach um einen Job?«, fragte Dante.

»Weil das hier Devon ist«, antwortete James. »In London ist es vielleicht möglich, in irgendeinen FastFood-Laden zu spazieren, ein Formular auszufüllen und den Job zu kriegen, aber Devon und Cornwall haben die höchste Arbeitslosenrate des Landes. An meiner Schule gibt es hundert Leute, die für irgendeinen Nebenjob töten würden.«

Chloe seufzte geräuschvoll. »Ich habe mit Zara darüber gesprochen. Sie meint, es sei meine Entscheidung und ich müsse absolut sicher sein, dass du verantwortlich mit einer so starken Maschine umgehst.«

»Dann lass es uns doch verdammt noch mal tun!«, brüllte James, schlug sich auf die Oberschenkel und sprang auf.

Chloe wich zurück, und James bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Er war mittlerweile alt genug, um auch Erwachsene einschüchtern zu können, aber daran dachte er nicht immer.

Als Ex-Cherub erholte sich Chloe jedoch schnell von dem Schrecken über James′ Ausbruch, trat auf ihn zu und piekte ihn in die Brust.

»Ich habe deine Akte gelesen, James Adams«, sagte sie, und ihr Tonfall ließ darauf schließen, dass mit ihr bei diesem Thema nicht zu spaßen war. »Du bist ein guter Agent, aber deine Entscheidungsprozesse sind durchaus verbesserungswürdig. Wenn ich dir erlaube, dieses Motorrad zu fahren, und du losziehst und irgendeinen Mist baust, verliere ich meinen Job. Und da ich auf dem Campus wohne, verliere ich damit auch mein Zuhause und meine Freunde.«

»Tut mir leid, dass ich laut geworden bin«, entschuldigte sich James, hob die Hände und setzte sich wieder auf seinen Barhocker am Küchentresen. »Du drückst auf die Tube und ich versuche nur klarzumachen, wie ich auf schnellstem Weg etwas unternehmen kann. Vielleicht bekomme ich diesen Job und stelle dann fest, dass es gar nichts bringt. Aber ich weiß, dass den Bandits Marina Heights gehört, und wenn ich an den Abenden und an den Wochenenden dort arbeite, kann ich wesentlich besser beobachten, was dort vor sich geht, als wenn ich mich mit Nigel und Ashley dort herumtreibe.«

Chloe schüttelte den Kopf und seufzte dann. »Na gut«, meinte sie schließlich. »Heute Morgen hast du Unterricht, aber ich fahre mit dir zu dem Laden und versuche, das mit dem Bike und dem Job hinzukriegen. Doch wenn ich sehe, dass du Mist baust, reiße ich dir die Eier ab!«

James wusste nicht recht, ob er angesichts Chloes finsterem Blick schlucken oder lachen sollte.

Lauren schnalzte mit der Zunge. »Du bist so ein schleimiger Feilscher, James!«

e9783641120047_i0023.jpg

Chloes Plan ging auf. Auf dem Nachhauseweg saß Lauren im Schulbus neben Joe. Er hielt ihre Hand über die Armlehne hinweg, und sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Im Vergleich zu den durchtrainierten Jungs auf dem CHERUB-Campus wirkte er mollig und war gleichzeitig anziehend naiv. Wenn seine Kumpel dabei waren, machte Joe auf cool und tat so, als sei er der große Macker, aber seine feuchten Hände und seine verlegen gestotterten Sätze ließen Lauren vermuten, dass er in Sachen Liebe bisher noch nie über eine kleine Knutscherei in der Schuldisco hinausgekommen war.

»Was möchtet ihr denn gerne machen?«, fragte Joe, als er mit Lauren, Dante und Anna zusammen einen Kilometer vor Salcombe ausstieg.

»John und Lauren wohnen etwa zehn Minuten in diese Richtung«, schlug Anna vor. »Und ihre Mum ist immer cool, wenn ich komme.«

Das gefiel Lauren ganz und gar nicht, schließlich wollte sie unbedingt ihr Ziel erreichen und ins Haus des Commanders gelangen.

