Zwölf Abende nach seinem ersten Versuch am CrêpeStand hatte James nicht nur die runden Platten im Griff, sondern wusste auch, wie man einen Cappuccino oder eine Latte macchiato aufbrühte, ohne sich die Finger an der Dampfdüse zu verbrennen, und ansonsten möglichst beschäftigt auszusehen, wenn Teeth oder einer der anderen Manager vorbeikamen und zusätzliche Hilfe brauchte, um Tische abzuwischen oder Mülleimer auszuleeren.
Ausgerechnet den sechzehnjährigen Sohn des Commanders als »Boss« zu bekommen, war ein ziemlich unerwarteter Bonus gewesen, und James hatte sich rasch mit Martin angefreundet. Allerdings hielt Martin sich so gut es ging von seinem alten Herrn fern, und obwohl er und James sich am Stand stundenlang unterhielten, hatte der CHERUB-Agent bisher noch keine nützlichen Informationen erhalten.
Martin war wegen seiner Homosexualität so sehr in der Schule schikaniert worden, dass er sie noch vor den Abschlussprüfungen geschmissen hatte und jetzt sieben Tage die Woche am Crêpe-Stand arbeitete, um Geld für eine Weltreise mit einem Freund zu sparen.
Der Commander war natürlich alles andere als stolz darauf, dass sein Sohn schwul war, aber Marlene Donnington beschützte ihren Sohn, und sein Familienname zählte nach wie vor etwas: Als Imbissmanager verdiente Martin gutes Geld, und im Vergleich zu den wesentlich anstrengenderen Jobs im Diner oder am Fish&Chips-Stand war die Leitung des Crêpe-Stands ein Kinderspiel.
»Und wie läuft′s mit Ashley?«, fragte Martin. Es war kurz nach acht und der Himmel hatte sich orange verfärbt. Martin rauchte vor dem Crêpe-Stand eine selbstgedrehte Zigarette, während sich James von innen auf die Theke lehnte und versuchte, sich im Luftstrom des kleinen Plastikventilators, der auf dem Kühlschrank stand, etwas abzukühlen.
»Sie ist nett«, antwortete James. »Und witzig.«
»Und tut sich was?«
»Nee, so viel Glück hab ich leider nicht«, seufzte James. »An den Samstagabenden raucht sie zwar jede Menge Dope, aber dafür geht sie auch jeden Sonntagmorgen zur Beichte, und ihre Eltern haben ihr diesen ganzen Mist über Liebe und Ehe eingetrichtert.«
Lachend schnippte Martin seinen Zigarettenstummel über den Rand der Promenade und betrat dann wieder den drückend heißen Stand. »Dann bin ich ja wenigstens nicht der Einzige hier, der unter sexuellem Notstand leidet.«
James grinste breit. »Weißt du was? Leg dich über den Tresen, zieh die Hosen runter und ich besorg′s dir!«
»Oh, ja, nur zu gerne«, erwiderte Martin gespielt tuntig.
In diesem Moment klopfte jemand mit einem Fünfzig-Pence-Stück auf die Theke. James wandte sich um und fing den finsteren Blick einer Mutter in den Dreißigern auf, die ein kleines Mädchen im Arm hielt.
»Ich glaube kaum, dass eine solche Unterhaltung angemessen ist, oder?«, fragte sie gereizt.
»Natürlich nicht, tut mir leid«, entschuldigte sich James hastig und räusperte sich mit einer Hand vor dem Mund, um sein Grinsen zu verbergen. »Was hätten Sie denn gerne?«
»Verkauft ihr Eis?«
James schüttelte den Kopf und wies auf eine Schlange von Leuten. »Zwei Stände weiter«, erklärte er.
Die Frau deutete auf die Eisbehälter. »Und was ist das?«
»Wenn Sie eine Crêpe mit Eis haben möchten, dann bin ich Ihr Mann«, bot James freundlich an.
»Sie werden ganz frisch gebacken und sind einfach köstlich«, warf Martin ein. »Aber wir haben keine Waffeln für das Eis, wenn Sie so etwas möchten.«
»Ihr könntet eine Kugel in einen Kaffeepappbecher geben.«
James und Martin sahen einander an. »Das geht nicht«, erklärte Martin schließlich. »Dafür habe ich keinen Knopf an der Kasse.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, hier wäre viel mehr Betrieb, wenn ihr Eis verkaufen würdet«, meinte sie, bevor sie sich dann zögernd zur Schlange am Eisstand begab.
»Genau deswegen machen wir es ja nicht, du blöde Kuh«, sagte Martin, gähnte und streckte sich demonstrativ.
»Nachdem du jetzt deine Zigarettenpause gehabt hast, hättest du was dagegen, wenn ich auch mal Pause mache?«, fragte James.
