Lauren, Joe, Dante und Anna waren in ihrer Freizeit fast unzertrennlich. Sie waren mit dem Zug nach Exeter gefahren, um zu shoppen, sie waren im Kino gewesen, und Joe hatte an einem Sonntagmorgen sogar versucht, Lauren das Surfen beizubringen. An den Wochentagen verbrachten sie ihre Zeit mit weniger spannenden Dingen: Sie gingen zur Schule und machten danach zusammen ihre Hausaufgaben.
Wenn das Wetter gut genug war, trafen sie sich abends meist am Strand und bildeten zusammen mit einigen Mitschülern eine solch lärmende Gruppe, dass die dort spazierenden Paare versuchten, ihnen aus dem Weg zu gehen. Später dann gingen sie hinauf zur Marina-Heights -Anlage, um an den Imbissständen etwas zu essen.
Die Straße zwischen dem Strand und der Anlage war gepflastert und wand sich im Zickzack den Hang empor, damit die Steigung nicht zu steil wurde. Die Kinder nahmen jedoch lieber den direkten Weg und ignorierten das »Vorsicht Steinschlag«-Schild einfach, indem sie über eine niedrige Mauer sprangen und einen steilen Pfad hinaufkletterten.
Im Laufe der Jahre hatte es zwar immer wieder Unfälle gegeben, und vielen Kindern – darunter auch Joe – war es von ihren Müttern verboten worden, diesen Weg zu nehmen, aber natürlich taten sie es trotzdem. Die Mädchen konnten immer noch auf die Ausrede zurückgreifen, dass sie hochhackige Schuhe oder Sandalen trugen, aber als Junge war es unmöglich, den sicheren Weg zu gehen, ohne gnadenlos ausgelacht zu werden.
Während die Jungs wie üblich vorausliefen, gefährliche Abkürzungen nahmen, einander schubsten und jede Menge Lärm machten, gingen Lauren und Anna zusammen mit drei anderen Mädchen den steilen Pfad entlang, setzten vorsichtig die Füße auf die lose Erde und unterhielten sich über ihren gut aussehenden Kunstlehrer.
»Alle stehen auf Mr Zipf«, bemerkte Anna. »Aber er ist irgendwie krass. Es ist einfach viel zu auffällig, wie er mit diesen Schülerinnen aus der Elften flirtet.«
»Er ist auch nur ein Mann«, bemerkte Lauren. »Und Männer sind im Prinzip nichts anderes als behaarte Spermaklumpen.«
Ihre Freundinnen lachten.
»Jedenfalls gefällt mir dein Bruder James viel besser als Mr Zipf«, erklärte ein Mädchen namens Penny. »Er darf mir jederzeit gerne eine Crêpe backen.«
»Das macht die Schürze«, nickte Anna. »Jungs in Schürzen sind sexy.«
»Sprich bitte nicht so von meinem Bruder«, schauderte Lauren. »Igitt!«
Dante und Joe saßen zusammen mit zwei anderen Jungen bereits fünfzehn Meter weiter oben auf einer Leitplanke am Ende des Pfades.
»Ich verhungere gleich!«, beschwerte sich Dante. »Schwingt endlich eure fetten Hintern hier rauf, aber schnell!«
Bevor Lauren auf die Beleidigung reagieren konnte, wurde sie von einer SMS von Rat abgelenkt: Können wir wenigstens darüber reden?
Lauren war sich noch nicht sicher, ob sie sich mit Rat versöhnen wollte, wenn sie zum Campus zurückkam, aber sie wollte ihn auf jeden Fall schwitzen lassen und löschte die Nachricht, ohne zu antworten.
Nachdem alle Teenager über die Leitplanke geklettert waren, überquerten sie die einspurige Ausfahrt der Marina-Heights-Anlage und liefen eine Grasböschung zur Promenade hinauf. Einer von Joes Freunden riskierte es, den Zorn der Sicherheitsbeamten auf sich zu ziehen, nahm Anlauf und schoss auf seinem Skateboard davon.
»Angeber«, kommentierte Joe und versuchte, Lauren den Arm um die Taille zu legen, doch Anna packte sie und zog sie außer Reichweite.
