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Freitag

Um halb acht Uhr morgens steuerten Julian und Nigel aus der Garage von Marina-View, ohne zu ahnen, dass ihnen mit einem Kilometer Abstand zwei Autos folgten. Das eine war ein Polizeifahrzeug aus Devon mit zwei uniformierten Beamten. Das zweite war ein Zivilfahrzeug. Darin saßen Neil Gauche von der Biker-Sondereinheit und Jake McEwen von CHERUB und hörten jedes Wort mit, das Julian und Nigel sagten.

Momentan war diese Unterhaltung allerdings wenig ergiebig und reichte von Übernachtungspartys und Geburtstagen bis hin zu Pfadfindern und Computerspielen. Zwar stritten die beiden Siebzehnjährigen regelmäßig miteinander aufgrund der Schulden, die Julian als Nigels Kunde hatte, aber das Band der Freundschaft, das bereits in der Grundschule geknüpft worden war, bestand immer noch.

Auf der A38 herrschte viel Verkehr, allerdings ohne Stau. Sie brauchten achtzig Minuten bis Exeter zur M5. Julian blieb mit seinem Fiat auf der mittleren Spur, und die Tachonadel zeigte konstant hundertzwanzig Stundenkilometer.

»Wie läuft′s mit Caitlyn?«, wollte Julian wissen, als er einen Laster überholte. Es war ein schöner Tag. Aus dem Radio erklang How Soon is Now von den Smiths, doch der Song ging fast im Motorengeräusch unter.

»Caitlyn ist echt heftig«, lächelte Nigel. »Sie raucht fast meinen ganzen Gewinn auf, aber ich werde auf andere Weise entschädigt, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Triffst du James Raven eigentlich oft?«, fragte Julian.

»Die meiste Zeit verbringe ich mit Caitlyn, aber gelegentlich sehen wir uns. Er ist verdammt clever, wusstest du das? Er hat sich ein paar Stunden lang mit dem Mathekram beschäftigt, den ich überhaupt nicht verstanden habe.«

»Das mit Ashley hab ich total versaut«, gab Julian zu.

Nigel nickte. »Wenn man den Macho bei jemandem raushängen lässt, der seine Freundin angräbt, sollte man vorher sicher sein, dass der andere nicht den schwarzen Gürtel in Karate hat und ein Kickbox-Ass ist.«

»Echt jetzt?«, fragte Julian entgeistert.

»Na, zumindest behauptet er das, und er sieht auch ganz danach aus«, grinste Nigel. »Aber ich habe nicht die Absicht, es herauszufinden.«

»Verdammt!«, stöhnte Julian und schlug aufs Lenkrad. »Wieso muss das jetzt sein?«

Nigel sah sich um und bemerkte, dass sie von einem Polizei-BMW angeblinkt wurden. »Bist du zu schnell gefahren?«

Julian wies auf den Tacho. »Hundertzwanzig, durchgehend.«

»Wahrscheinlich nur eine Routinekontrolle«, meinte Nigel. »Fahr an die Seite und bleib cool.«

Julian hatte erst seit sechs Monaten den Führerschein und zerbrach sich den Kopf darüber, was er wohl falsch gemacht hatte. Es dauerte einen knappen Kilometer, bis er auf die andere Spur wechseln konnte, um schließlich hinter einem Shell-Laster an den Straßenrand zu fahren und anzuhalten.

»Stellen Sie den Motor ab und legen Sie die Hände aufs Lenkrad«, tönte es aus dem Lautsprecher auf dem Dach des Polizeiautos.

Der Beamte hinter dem Steuer blieb sitzen, während sein asiatischer Kollege ausstieg und auf den Fiat zuging. Nigel ließ das Fenster herunter, und der Polizist bückte sich, um über seinen Kopf hinweg mit Julian zu sprechen.

