Samstagmorgen
Die Clubs der Bandits waren weltweit vertreten. In dreiundzwanzig Ländern trugen alle Mitglieder dasselbe Abzeichen und befolgten die Regeln, die von dem Mutter-Club in Long Beach, Kalifornien, aufgestellt worden waren. Alle Mitglieder mussten eine Harley-Davidson besitzen und einen komplizierten Aufnahmeprozess durchlaufen. Sie mussten einen Mitgliedsbeitrag bezahlen, zu den wöchentlichen Treffen erscheinen, mindestens zweimal jährlich eine Tour mitmachen und den Rechtsfonds des Clubs großzügig unterstützen.
Auch die Clubs selbst unterlagen gewissen Bestimmungen. So musste jeder Club mindestens sechzehn Vollmitglieder aufweisen können, einschließlich eines Präsidenten, eines Schatzmeisters und eines Zeremonienmeisters. Das Clubhaus musste ein feststehendes Gebäude sein und einen Bereich für gesellige Zusammenkünfte, eine Motorradwerkstatt und die Möglichkeit zur Unterbringung von Gästen haben. Ein vollwertiges Mitglied der Bandits konnte jedes Clubhaus auf der ganzen Welt besuchen und dort übernachten.
Abgesehen von diesen Regeln hing viel vom Reichtum der einzelnen Clubs ab. Es gab Clubs in Argentinien, deren Clubhäuser kaum mehr als Wellblechhütten waren, während die neu errichteten Gebäude in Long Beach und South Devon mit ausgefeilter Sicherheitstechnik, Klimaanlagen und bequemen Unterkünften aufwarten konnten, auch wenn Letztere im Hinblick auf Sauberkeit wahrscheinlich nicht viele Mütter überzeugt hätten.
Zwischen diesen beiden Extremen lag der Londoner Club. Das Clubhaus war ein Pub in der Nähe des Bahnhofs King′s Cross. In den 60er-Jahren hatte man es für ein paar hundert Pfund gekauft, als es noch von Trümmerfeldern umgeben war. Doch jetzt stachen die Sicherheitskameras und zugemauerten Fenster unter niedrigen Bürogebäuden und billigen Hotels hervor. Gelegentlich kamen ein paar Touristen von einem Spaziergang am Kanal herüber und ließen sich vor dem gemalten Bandits-Logo und den chromblitzenden Maschinen fotografieren.
Der Club in London wurde rund um die Uhr bewacht. An den Kontrollmonitoren saß ein älterer Biker namens Pikey, der in einem Zimmer im Dachgeschoss wohnte. Pikey hatte durch eine Lungenentzündung die eine Hälfte seiner Lungen verloren, und als er sich jetzt über das Geländer beugte, um in die enge Bar nach unten zu rufen, keuchte er ein wenig.
»Da ist ein Paki an der Sprechanlage, der zu dir will, Boss!«
Sealclubber stank nach Alkohol und Zigaretten. Er hatte bis um drei Uhr morgens gepokert und war dann auf einer Matratze in seinem Präsidentenbüro eingeschlafen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die Stiefel auszuziehen.
Die stahlverstärkte Eingangstür hatte ein elektronisches Schloss, gegen das sich der Undercover-Agent George Khan jetzt stemmte, als der Türsummer ging. Hinter der Tür erwartete ihn ein schäbiger Pub, dessen Teppich schwarz von Dreck und Zigarettenstummeln war. Der Poolbillard-Tisch und die Spielautomaten sahen neu aus, während die Theke herausgerissen worden war, um Platz zu schaffen. Essen und Getränke waren frei, aber Nicht-Mitglieder, die das Clubhaus verließen, ohne ein paar Scheine in die Spendenbüchse an der Tür zu stecken, liefen Gefahr, mit einem Stiefel oder einer Faust Bekanntschaft zu machen.
»Früher hatten wir hier Probleme mit Ratten, aber die sind inzwischen angewidert abgezogen«, erklärte Sealclubber, als George eintrat. »Ich muss Sie bitten, sich auszuziehen.«
Solche Durchsuchungen waren für jeden obligatorisch, der ein Clubhaus aus geschäftlichen Gründen betrat. Die beiden anderen Bandits, die an einem der Tische saßen, musterten George finster, als er sein T-Shirt über den Kopf zog und seine Shorts ebenso fallen ließ wie seine Sporttasche, um Sealclubber zu beweisen, dass er keine Abhörgeräte am Körper trug.