»Wir müssen aufs Klo«, behauptete sie energisch. »Wir sehen uns oben an den Ständen, Jungs.«
»Wohin gehen wir denn?«, wollte Lauren wissen, als sie außer Hörweite waren.
»Mach deine Knöpfe auf und zeig ein bisschen Dekolleté«, verlangte Anna.
Lauren erkannte, dass sie sich Annas Bruder Nigel und seinem Freund Julian näherten.
»Warum?«, fragte sie.
»Ich muss mir von Nigel Geld leihen«, erklärte Anna. »Und es ist wissenschaftlich erwiesen, dass der Verstand bei Jungs um dreißig Prozent nachlässt, wenn sie Brüste sehen können.«
»Und was ist mit deinen Brüsten?«, wollte Lauren empört wissen.
»Nigel ist mein Bruder!«, stellte Anna klar. »Das wäre doch echt ekelhaft!«
Zögernd öffnete Lauren zwei weitere Knöpfe ihrer Bluse, während sie hörte, wie Julian und Nigel heftig miteinander stritten.
»Ich kann dir alles zurückzahlen«, sagte Julian gerade zu Nigel.
»Aber ich brauche jemanden mit einem Auto«, erklärte Nigel. »Komm schon, ich erlasse dir die Hälfte deiner Schulden, und du kriegst dein Gras auf Pump. Das ist ein echt gutes Geschäft.«
»Ich weiß nicht recht«, meinte Julian und schüttelte seinen Lockenkopf. »Lass mir etwas Zeit zum Überlegen.«
Lauren witterte eine interessante Spur – ein Bikerfreund wie Nigel unterhielt sich mit jemandem über Geld, Gras und Autos –, doch dummerweise unterbrach Anna das Gespräch.
»Hi Nigel«, begrüßte sie ihren Bruder zuckersüß.
»Verschwinde, Anna«, fuhr Nigel sie an. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich dir kein Geld leihe.«
»Ach bitte«, bettelte Anna. »Ich bin echt so was von pleite!«
Nigel erblickte Lauren und grinste. »Bei dir sind aber eine ganze Menge Knöpfe offen. Da werden dich alle möglichen Perversen anstarren.«
Anna verpasste ihrem Bruder einen Schlag auf den Arm, während Lauren verlegen ihre Bluse zuknöpfte.
»Nigel, wenn du mir nicht zwanzig Pfund gibst, erzähle ich Mum, wo du deine Vorräte versteckst und dass du morgen die Schule schwänzt, weil du mit Lockenköpfchen hier irgendwas ganz Schlimmes ausliefern musst.«
Nigel sah seine Schwester finster an. »Woher weißt du das?«
Anna grinste. »Wenn man sich auf dem Block neben dem Telefon was mit Kugelschreiber notiert, kann man auf der nächsten Seite noch alles lesen.«
»Oh verdammt!«, stieß Nigel hervor. »Bitte sag jetzt, dass du das abgerissen hast, bevor Mum es gesehen hat!«
Anna lächelte. »Natürlich habe ich das«, antwortete sie. »Geschwister müssen doch schließlich zusammenhalten, nicht wahr?«
Widerwillig zog Nigel sein Portemonnaie aus der Jeans und reichte Anna zwei Zehn-Pfund-Scheine.
»Kann ich das behalten?«, fragte Anna zuckersüß.
»Ich muss los, Nigel«, sagte Julian und wandte sich zum Gehen.
»Nein, musst du nicht, du schleimiger Aal!« Nigel packte ihn am Arm. »Ich meine es ernst, Julian. Wenn du dein Versprechen nicht hältst, sitze ich total in der Scheiße, und dann verkaufe ich deine Schulden an Dirty Dave. Dann wirst du schon sehen, was passiert, wenn du ihm deine Schulden nicht bezahlst.«
Lauren war gespannt, um was genau es bei Julians und Nigels geheimen Aktivitäten wohl ging. Es war klar, dass es sich um irgendetwas Illegales handelte. Aber Anna hatte nur ihr eigenes Geld im Kopf.
»Kann ich das behalten?«, ließ sie nicht locker und setzte ihr schönstes Kleine-Schwester-Lächeln auf.
»Behalt es«, stöhnte Nigel genervt. »Und Lauren, ich bin morgen nicht in der Schule. Kannst du James bitten, mir die Hausaufgabenblätter von Mathe mitzunehmen?«
»Klar«, nickte Lauren.