»Ist sowieso nichts los«, entgegnete Martin mit einem Blick auf die Uhr. »Nimm dir eine halbe Stunde, aber komm dann wieder, falls doch noch mehr Leute aufkreuzen.«
»Alles klar, Boss«, lächelte James und öffnete die Tür des Crêpe-Standes.
Doch schon nach fünf Schritten verschwand sein Lächeln abrupt, als er ausgerechnet Noelene in die Arme lief. Die Stickerei auf ihrem eng sitzenden Poloshirt wies sie als Schichtleiterin aus, und sie versprühte jene Art von disziplinierter Betriebsamkeit, die sie bei ihren jugendlichen Mitarbeitern so verhasst machte.
»Wo willst du hin, James?«, fragte sie mit schwerem neuseeländischem Akzent.
Hätte James sein Gehirn angestrengt, wäre es ein Leichtes gewesen, ihr zu erzählen, er sei auf dem Weg in den Kühlraum hinter dem Diner, um frischen Pfannkuchenteig oder Eis zu holen, aber stattdessen war er völlig überrumpelt und stammelte nur etwas von einer Zehn-Minuten-Pause.
»Oh nein, kommt nicht in Frage, mein Kleiner«, grinste Noelene und wies mit ihren langen Nägeln, die passend zu ihrem Poloshirt lackiert waren, in Richtung Diner. »Ich hab eine riesige Essensbestellung, die rüber ins Clubhaus der Bandits gebracht werden muss, und zwar sofort. Und sieh dich nur mal um, wie viel hier los ist: Ein Dutzend Tische oder noch mehr müssen abgeräumt werden. Findest du es wirklich richtig, jetzt Pause zu machen, wenn alle deine Kollegen so viel zu tun haben?«
James seufzte auf. »Ich hole das Essen.«
»Mir gefällt deine Einstellung nicht, Mr Raven«, erklärte Noelene, als James zum Restaurant schlenderte. »Und zieh dir gefälligst die Hosen hoch, dass man deine Unterwäsche nicht sehen kann. Das hier ist keine Skateboardbahn!«
Skatepark, du fette Kuh, dachte James, als er das Restaurant betrat. Im Diner ging es hoch her und James nickte ein paar von Laurens und Dantes Freunden zu, während ihm der Geruch von Bratfett und Pickles in die Nase stieg. Auf einem doppelstöckigen Servierwagen stapelten sich Schachteln mit Donuts, Brathähnchen, Burger, und auch ein paar Teller aus dem chinesischen Restaurant am anderen Ende der Promenade standen darauf.
Aus der Küche kam ein schwarzer Koch geflitzt und gab noch drei große Pizzaschachteln obenauf.
»Jetzt aber schnell«, riet er James grinsend, »wenn du keine nähere Bekanntschaft mit ihren Stiefeln machen willst. Bei kaltem Essen sind die Bandits empfindlich.«
»Verstehe«, antwortete James.
Das Clubhaus war zwar nicht weit weg, aber erst als James aus dem Diner trat, stellte er fest, dass er mit dem Servierwagen gar nicht die Treppe hinunterkam. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den ewig langen Umweg über die Behindertenrampe vor dem Gebäude zu nehmen und dann um alle Läden herumzugehen, bis er wieder auf die Rückseite und zum Clubhaus gelangte.
Als er endlich im Clubhaus ankam und durch die Halle ging, waren bereits volle fünf Minuten vergangen. An vereinzelten Tischen saßen ein paar Bandits-Anwärter, Freundinnen und Mitglieder der Anhänger-Gangs. Die Vollmitglieder trafen sich in einem Hinterzimmer. Nervös klopfte James an die Tür.
Die Tür schwang auf, und von seinem Platz am Kopfende des Tisches dröhnte der Commander: »Boy!«
Zigarettenqualm kräuselte sich bis zur Decke. Über zwanzig Bandits saßen auf edlen Walnussholz-Lederstühlen, und wären da nicht ihre Kleidung und die Sammlung mittelalterlicher Waffen und Folterinstrumente an der Seitenwand gewesen, hätte es sich ebenso gut um eine Vorstandssitzung handeln können.
Die Räder des Servierwagens gruben sich in den dicken grünen Teppich, als James ihn zum Commander schob. Er erkannte Teeth und bemerkte, dass Sealclubber und zwei weitere Londoner Bandits anwesend waren, was mit Sicherheit bedeutete, dass sie die nächste Zahlung für den Waffendeal, 40 Prozent, dabeihatten.
James erschrak, als der Commander aufstand, ein zwanzig Zentimeter langes Messer aus seinem Stiefel zog und sich vor ihm aufbaute.
»Ist das wirklich alles, was wir bestellt haben?«, wollte er wissen. »Und ist es auch richtig heiß?«
Zu James′ Entsetzen zückte ein weiterer Bandit ein noch größeres Messer und positionierte sich hinter ihm.
