Der Commander brachte seine Gang auf die Überholspur der M5, beschleunigte auf einhundertzwanzig Stundenkilometer und niemand wagte es, ihn links zu überholen. Mittlerweile hatten sich ihnen die Monster-Bunch-Clubs von North Devon und Plymouth sowie eine befreundete Gang aus Cornwall namens Branding Iron angeschlossen.
Dem kilometerlangen Zug von Motorrädern folgten die Werkstattlaster und Busse, und so sorgte diese zusammengewürfelte Flotte für jede Menge Aufsehen. Hupen wurden laut, Kinder winkten aus den Autos ihrer Eltern und ein paar Hockeyspielerinnen drückten ihre nackten Brüste gegen die Fensterscheiben ihres Teambusses, als die Biker vorbeidonnerten – für James das absolute Highlight des Morgens.
Motorradfahren ist allerdings anstrengender, als ein Auto zu lenken. James hatte keinen Windschutz an seiner ER-5, und der heiße Sonnenschein ließ ihn in seinem Helm, den Handschuhen und der dicken Lederjacke schmoren. Er war froh, als sie nach der Hälfte der dreihundert Kilometer nach Cambridge auf den Rastplatz Stoke Gifford einbogen.
Über hundert Motorradfahrer stampften durch die Automatiktüren der Raststätte, um sich in die Schlangen vor der Toilette einzureihen und ins Restaurant zu gehen, sodass ängstliche Eltern ihre Kinder festhielten und noch ängstlichere Gäste sogleich zum Ausgang liefen. Der Commander wurde bereits von den Bandits-Präsidenten aus Cardiff und Bristol sowie sechs dunkelhäutigen Mitgliedern aus dem spanischen Valencia erwartet.
James versuchte im Burger King sein Glück, doch das Gedränge war so groß, dass er keine Chance auf etwas zu essen hatte, zumal sich die höherrangigen Bandits und Dogs of War ungerührt vordrängten. James war zwar taffer als die meisten, aber er konnte sich schlecht mit einer ganzen Gang anlegen, also gab er es auf und ging in den Laden nebenan.
Auch hier standen lange Schlangen vor der Kasse, allerdings nutzten die Biker die Möglichkeit, etwas zu klauen. Zuerst waren es nur ein paar Süßigkeiten und Bierdosen, doch schon im nächsten Moment versank der Laden im Chaos, als sich über dreißig Biker wahllos Essen und Getränke schnappten, sich gegenseitig schubsten, Regale umstießen und laut grölten.
James taten die beiden Frauen hinter dem Tresen leid. Eine schrie um Hilfe, als ein Dog of War, der seinen Helm gar nicht erst abgenommen hatte, sie zu Boden warf und Zigarettenschachteln in die Menge schleuderte. James wusste nicht, was er machen sollte. Er brauchte unbedingt etwas zu trinken, doch wie die Sache hier aussah, war Stehlen die einzige Möglichkeit, etwas zu bekommen, bevor sie alle wieder auf ihre Bikes steigen mussten.
Schließlich verließ er den Laden mit einer Halbliterflasche Sprite, einem großen Marsriegel und einer Rolle Mini-Pringles. Beim Hinausgehen musste er über eine riesige gelbe Pfütze steigen, da es mehrere Bandits vorgezogen hatten, die Schlange an der Toilette zu verlassen und einfach in die Gegend zu pinkeln.
James beobachtete, wie eine Busladung verschreckter Rentner durch den piepsenden Notausgang der Raststätte bugsiert wurde, während eine Gruppe von Bandits den Mann hinter der Kaffeebar ärgerte und sich der Manager von Marks & Spencer eine blutige Nase holte, als er versuchte, einen Biker aus Cardiff daran zu hindern, sich mit einer Flasche frisch gepresstem Orangen-Himbeersaft aus dem Staub zu machen.
James war allein und trug kein Gang-Abzeichen. Er würde also ein leichtes Ziel abgeben, wenn die Polizei aufkreuzte und Leute verhaftete. Daher beschloss er, zu seinem Motorrad zurückzugehen und es aufzutanken, falls die Schlange an der Tankstelle nicht zu lang war. Aber als er in der Automatiktür stand, sah er etwa fünfundzwanzig Männer auf sich zurennen, die Ketten und Keulen schwangen und mit Rufen wie »Bandits-Wichser!« die Raststätte erstürmten.
James sprang so schnell er konnte zurück, als die Männer sich bereits auf einen Dog of War stürzten, der in der Schlange vor dem Klo stand, und brutal auf ihn einschlugen. Blut spritzte, und vom Ohr des Bikers bis zu seiner Nase zog sich eine tiefe Platzwunde.
»Vengeful Bastards!«, schrien mehrere Leute gleichzeitig.
Diesen Namen hatte James schon einmal gehört. Die Vengefuls waren eine ziemlich furchterregende Gang, gegründet von zwei Ex-Bandits, die man aufgrund des Verstoßes gegen die strikte Clubregel bezüglich Heroinmissbrauchs aus der Gang geworfen hatte. Inzwischen gab es jedoch sechs eigenständige Vengeful-Clubs, die als Erzfeinde der Bandits auftraten.