»Oh, wie ich meine großen Brüder liebe«, grinste Anna.
»Na gut, ich mach′s«, zischte Julian Nigel an. »Aber lass mich endlich los, du Blödmann!«
Während sie die Treppe zur Promenade hinaufgingen, um sich mit den Jungen zu treffen, versuchte Lauren, nähere Informationen aus Anna herauszubekommen.
»Was macht dein Bruder morgen denn?«
»So genau weiß ich das nicht«, meinte Anna achselzuckend. »Ich weiß nur, dass er für die Bandits irgendwas in Bristol abliefern soll. Julian sollte ihn in seinem Auto hinbringen, aber in letzter Sekunde wollte er dann wohl doch nicht mehr.«
Um sich nicht mit zu vielen Fragen verdächtig zu machen, versuchte Lauren es mit einer anderen Taktik.
»Und was ist, wenn dein Bruder ins Gefängnis kommt?«
»Das ist sogar ziemlich wahrscheinlich«, behauptete Anna beiläufig und grinste dann breit. »Dann kriege ich das große Zimmer!«
Lauren musste lachen. »Du bist gemein. Aber im Ernst, steckt er wirklich so tief in der Klemme?«
»Möglicherweise schon«, gab Anna zurück, als sie oben ankamen. »Wahrscheinlich noch tiefer als mein Bruder Will, ehrlich gesagt. Manchmal habe ich sogar wirklich Angst um ihn, aber andererseits: Wieso sollte ich mir Sorgen um etwas machen, das ich sowieso nicht ändern kann?«
Lauren konnte noch nicht absehen, wie weitreichend diese Informationen waren, aber sie wusste, dass sie Chloe so schnell wie möglich davon berichten musste.
»Ich komme gleich wieder!«, rief sie, als sie James im Crêpes-Stand sah. »Ich sage nur schnell meinem Bruder wegen der Matheaufgaben Bescheid, bevor ich es vergesse.«
Martin war draußen und räumte die Tische ab, daher konnte Lauren ihrem Bruder das Wichtigste erklären, während er ihr zwei Crêpes mit Schokolade, Orange und Ananas zubereitete, sie aber nur für einen bezahlen ließ.
»Das mit dem Auto macht die Sache interessant«, fand James. »Nigel ist nur ein kleiner Drogendealer, und für ein paar Säcke Hasch braucht man kein Auto.«
»Ich gehe zurück und versuche, noch mehr Infos aus Anna rauszukriegen«, verkündete Lauren und nahm die beiden Pappteller mit den heißen Crêpes entgegen. »Meinst du, du kannst für ein paar Minuten verschwinden und Chloe davon erzählen?«
»Noelene wird mir den Arsch aufreißen, aber ich versuche es«, versprach James.
Um Chloe ungestört anrufen zu können, verbarrikadierte sich James in der Behindertentoilette der Marina-Heights -Anlage. Chloe war hocherfreut über die Informationen und kündigte an, Ross Johnson zu kontaktieren und James dann Bescheid zu geben, was sie weiter unternehmen sollten. Zehn Minuten vor dem Ende seiner Schicht meldete sich Chloe erneut und sagte, dass sie ihn auf dem Parkplatz erwarte.
»Ihh«, machte sie, als James in den Range Rover stieg. »Deine Klamotten stinken nach Crêpe-Teig.«
»Darüber stöhnt Ashley auch immer«, nickte James.
»Kannst du mit deinem Sicherheitsausweis für diese Anlage hier auch in die Tiefgarage von Marina View?«, fragte Chloe und legte ihm eine kleine Papiertüte in den Schoß.
»Klar«, antwortete James und sah in die Tüte. Darin befanden sich eine kleine schwarze Schachtel mit zwei Knöpfen, ein Glas mit Schraubverschluss, das eine braune Masse enthielt, ein Gerät, das aussah wie ein elektrischer Tacker, und eine kleine graue Kiste.
»Weißt du, was das alles ist?«, fragte Chloe.