»Wissen Sie, warum wir Sie angehalten haben?«

Julian schüttelte den Kopf. »Ich bin hundertzwanzig gefahren, die ganze Zeit. Auf der Überholspur sind lauter Autos an mir vorbeigezischt.«

»Steigen Sie vorsichtig aus dem Wagen und kommen Sie mit nach vorne«, forderte ihn der Beamte auf. »Und nehmen Sie ihren Führerschein und die Wagenpapiere mit.«

Auf der Fahrbahn neben ihnen donnerten Laster und Busse vorbei, als Julian langsam die Tür öffnete und sich hinausschob. Als er den Dreck sah, der sein Nummernschild unkenntlich machte, fiel ihm die Kinnlade herunter.

»Das habe ich gar nicht bemerkt«, stieß er hervor. »Das muss von einem anderen Auto hochgespritzt sein oder so.«

Der Polizist kratzte den Dreck vorsichtig mit der Stiefelspitze ab und schüttelte den Kopf.

»Das ist festgetrocknet. Ich würde sagen, das klebt da schon seit ein oder zwei Tagen.«

»Ich habe einen Fensterreiniger im Auto«, meinte Julian. »Ich werde das gleich entfernen.«

»Tun Sie das, aber wir müssen ihnen trotzdem einen Strafzettel ausstellen.«

»Für ein dreckiges Nummernschild?«, wunderte sich Julian.

»Keine Ausnahmen«, erklärte der Polizist. »So was versuchen viele Leute, um den Geschwindigkeitskontrollen zu entgehen.«

In diesem Moment kam sein Kollege aus dem Streifenwagen angelaufen. »Das Nummernschild ist okay«, sagte er und flüsterte dem asiatischen Polizisten etwas ins Ohr.

Dieser betrachtete Julians Führerschein eingehend und sah ihn dann misstrauisch an.

»Wo sind Sie heute Morgen losgefahren?«

»Salcombe«, antwortete Julian.

»Ist heute keine Schule?«

»Studientag.«

Der Beamte lächelte. »Sieht mir nicht sehr nach studieren aus. Wohin wollen Sie denn?«

»Bristol«, antwortete Julian. »Wir wollen Freunde besuchen.«

»Heute Morgen gab es am Flughafen Exeter einen ernsthaften Zwischenfall«, berichtete der Polizist. »Zwei junge Männer waren in einen gewalttätigen Raubüberfall verwickelt und verließen den Flughafen in einem roten Wagen mit Fließheck. Haben Sie dazu etwas zu sagen?«

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir Ihren Wagen durchsuchen?«, fragte der andere und warf einen Blick auf die Kartons im Kofferraum, auf denen Josie′s Blumenladen stand.

Unsicher hob Julian die Hände. »Damit haben wir absolut nichts zu tun!«

Der Verkehr war zu laut, als dass Nigel etwas von dem Gespräch hätte verstehen können, aber Julians Körpersprache zeigte ihm, dass dieser zunehmend nervöser wurde.

Der weiße Beamte sprach jetzt in sein Funkgerät und bat um mehr Einzelheiten bezüglich der Verdächtigen. Dabei war die Flughafen-Story natürlich frei erfunden und lieferte den Polizisten nur einen triftigen Grund, um das Fahrzeug legal zu durchsuchen.

»Die Verdächtigen werden als zwei Männer im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren beschrieben«, erklärte der Beamte seinem Kollegen, als er das Funkgerät wieder einsteckte. »Einer ist dunkelhaarig, der andere blond.«

Der Asiate hob eine Augenbraue und sah Julian an. »Sind Sie sicher, dass Sie die Wahrheit sagen?«

Julian schüttelte heftig den Kopf. »Das ist doch totaler Blödsinn! Ich bin siebzehn, und wir waren nicht mal in der Nähe des Flughafens!«

»Dann müssen Sie sich ja auch keine Sorgen machen«, beruhigte ihn der Polizist. »Aber wir brauchen Ihre Erlaubnis, um den Wagen zu durchsuchen.«

»Und wenn ich mich weigere?«, fragte Julian.

»Die Sache am Flughafen war ein ernsthafter Zwischenfall«, erklärte der Beamte. »Wenn Sie sich weigern, müssen wir Sie verhaften. Dadurch wird allerdings eine ganze Kette von Untersuchungen in Gang gesetzt, und es könnte gut sein, dass Sie dann stundenlang festgehalten werden, anstatt nur ein paar Minuten.«

Zögernd reichte Julian dem Polizisten seinen Autoschlüssel. Nigel musste daraufhin aussteigen und die Hände aufs Dach legen. Dann öffnete der Beamte den Kofferraum. Die fünf länglichen Blumenkartons waren übereinandergestapelt und offensichtlich so schwer, dass ihr Gewicht die unterste Schachtel verdrückt hatte.