James wurde die Sprite-Flasche aus der Hand geschlagen, als eine Horde Bandits und ihre Anhänger aus dem Laden, den Toiletten und dem Restaurant gestürmt kamen, bewaffnet mit allem, was gerade greifbar war. Von einem Vollmitglied wurde erwartet, dass es jederzeit für seine Gang kämpfte. Wer sich feige zeigte, steckte ernsthafte Prügel ein und musste mit einem Club-Ausschluss rechnen.
James zog sich in den Laden zurück und beobachtete, wie Teeth einen der Vengefuls entwaffnete. Teeth′ Fahrradkette schleuderte in James′ Richtung und er fing sie auf, während Teeth seinen Gegner mit dem Kopf voran gegen eine steinerne Säule rammte.
Die fünfundzwanzig Vengefuls waren in der Unterzahl und wurden gnadenlos verprügelt. James duckte sich zwischen die Kartons in der Nähe der Kasse, wo auch die beiden Angestellten saßen und sich schluchzend unter dem Tresen aneinanderklammerten.
James zog einen seiner Lederhandschuhe über und wickelte sich die Kette zur Hälfte um die Hand. So hatte er einen Schlagring, den er gleichzeitig – wenn nötig – als Peitsche einsetzen konnte.
»Kann man sich hier irgendwo verstecken?«, fragte er.
Eine der Angestellten nickte entsetzt. »Unser Geschäftsführer hat sich im Lagerraum eingeschlossen.«
Kaum ließ der Kampf draußen etwas nach, da die Vengefuls niedergeschlagen wurden oder flüchteten, tauchte eine zweite Gruppe von ihnen auf. Einige kamen durch die Automatiktür, während ein paar andere aus einem der oberen Restaurants herunterstürmten, wo sie im Hinterhalt gelegen und offensichtlich ihr Stichwort für den Einsatz mit der ersten Vengeful-Welle verpasst hatten.
Während Fäuste, Keulen und Stiefel flogen, sah James einen Mann in den Laden stolpern, dem ein Brotmesser aus dem Rücken ragte. Zuerst glaubte er, es sei sein Formationspartner Orange Bob, doch es war ein Anhänger der Vengeful Bastards, kaum älter als er selbst.
Er überlegte kurz, ob er Erste Hilfe leisten sollte, doch noch bevor er überhaupt irgendetwas tun konnte, verlagerte sich der Kampf in den Laden. Zwei fette Vengefuls hatten den South-Devon-Bandit Dirty Dave an den Armen gepackt und stießen ihn nun gegen ein Glasregal voller Postkarten, Porzellanfiguren und anderem Krimskrams. Während die Waren auf dem Fußboden landeten oder in tausend Scherben zerschellten, zog der rotbärtige Vengeful einen Hammer hervor, dessen Ende zu einem gefährlichen Dorn zugespitzt war.
Gerade als er ausholte, schlug James mit der Fahrradkette zu, traf den Vengeful an der Hand und versetzte ihm dann noch einen Hieb ins Gesicht. Sobald er zurücktaumelte, befreite sich Dirty Dave auch von dem anderen Vengeful und ließ ihn scheppernd in ein offenes Kühlregal voller Softdrinks und Sandwiches prallen.
James griff nach einem großen Glasmodell der Hängebrücke von Clifton, zog es seinem Gegner über den Schädel und schlug ihn dann mit seiner Kettenfaust bewusstlos. Dirty Dave rang immer noch mit dem anderen Kerl, doch bevor James ihm zu Hilfe kam, hielt er es für ratsam, den spitzen Hammer an sich zu nehmen, bevor es jemand anderes tat und ihn selbst damit angriff.
Kaum hatte er den Hammer zu fassen bekommen, stürmte ein weiterer Vengeful Bastard in den Laden und rammte ihm seine Faust gegen den Kopf. James verschwamm alles vor Augen, als er gegen ein Regal prallte, doch zugleich schwang er den Hammer und versenkte das spitze Ende im Knie des Bikers.
Der Biker schrie vor Schmerz auf, bevor er blutend zusammenbrach und im Sturz zwei Glasregale zerschmetterte. James konnte gerade noch den Hammer zurückziehen und aus dem Weg springen, als er den nächsten Vengeful hereinstürmen sah. Dieser war jedoch kleiner als James, sodass er seine Kettenfaust problemlos unter das Kinn des Kerls zentrieren konnte und ihm einen Aufwärtshaken verpasste, der ihm den Kiefer brach und ihn krachend zwischen den Zeitschriften und Zigarettenschachteln zu Boden gehen ließ.
Während James drei Gegner zur Strecke gebracht hatte, kämpfte Dirty Dave immer noch mit dem ersten. Sie hatten die Arme umeinandergeschlungen und teilten schwache Schläge aus. James stand zwar nicht gerade auf Seiten der Bandits, aber erst recht nicht auf Seiten der Vengefuls, nachdem ihn bereits drei von ihnen angegriffen hatten.