»Ja, bis auf das braune Zeug.«
»Matsch aus unserem Garten, vermischt mit ein paar Eiern, damit es festtrocknet. Beschmier damit das Nummernschild.«
»Verstanden«, sagte James. »Ich hab vorhin übrigens Sealclubber zusammen mit dem Commander im Clubhaus gesehen, ich nehme also an, dass sie mit Georges Kohle gekommen sind.«
Chloe nickte.
»George hat sich gestern in London mit Sealclubber getroffen, bevor er losgefahren ist. Er sagte, dass die erste Waffenlieferung innerhalb einer Woche erfolgt.«
»Und was machen wir jetzt mit dem Ausflug von Nigel und Julian?«
»Neil Gauche und einer unserer jüngeren Einsatzleiter werden Julians Auto folgen. Außerdem bekommen wir Unterstützung von der Polizei in Devon. Neil wird die Gespräche im Auto abhören und dann entscheiden, ob er die beiden anhält.«
»Okay«, antwortete James und öffnete die Tür. »Ich regle das hier, dann sehen wir uns zu Hause.«
»Also los«, nickte Chloe. »In fünf Minuten soll ich hier Lauren, Dante und ein paar ihrer Freunde abholen.«
James sprang aus dem Range Rover und lief rasch die Promenade entlang. Es war zehn Minuten nach zehn. Um diese Zeit waren alle Restaurants und Bars im oberen Stock noch relativ voll, während die Läden bereits geschlossen hatten, sodass die untere Etage verlassen dalag, abgesehen von einem Putzteam und einem jungen Pärchen, das auf dem Rasen hinter den Rosenbüschen herumknutschte.
An einer Tür zwischen zwei Läden zog James seinen Sicherheitsausweis durch den Scanner und ging dann einen Gang hinter den Geschäften entlang. Der Fußboden und die Wände waren aus nacktem Beton, und an der Decke hingen Rohre und elektrische Kabel nur ein paar Zentimeter über seinem Kopf.
Er war erst ein einziges Mal hier gewesen, an dem Tag, an dem ihn Teeth das Graffiti hatte säubern lassen. Hinter der Tür am Ende des Ganges lag eine Metalltreppe, die in den überwachten Parkbereich unter den Marina-View-Appartements führte, in denen Julian wohnte.
Jeder Parkplatz gehörte zu einem bestimmten Appartement, daher stieß James recht schnell auf Julians roten Fiat, der neben dem Jaguar XF seines Vaters stand. James wusste, dass die gesamte Marina-Heights-Anlage von einem einzigen Wachmann im Auge behalten wurde, daher hatte er mehr Angst, von einem der Anwohner entdeckt zu werden, als vor den Überwachungskameras am Ende jeder Parkreihe.
James zog die kleine schwarze Schachtel aus seiner Hosentasche und drückte auf einen der beiden Knöpfe. Chloe hatte das Gerät vorprogrammiert, sodass es eine Masterfrequenz aussendete und Julians Auto aufschloss, wie das Aufblitzen der Blinker anzeigte.
James öffnete die Tür und setzte sich auf den Fahrersitz. Mit dem tackerartigen Gerät schoss er drei stecknadelgroße Abhörsender in die Stoffverkleidung des Daches. Dann stieg er aus, warf einen wachsamen Blick über die Schulter und schloss den Wagen per Funksteuerung wieder ab.
Danach hockte er sich hin, griff unter den Kotflügel und brachte die magnetische graue Kiste an. Dabei handelte es sich um einen ferngesteuerten GPS-Tracker, der gleichzeitig als Verstärker für die winzigen Wanzen im Inneren diente.
James′ letzte Aufgabe war die schmutzigste. Er schraubte das Glas mit der Eier-Matsch-Mischung auf, tauchte zwei Finger hinein und verschmierte damit das Nummernschild, sodass drei Buchstaben unleserlich wurden. Da er mit der Stoßstange an der Wand stand, würde es Julian nicht auffallen, wenn er losfuhr.
James wischte sich die Finger an einer Crêperie-Serviette ab und ließ diese in die Papiertüte fallen, bevor er aufstand und wieder zur Treppe ging. Im Gang grüßte er ein Mitglied der Putztruppe und marschierte dann in die Personalumkleide, um sich seinen Helm und seine Schutzkleidung zu holen.
Bevor er sich den Reißverschluss der Jacke zuzog, nahm er das Handy heraus und schickte Chloe eine SMS: ERLEDIGT!