Misstrauisch zog sich der Polizist einen Plastikhandschuh über und hob den Deckel der ersten Pappschachtel an. Mit großen Augen betrachtete er die vier teilweise auseinandergenommenen Kalaschnikows, die darunter zum Vorschein kamen.

Zwanzig Minuten später saßen Julian und Nigel in Handschellen und ohne Schuhe und Gürtel an einem Tisch in einem Vernehmungsraum.

»Ich verlange einen Rechtsanwalt!«, schrie Julian, als Jake McEwen hereinkam und die Tür zuknallte. »Ich bin minderjährig. Ich habe besondere Rechte.«

»Das einzige Recht, das du hast, Bürschchen, ist, die Klappe zu halten, sonst schlage ich dir dein Lockenköpfchen durch die Wand«, brüllte McEwen.

McEwen war zweiundzwanzig und Ex-CHERUB-Agent. Sein offizieller Titel lautete Junior-Einsatzleiter. Meistens arbeitete er auf dem Campus, recherchierte Missionshintergründe, verfasste Einsatz-Dossiers und erledigte all das, was seine älteren Kollegen nicht gerne taten. Aber seine aggressiven Ausbrüche und die Statur eines Schwergewichtsboxers bescherten ihm gelegentliche Ausflüge vom Campus, wenn CHERUB jemanden einschüchtern wollte.

»Ihr beide sitzt echt ganz schön tief in der Scheiße«, dröhnte McEwen. »Wie alt seid ihr? Sechzehn? Siebzehn?«

»Siebzehn«, antwortete Nigel.

Julian drehte sich zu Nigel um. »Diese Befragung ist illegal. Wir sollten einen Anwalt dabeihaben. Sie sollten ein Tonband laufen lassen.«

McEwen stellte sich hinter Julian und schlug ihm den Kopf auf die Tischplatte.

»Ich werde eine Beschwerde einreichen«, stöhnte Julian. »Mein Vater ist Richter. Das hier verletzt meine Menschenrechte!«

»Hör gut zu! Jedes Mal, wenn du von jetzt an das Wörtchen Recht verwendest, haue ich dir den Kopf auf den Tisch!«, brüllte McEwen. »Das hier ist ein Bürogebäude und keine Polizeiwache. Und ich bin beim Geheimdienst und nicht bei den Bullen. Bis ihr eine offizielle Beschwerde eingereicht habt, wird dieser Raum leer sein. Ihr könnt mich nicht aufspüren, und die beiden Beamten, die euren Wagen angehalten haben, werden abstreiten, auch nur das Geringste über diese Sache zu wissen. Um es kurz zu machen: Ihr zwei gewöhnt euch lieber an den Gedanken, dass ich Gott bin.«

Nigel und Julian warfen einander einen verwunderten Blick zu.

»Wisst ihr, wie das abläuft, wenn wir hier ganz ordnungsgemäß vorgehen würden?«, grinste McEwen. »Wir verhaften euch. Die Bandits schicken einen schlauen Rechtsanwalt her, der euch sagt, dass ihr den Mund halten sollt. Ihr behauptet, ihr hättet keine Ahnung gehabt, was in den Kartons war. Vor Gericht bekennt ihr euch schuldig wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz, und weil ihr nette Mittelschichtjungs ohne Vorstrafen seid, werdet ihr drei bis sechs Monate in einer Jugendstrafanstalt kriegen. Und wenn ihr rauskommt, gibt euch der Commander ein paar Tausender als Dank dafür, dass ihr den Mund gehalten habt.«

»Sie können das Gesetz nicht einfach ignorieren, Kumpel«, warf Julian ein.

»Ich bin nicht dein Kumpel«, brüllte McEwen, riss Julian aus dem Stuhl hoch und warf ihn heftig auf die Tischplatte. »Und du solltest lieber lernen, den Mund zu halten.«

Schniefend ließ sich Julian wieder auf seinen Stuhl fallen. Blut sickerte ihm aus der Nase.