»Legen Sie Schlüssel und Handy auf den Tisch«, verlangte Sealclubber. »Vorsichtshalber.«
Dann führte er George durch eine niedrige Seitentür. Die Wände von Sealclubbers Büro waren von Fotos, Zeitungsausschnitten und Notizzetteln übersät. George schauderte, als ihm die überwältigende Mischung von Zigarettengestank und Sealclubbers Körpergeruch in die Nase stieg, und entdeckte entsetzt die fleckige Matratze.
»Können wir hier ungestört reden?«, erkundigte er sich und setzte sich in einen kaputten Sessel, während sich Sealclubber hinter den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch niederließ.
»Wenn ich nicht hier bin, ist das Büro verschlossen«, erklärte Sealclubber. »Das gesamte Clubhaus wird wöchentlich nach Wanzen abgesucht, und ich mache seit dreiundachtzig in diesem Büro Geschäfte, ohne dass auch nur das Geringste passiert wäre.«
George nahm ein Bündel Bargeld aus der Sporttasche. »Es sind aber nur zweiundvierzigtausend«, bekannte er nervös.
Sealclubber lehnte sich auf seinem Stuhl vor. »Dreiundsechzig«, knurrte er. »Ich verhandle für Sie über sechshunderttausend, und Sie kriegen nicht mal die zehn Prozent Anzahlung zusammen?«
»Ich könnte es bis Montag haben«, erklärte George. »Es geht nicht so sehr darum, das Geld aufzutreiben, sondern es so zu transportieren, dass es nicht den Geldwäschekontrollen in die Hände fällt.«
Sealclubber schnalzte mit der Zunge. »Ich fahre heute nach Devon, und ich habe meinem Kontaktmann gesagt, dass ich die gesamte Anzahlung mitbringe.«
»Ich kann mich nur entschuldigen«, sagte George. »Aber ich werde es wiedergutmachen. Sie bekommen die restlichen einundzwanzigtausend am Dienstag. Und darüber hinaus fünfhundert Pfund extra für die Mühe, dass Sie noch jemanden dorthin schicken müssen.«
»Fünfhundert plus Spesen«, verlangte Sealclubber. »Zugticket erster Klasse und Taxikosten, machen Sie also am besten gleich tausend draus.«
George wusste zwar, dass Sealclubber ihn über den Tisch zog, aber deswegen würde er sich bestimmt nicht streiten.
»Ich weiß Ihre Flexibilität zu schätzen.«
Sealclubbers Blick fiel auf eine halb leere Flasche Rebel-Yell-Bourbon auf dem Tisch, und er schüttete etwas davon in ein schmutziges Glas.
»Ihr trinkt ja wohl nicht, oder?«
»Nein, vielen Dank«, lehnte George ab.
»Solche muss es auch geben«, lächelte Sealclubber. »Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass Ihre Lieferung sich ebenfalls ein paar Tage verschiebt, wenn ich nicht die ganze Anzahlung mitbringe.«
Die CHERUB-Agenten brauchten so viel Zeit wie möglich. Genau diese Worte hatte George hören wollen.
»So etwas passiert«, meinte Sealclubber. »Aber vielleicht sind meine Kontaktleute nicht ganz so verständnisvoll wie ich. Wenn Sie noch mal zu spät zahlen, könnten die den Preis heraufsetzen oder die Anzahlung einfach einbehalten. So weit es mich betrifft, geht mich das überhaupt nichts weiter an. Ich bin nur der Vermittler bei diesem Geschäft.«
»Ich weiß«, nickte George. »Sobald der Deal abgemacht ist und wir einen Termin für die Lieferung haben, kann ich die Vorbereitungen für den nächsten Geldtransfer treffen.«
Sealclubber grunzte. »Die nächste Zahlung beträgt vierzig Prozent, sobald wir uns über einen Liefertermin einig sind. Der Rest wird bei Lieferung fällig.«
»Damit kann ich leben«, meinte George. »Gut«, nickte Sealclubber. »Bevor wir losfahren, kommen noch eine Menge Leute her, und offiziell darf ich Nicht-Weiße hier nicht einmal reinlassen, also sollten Sie besser verschwinden.«
Bevor George aufstand, tat er so, als müsse er husten, und spuckte dabei einen Kaugummi mit einem winzigen Abhörgerät in seine Hand, um es unter den Stuhl zu kleben. In der Bar bemerkte er, dass seine Schlüssel und das Handy bewegt worden waren, und beim Hinausgehen stellte er fest, dass jemand seinen letzten Anruf mit der Wiederwahltaste überprüft hatte.