»Ich bin an eurem Haus vorbeigekommen«, sagte sie zu Joe. »Ihr habt diesen coolen Panzer im Garten. Kann man da oben reinklettern?«

Joe sah verlegen drein. »Man kann die Klappe aufmachen, aber es ist nur die Karosserie. Er steht da bloß als Attrappe und ist schon total rostig und voller Wasser.«

Lauren drückte Joes Hand und bettelte mit der Stimme einer Fünfjährigen: »Oh bitte! Ich will den Panzer sehen!«

Lachend gab Joe nach. »Wahrscheinlich ist meine Mum zu Hause, aber sie ist in Ordnung. Allerdings ist unser Haus ein wenig peinlich.«

»Spannend«, fand Lauren. »Warum?«

»Ihr wisst doch, dass mein Dad der Commander ist, nicht wahr?«, fragte Joe.

Sie nickten alle, denn in der Schule wurde häufig darüber gesprochen.

»Er ist ja eigentlich ganz okay, aber er steht auf diesen ganzen Nazi-Mist. Ich meine, da ist nicht nur der Panzer. Wir haben Teppiche mit Hakenkreuzen, und auf dem Kamin steht eine Büste von Hitler.«

Anna grinste verlegen. »Ist ja abgefahren!«

»So würde ich das auch nennen«, stimmte Joe zu.

Lauren spürte, dass Joe nicht ganz überzeugt war, und küsste ihn auf den Hals.

»Seine Eltern kann man sich nicht aussuchen«, sagte sie beruhigend. »Unser Dad ist ein totaler Vollidiot.«

»Erstklassiger Blödmann«, bestätigte Dante. »Er hat unsere Mum vier Mal betrogen, bevor sie ihn endlich rausgeworfen hat und mit uns hierhergezogen ist.«

Laurens Kuss schien Joe anzuspornen. »Okay«, grinste er mit der für ihn typischen Überlegenheit. »Dann sehen wir uns die Show mal an. Ich hab auch eine X-Box und DVDs in meinem Zimmer.«

An der viel befahrenen Landstraße gab es keinen Gehweg, daher liefen sie hintereinander her, bis sie die Einfahrt zum Eagle′s Nest erreichten. Nach einem kurzen Zwischenstopp, um auf den Tank des Panzers zu klettern, gingen die Kinder ins Haus. Sofort kam Joes Mutter aus der Küche gelaufen. Das Haus war neu für Dante, da der Commander erst, nachdem er mit dem Ausbau von Marina Heights ein Vermögen gemacht hatte, eingezogen war, aber an Joes Mum konnte er sich noch gut erinnern.

Marlene Donnington war schon immer kräftig gebaut gewesen, doch in den letzten Jahren hatte sie noch an Gewicht zugelegt, und das dicke Make-up und die Solariumsbräune verbesserten ihr Aussehen nicht gerade. Aber sie war immer nett zu Dante gewesen, und bei ihrem Anblick musste er an die Grillabende der Bandits denken, an Shopping-Ausflüge und daran, wie er mit Joe in einem Zelt geschlafen hatte, als sie noch kleiner waren.

»Wie schön, dass du ein paar Freunde mitgebracht hast«, rief Marlene fröhlich. »Möchtet ihr Pepsi und Chips, oder soll ich euch ein paar Schinkensandwiches machen, wenn ihr Hunger habt? Tut mir leid, dass ich pingelig bin, aber würdet ihr im Haus bitte die Schuhe ausziehen?«

Als Dante sich die Turnschuhe auszog, fiel ihm wieder ein, wie sehr er die Sandwiches von Joes Mum gemocht hatte, weil Butter darauf war, während sich seine Mum immer nur Margarine leisten konnte.

»Oh ja, ich bin am Verhungern«, sagte Joe.

»Ehrlich gesagt, ich bin Vegetarierin«, warf Lauren ein.

»Ich auch«, fügte Anna hinzu.