»Ich hab nicht gekocht«, stieß er hervor. »Aber ich bin so schnell herübergelaufen, wie ich konnte.«
Er versuchte, sich einzureden, dass nicht einmal die Bandits so wahnsinnig waren, irgendeinen Teenager umzubringen, der ihnen einfach nur ihr Essen brachte. Aber es war trotzdem alles andere als einfach, ruhig zu bleiben, wenn man von zwei Verrückten mit riesigen Messern in die Mangel genommen wurde.
Der Commander klappte eine Pizzaschachtel auf, schnitt mit seinem Messer ein Stück einer Pizza Hawaii ab und nahm einen Bissen davon.
»Lauwarm«, beschwerte er sich und packte James am Kragen seines Poloshirts.
Die anderen Bandits zischten empört.
»Bring den Lieferboy um!«, rief einer, aber ein paar andere kicherten und verrieten damit ihr Spielchen.
Der Commander hielt sein Messer direkt vor James′ Augen.
»Diesmal werde ich noch Gnade walten lassen, aber wenn du mir das nächste Mal mein Essen bringst, dann rate ich dir, noch etwas mehr außer Atem zu sein!«
Mit diesen Worten stieß er das Messer in die Wand neben James′ Kopf und ließ den Griff los. Als James vor dem wippenden Messer zurückwich, befahl ihm der Biker, der hinter ihm stand, die Hände aufzuhalten, und gab ihm dann einen Haufen Münzen und ein paar Fünf-Pfund-Scheine. James schätzte, dass es insgesamt mindestens zwanzig Pfund waren.
»Dein Trinkgeld«, erklärte der Bandit.
»Hast dich gar nicht mal schlecht gehalten«, lachte der Commander. »Wisst ihr noch, wie der eine Junge auf den Knien darum gebettelt hat, dass wir ihn nicht umbringen?«
Die anderen grölten, während James schnell die Schachteln auf dem Tisch verteilte und dann seinen leeren Servierwagen durch die Tür schob. Als er hinauskam, sahen ihn die Leute an den Tischen in der Halle neugierig an.
»Na, haben sie es dir schwer gemacht?«, lächelte eine hübsche Frau in einem engen rosa Top. »Sie lieben es, ihre Witze zu machen, wenn ein neuer Lieferant kommt.«
James fand es nicht gerade lustig, wenn ein Haufen Idioten in Lederkluft mit Messern vor seiner Nase herumwedelte. Aber seine Aufgabe war es nun mal, sich mit so vielen Bikern wie möglich anzufreunden, und das bedeutete, dass er ihre Witze lustig finden musste. Also nickte er grinsend und tat so, als sei das keine große Sache, während er den Wagen zum Ausgang schob.
Als er schon fast an der Tür war, trat vor ihm aus dem Gang zur Herrentoilette jemand, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er trug eine merkwürdige Kombination aus Retro-Studentenklamotten, lange schwarze Cordhosen, einen langen Schal und eine dreiviertellange Lederjacke mit dem Abzeichen des Monster Bunch auf dem Rücken. James nickte ihm zu.
»Du bist James, oder?«, fragte der Typ. »Ich bin Nigels Bruder.«
James gab ihm die Hand, und da fiel ihm die Ähnlichkeit mit Nigel auf. »Will, nicht wahr? Bist du von der Uni zurück?«
»Seit gestern Abend«, erklärte Will. »Mein Bruder hat mir erzählt, dass du Interesse hättest, mit deinem Motorrad nach Cambridge zu fahren, zur Rebel Tea Party.«
James nickte.
»Ich würde die Maschine gerne mal richtig ausfahren, aber da Nigel nur eine 250er hat, wird daraus wohl nichts werden.«
Will zuckte mit den Achseln. »Ich hab Nigel angeboten, im Auto eines Freundes mitzufahren, aber er hat gesagt, er hätte dieses Wochenende sowieso schon was anderes vor. Er meinte aber, du seiest echt cool, also, wenn du willst, kannst du hinter dem Monster Bunch herfahren. Ich kann nicht den Babysitter für dich spielen, aber ich kann dich einer Menge Leute vorstellen, und wer weiß, wohin es führt, wenn dich die anderen Mitglieder erst mal kennen?«
James wollte diese Tour unbedingt mitmachen, nicht nur, weil es für die Mission von Vorteil war, sondern vor allem als Ausrede dafür, endlich eine lange Fahrt mit seinem Bike zu unternehmen.
»Klingt wirklich gut«, lächelte er und versuchte dabei, nicht allzu enthusiastisch auszusehen. »Ich muss das noch mit meiner Mum besprechen, aber ich bin sicher, sie ist einverstanden.«