»Ihr habt genau zwei Möglichkeiten«, sagte McEwen und beugte sich hinter ihnen vor. »Ihr seid nur zwei Jungs, die als Kuriere arbeiten, daher sind wir nicht sonderlich an euch interessiert. Was wir wollen, sind Informationen: Wer hat euch die Waffen gegeben, wen solltet ihr treffen und wo, wie viel Geld solltet ihr bekommen und wo sollt ihr die Ladung abliefern. Wenn ihr uns diese und alle weiteren Infos gebt, die wir haben wollen, werden wir euch wieder in euren kleinen Fiat setzen. Ihr könnt eure Ladung ausliefern, und solange ihr ehrlich bleibt, werden wir so tun, als hätte es diese kleine Durchsuchung nie gegeben.«

»Wenn die Bandits herausfinden, dass wir sie verraten haben, bringen sie uns um«, sagte Nigel misstrauisch.

»Das werden sie nicht«, antwortete McEwen. »Zumindest nicht, solange ihr nicht mit der Wahrheit spart.«

»Und was ist die andere Möglichkeit?«, wollte Nigel wissen.

McEwen grinste breit. »Wie ich schon sagte, wir sind nicht daran interessiert, ein paar minderjährige Kuriere festzunehmen. In diesem Fall werden wir also eure Waffen als Beweismittel konfiszieren, euch fünf oder sechs Stunden lang hierbehalten und euch dann in eurem Fiat nach Salcombe zurückbringen.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die beiden begriffen, welche Konsequenzen das hätte.

»Die werden glauben, wir hätten die Gewehre gestohlen!« , stieß Nigel hervor. »Oder zumindest werden sie uns zu Tode foltern, um herauszufinden, was passiert ist.«

McEwen lachte. »Ihr könnt ihnen ja von mir erzählen. Dass ihr von einem Geheimagenten verhaftet worden seid, der euch an einen geheimen Ort gebracht hat und euch dann so ganz ohne Weiteres wieder hat laufen lassen. Ich bin sicher, das werden sie euch abnehmen.«

Nigel presste die Handflächen an den Kopf. »Nie im Leben werden sie das glauben.«

McEwen zog die Augenbrauen hoch. »Meinst du nicht, Kumpel?«

»Das ist unfassbar!«, seufzte Julian. »In einer demokratischen Gesellschaft …«

Nigel unterbrach seinen Freund ungehalten. »Hör endlich auf, von deinen Rechten zu faseln. Hier geht′s nicht um Vorschul-Soziologie, du Schwachkopf!«

»Ich bin ein Schwachkopf?«, stieß Julian beleidigt hervor. »Habe ich uns das hier eingebrockt? Ich muss ja total bescheuert sein, mich wegen läppischer zweihundert Kröten Schulden in so was hineinziehen zu lassen!«

»Mädels«, mahnte McEwen streng, »hört auf, euch anzukeifen und zu jammern. Zeit, euch zu entscheiden!«

»Kann ich ein Taschentuch kriegen?«, fragte Julian und hielt sich die blutende Nase.

»Das ist wirklich alles meine Schuld«, gab Nigel zu, als er Julian ansah. »Ich habe das eingefädelt, er hat mir nur einen Gefallen getan.«

»Ihr zwei seid mir vollkommen egal«, erklärte McEwen. Er warf Julian ein Päckchen Taschentücher zu und holte einen Kassettenrekorder. »Also, seid ihr bereit, ein paar Fragen zu beantworten?«

Julian tupfte sich die Nase und Nigel nickte zögerlich. »Als hätten wir irgendeine Wahl«, knurrte er.

»Okay, dann fangen wir mal ganz von vorne an«, sagte McEwen. »Sprecht langsam und deutlich in den Rekorder, schwierige Namen müsst ihr buchstabieren. Und denkt daran, wenn ihr mir irgendwelchen Mist erzählt, werde ich euch einen weiteren Besuch abstatten. Also, wer hat euch kontaktiert, um die Waffen abzuliefern?«