Also stieß James dem fetten Vengeful das Knie in den Bauch. Der Mann klappte zusammen, sodass sich Dirty Dave befreien und ihm ins Gesicht schlagen konnte. James gab ihm den Rest, indem er seinen Kopf gegen das Kühlregal rammte und dabei einen Metallständer zum Einsturz brachte.
Erst jetzt nahm James das ganze Ausmaß der blutigen Verwüstung um ihn herum wahr. Entsetzt blickte er nach draußen; überall lagen Verletzte. Die Bandits und ihre Anhänger schienen den Kampf gewonnen zu haben, aber zu einem hohen Preis; bei dieser Menge an Messern und Waffen mussten wahrscheinlich viele ins Krankenhaus, und einige waren vielleicht sogar tot.
Teeth, der Commander und mehrere andere hochrangige Bandits standen in der Tür und brüllten Befehle. Um James herum herrschte totales Chaos, der Boden war voller Blut, die Regale waren zerschlagen und die Waren lagen wild verstreut im Laden.
»Klasse gemacht«, fand Dirty Dave, strahlte James an und schlug ihm auf den Rücken. »Du hast meinen Arsch gerettet!«
Benommen umklammerte James den Hammer; er wusste, dass seine Fingerabdrücke darauf waren und er ihn deshalb mitnehmen musste. Beim Hinausgehen vermied er es sorgfältig, in das Blut zu treten. Er folgte Dirty Dave nach draußen, wo der Commander und der Präsident aus Cardiff das Kommando übernommen hatten.
»Unsere Bikes fahren in Formation von hier los!«, schrie der Commander. »Wenn jemand verhaftet wird, sagt er kein Wort, bis unsere Anwälte es ihm erlauben!«
»Was ist mit den Verletzten?«, erkundigte sich Teeth.
»Wenn sie noch laufen können, setzt sie in einen der Busse. Wenn sie zu schlimm aussehen, lassen wir sie hier auf den Krankenwagen warten.«
In diesem Moment stolperte ein Vengeful aus der Automatiktür und hielt sich den Bauch. Teeth sprang auf ihn zu und setzte ihn mit einem gezielten Tritt gegen den Kopf außer Gefecht. Zwei Mitglieder des Monster Bunch kamen mit einem Arm voller Überwachungsbänder angelaufen.
»Gute Arbeit«, grinste der Commander.
»Wir haben den Manager gefunden und ihm ein paar verpasst«, erklärte einer der Monster. »Er sagt, das seien alle Überwachungsbänder. Sollen wir sie verbrennen?«
»Nein«, ordnete der Commander an. »Vielleicht sind sie noch nützlich. Nehmt eure Abzeichen ab und fahrt zur nächsten Post. Da schickt ihr die Bänder an die Anwälte Burnham, Smith & Greaves, eins-drei-drei Salcombe High Street. Aber passt bloß auf, dass die Bullen die Bänder nicht in die Finger kriegen, sonst schlitz ich euch die Kehle auf!«
»Verstanden«, antworteten die beiden Monster und liefen zu ihren Bikes.
Während James zuhörte, sah er sich auf dem Parkplatz um. Es waren noch immer ein paar Raufereien im Gange, und eine Gruppe von Bandits zerstörte die Bikes der Vengeful Bastards.
»Los, los, los!«, brüllte Straßenkapitän Vomit, der mit dreißig Bikern aus der Tür gerannt kam.
James sah Dirty Dave an. »Was ist mit der Formation?«
»Fahr einfach«, drängte Dirty Dave und folgte dem Commander und den anderen Bikern zu den Motorrädern. »Wir müssen über die Bezirksgrenze sein, bevor die Bullen von der Sache Wind bekommen.«
James wickelte die blutige Fahrradkette von seinem Handschuh und steckte sie im Gehen in seine Tasche. Einige Motorräder lagen umgestoßen und beschädigt da, und mehrere Harleys der Bandits waren von einem Truck gegen eine Wand geschoben worden, daher war James sehr erleichtert, als er sein Bike unversehrt vorfand. Er nahm seinen Helm aus dem Gepäckfach und stieg auf.
Es war selbstverständlich, dass Vomit, der Commander und einige andere Bandits vorausfuhren, doch als James auch Dirty Dave den Vortritt lassen wollte, blieb dieser stehen und winkte ihn zum Dank für das, was er im Laden getan hatte, vor sich.
Ein paar der Biker waren bereits geflüchtet, aber die Mehrheit hatte auf den Commander gewartet, sodass James nun in der sechsten Reihe zwischen all den Bandits auf ihren Harleys fuhr, mit etwa sechzig Bikes im Rücken.
Der Rausch, den er am Morgen verspürt hatte, war jedoch vollkommen verflogen. James hatte nur ein paar Schlucke trinken können und immer noch furchtbaren Durst, seine Fingerknöchel schmerzten vom Kampf und der Blick auf den zerrissenen Lederhandschuh an seiner rechten Hand erinnerte ihn an die blutige Fahrradkette und den Hammer, den er unter seinem Sitz verstaut hatte. Wenn die Polizei ihn anhielt und diese Gegenstände fand, hatte er eine Menge zu erklären.