»Kannst du auch ein paar andere machen?«, fragte Joe. »Schinken, Käse und Pickles oder was sonst da ist, und vielleicht ein paar Chips?«

»Heutzutage sind so viele Teenager Vegetarier«, sagte Marlene und lächelte die Mädchen an. »Ich bringe die Sandwiches in Joes Zimmer.«

»Deine Mum ist echt nett«, stellte Anna fest, als sie die Treppe hinaufgingen.

Das Haus war hübsch eingerichtet und hätte durchaus einem ganz normalen reichen Geschäftsführer gehören können, wenn man von ein paar gerahmten Bikerfotos und dem einen oder anderen Nazi-Emblem absah.

»Ist dein Dad also wirklich ein Nazi?«, wollte Lauren wissen.

»Nee«, antwortete Joe. »Er interessiert sich nur für die Geschichte und so.«

»Ich hab gehört, dass die Bandits nur Weiße in ihren Club lassen«, sagte Anna.

Joe wies auf Lauren. »Wie sie schon gesagt hat, man kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Mein Vater hat einen Haufen Mist gebaut. Manche Sachen wie die Touren und die Motorräder und so sind echt cool, aber das extreme Zeug nervt mich total.«

Dante fragte sich, ob der Mord an seinen Eltern etwas mit Joes Meinung zu tun hatte. Aber vielleicht war es auch nur die typische Entwicklung eines jeden Teenagers, der irgendwann feststellen muss, dass seine Eltern keine Götter sind. Auf jeden Fall fühlte sich Dante in Gegenwart seines alten Freundes plötzlich viel wohler, auch wenn er kaum die Chance sah, nützliche Informationen aus ihm herauszubekommen.

»Das ist also mein Zimmer«, sagte Joe und öffnete eine Tür. Er hatte ein großes Bett, einen coolen Spiele-PC und einen großen LCD-Bildschirm mit Surround-Lautsprechern.

»Hey, du verwöhntes Balg«, grinste Dante. »Diese Lautsprecher müssen ja irre laut sein!«

»Allerdings«, bestätigte Joe und nahm die DVD Bullet in a Bible von Green Day in die Hand. »Surround ist irre, willst du mal hören?«

»American Idiot«, verlangte Dante. »Das ist ein Mega-Song.«

Während die DVD die üblichen Copyright-Warnungen abspielte, ließ sich Lauren auf einen Sitzsack fallen. Anna und Dante setzten sich aufs Sofa und küssten sich, bis die Musik begann.

»Mann, ist das laut!«, schrie Lauren, aber niemand hörte sie. Sie begann zu lachen, als sie sich umdrehte und sah, dass Dante auf und ab hüpfte, Luftgitarre spielte und wie wild den Kopf schüttelte, dass seine langen Haare nur so flogen.

Joe drehte den Ton noch lauter, warf die Fernbedienung weg und sprang aufs Bett, um Dantes Show an Verrücktheit noch zu übertreffen. Lauren folgte ihm, und sie hüpften händchenhaltend auf dem Bett herum, so hoch, dass Laurens Haar gegen die Decke schleuderte.

Beim dritten Sprung verfehlte Joes Fuß das Bett und er stieß gegen Dante und Anna. Lauren wurde vom Bett gezogen und fiel auf Joe. Annas Bein war unter ihnen eingeklemmt und Dantes stinkende Socke hing vor ihrem Gesicht.

Kichernd versuchten sie, sich aus dem Knoten zu lösen, als Joes Mum mit einem Tablett mit vier Gläsern, einer Flasche Cola und einem Teller mit kleinen Sandwiches und Chips hereinkam.

»Macht die Musik leiser!«, brüllte sie, hob die Fernbedienung auf und versuchte, den richtigen Knopf für die Lautstärke zu finden. Als sie es endlich geschafft hatte, war nur noch das Lachen der vier Teenager zu hören, jetzt allerdings leicht verlegen.

»Tut mir leid«, sagte Joe, nahm seiner Mutter die Fernbedienung ab und schaltete auf stumm.

»Ihr seid schon ein verrückter Haufen«, lachte Joes Mum. »Ihr könnt wirklich gerne Spaß haben, aber das eben habe ich bis unten in die Küche gehört.«