Doch das Handy war ihm von CHERUB zur Verfügung gestellt worden, sodass alle persönlichen Kontakte und Nachrichten darauf falsch waren. Sobald George sich vom Pub entfernt hatte, tippte er #611042# ein, wodurch sein Telefon zum Empfänger wurde.
Während George am Kanalufer entlangging, lauschte er der Unterhaltung von Pikey und Sealclubber.
»Zweiundvierzigtausend«, meinte Sealclubber. »Ich bin drauf und dran, dem Commander nichts davon zu sagen und das Geld zu behalten.«
Pikey klang zurückhaltend. »Man weiß nie, wie diese Asiaten drauf sind. Wenn wir diesen Paki hereinlegen, kommt möglicherweise ein ganzer Schwarm von ihnen aus Birmingham eingeflogen und legt sich mit uns an. Oder sie setzen einen Preis auf unsere Köpfe aus.«
»Er ist doch nur ein Junge«, meinte Sealclubber.
»Aber wer steht hinter ihm?«, gab Pikey zurück. »Wir wissen nur, dass sie sechshunderttausend in die Finger kriegen können. Das heißt, dass sie ganz tief im Drogengeschäft stecken und wahrscheinlich nicht davor zurückschrecken, sich mit ein paar alten Säcken in Lederjacken anzulegen.«
»Da hast du recht«, lachte Sealclubber. »Nehmen wir also unsere fünfzehn Prozent, und dann kann sich South Devon um die ganze Scheiße kümmern. Hast du Lust, mit uns nach Devon zu fahren?«
»Ich passe lieber hier auf«, erwiderte Pikey. »Zurzeit bekommt das Bike meinen Hämorriden gar nicht.«
Rhino ließ seinen Charme spielen, als ihm Chloe gegenübersaß und eine in Sechs-Punkt-Schrift ausgedruckte Kreditvereinbarung durchlas.
»Das ist alles ganz seriös«, versicherte er ihr. »Eine Standardvereinbarung zwischen Ihnen und der Midland Retail Kreditanstalt.«
»Das heißt, es wird kein Biker vor meiner Tür auftauchen und damit drohen, mir die Kniescheiben zu zertrümmern, falls ich nicht zahlen kann?«, lächelte Chloe.
»Natürlich nicht«, wehrte Rhino ab, als Chloe ihre Unterschrift in ein Kästchen setzte. »Und noch zwei Mal auf der Rückseite«, fügte er hinzu. »Und dann brauchen wir noch die Unterschrift eines Erwachsenen für die Versicherung.«
James stand mit einem breiten Grinsen im Hintergrund, als ein Mechaniker mit seinem neuen 500ccm Sahnestück eine Rampe hinunterkam, um den Motor zu drosseln.
»Sehen Sie zu, dass es nicht funktioniert!«, flüsterte James und der Mechaniker zwinkerte ihm zu.
»Sie sind also eben erst hergezogen?«, erkundigte sich Rhino.
»Ich habe mich von meinem Mann getrennt«, erklärte Chloe, »eine schöne fette Scheidungsabfindung bekommen und musste einfach aus London raus.«
»Hab schon davon gehört«, lächelte Rhino. »Aber Sie können doch unmöglich James′ Mutter sein, so jung wie sie aussehen.«
»Sie schmeicheln mir«, antwortete Chloe. »Sehen Sie sich nur mal meine grauen Haare an!«
»Heute Abend steigt im Clubhaus der Bandits eine große Party. Hätten Sie Lust, hinzukommen?«
Chloe zögerte. Natürlich war ihr klar, dass das für die Mission nur förderlich sein konnte, aber immerhin spielte sie die Exfrau eines Börsenmaklers und durfte nicht zu allzu schnell auf eine Biker-Einladung eingehen.
»Kommen Sie, seien Sie locker«, forderte Rhino fröhlich. »Wann waren Sie denn das letzte Mal auf einer echt irren Party?«
Chloe musste lachen. »Das ist schon eine Weile her und ich schätze, im Clubhaus der Bandits geht es etwas lebhafter zu als auf den Cocktailpartys in Primrose Hill.«