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Als Julian und Nigel nach Salcombe zurückfuhren, brach McEwen die Überwachung ab und steuerte die Küstenstadt Kingswear an. Während der Fahrt kontaktierte Neil den Kontrollraum des CHERUB-Campus und erfuhr von dort, dass das Boot Brixton Riots einer bulgarischen Scheinfirma gehörte und über sie versichert war.

Der kleine BMW fuhr die Küste entlang, bis McEwen und Neil auf den rostigen, im Blau der Autobahnschilder lackierten Trawler stießen. McEwen parkte etwa achtzig Meter vom Boot entfernt hinter einer Reihe von Pollern und holte ein kompaktes Nikon-Fernglas unter dem Sitz hervor.

»Keiner da, wie es scheint«, stellte McEwen fest und ließ das Fernglas über die gesamte Länge des Bootes und ein paar verrottete Fischernetze gleiten. Dann bemerkte er eine Aufschrift, die mithilfe einer Schablone auf das Oberdeck gesprüht worden war: Dieses Boot kann tage- oder stundenweise für geführte Angelausflüge gemietet werden! Telefon…

McEwen las die Telefonnummer vor, und Neil tippte sie in seinen Laptop.

»Die Nummer gehört einem Mann namens Johnny Riggs«, sagte Neil, während er in der Datenbank des Geheimdienstes weitere Details über Riggs abrief. »Wohnt hier in der Gegend. Ist vor sieben Jahren pleitegegangen, mit dreihunderttausend Schulden. Keine Vorstrafen, drei Punkte auf dem Führerscheinkonto, weil er in einer 50er-Zone achtzig gefahren ist. Geschieden, muss per Gerichtsbeschluss Unterhalt für einen Sohn und zwei Töchter bezahlen.«

»Klingt für mich ziemlich ehrlich«, meinte McEwen, der weiterhin die Brixton Riots beobachtete. »Aber hier liegen acht Boote, von denen die Brixton Riots das schäbigste ist. Die Radaranlage ist allerdings die größte und neueste. Auf der Brücke kann ich mehrere LCD-Bildschirme erkennen, und hinten am Heck liegt irgendetwas Gelbes auf Deck, was wie ein Geschoss aussieht. Darauf steht Towmaster und ein Firmenname, so etwas wie ANT

Neil gab ANT Towmaster in seinen Laptop ein. Als die Suchmaschine fragte, ob er AMS Towmaster meinte, klickte er auf Ja, und gleich der erste Link unter den Antworten brachte ihn auf eine Seite mit dem Bild einer gelben, torpedoartigen Röhre.

»Advanced Marine Systems, Towmaster 66«, las Neil vom Bildschirm ab. »Sensitives Sonarsystem zur Seebeobachtung. Die Nummer eins für Bergungen, Unterwasserarchäologie und Ölindustrie.«

»So machen sie das also«, stieß McEwen hervor und ließ das Fernglas sinken. »Ein großes Schiff steuert ins flache Wasser und wirft ein Paket mit Drogen, Waffen oder was auch immer ab. Dann fährt die Brixton Riot raus, holt das Zeug vom Meeresboden hoch und bringt es an die Küste.«

»Und was unternehmen wir jetzt?«, fragte Neil.

»Minikameras und Mikros an Bord«, entgegnete McEwen. »Ich kann mich auf das Boot schleichen und sie irgendwo anbringen. Wenn jemand fragt, sind wir nur Touristen, die sich für einen Angelausflug interessieren. Und auch hier an Land bringen wir Kameras an, um zu sehen, wann das Boot an- und ablegt. Wir beobachten es vom Auto aus und folgen den Leuten, wenn sie die Ladung an Land bringen.«

»Damit sollten wir alles im Griff haben«, schätzte Neil. »Aber ich glaube, wir könnten etwas Verstärkung aus meiner Abteilung gebrauchen, für den Fall, dass es eine längere Verfolgung gibt.«

»Bei so einer Sache kann man nie genug Leute haben«, pflichtete ihm McEwen bei. »Sprich mit deinem Boss Ross Johnson. Wenn er keine Verstärkung schicken kann, dann versuche ich, jemanden vom CHERUB-Campus zu bekommen.«

»Was ist mit den Überwachungsgeräten?«

»Ich habe keine dabei«, meinte McEwen. »Aber im Haus in Salcombe hat Chloe wahrscheinlich einen ganzen Koffer voll davon.«

Neil sah auf die Uhr. »Es ist jetzt eins. Wird knapp, aber das sollten wir hinkriegen.«

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Kurz nach ein Uhr mittags näherten sich Dante, Joe, Lauren und Anna dem Eingang zum Clubhaus der Bandits. Jeder von ihnen zog einen Einkaufs-Trolley oder Rollkoffer hinter sich her. Joe sah sich vorsichtig nach links und rechts um, dann schob er eine Magnetkarte durch das Lesegerät an der Tür und stieß sie auf.

Die Eingangshalle mit der hohen Decke und dem darin hängenden Zigarettengeruch wirkte geisterhaft leer, einzig erhellt von den Sonnenstrahlen, die durch die drei Oberlichter fielen.

»Jemand zu Hause?«, rief Anna.

Die Teenager kamen bis zur Selbstbedienungsbar, bis ein verkaterter Biker in Boxershorts und pizzaverkleckertem Unterhemd aus dem Schlafsaal im Obergeschoss auftauchte und die Treppe herunterpolterte. Die vier hatten im Clubhaus nichts zu suchen, daher entschied Joe, dass Angriff die beste Verteidigung war.

»Aussie Mike«, sagte er. »Bist du nicht für die Sicherheit zuständig? Wir hätten locker Biker einer verfeindeten Gang sein können, die kommen, um das Clubhaus niederzubrennen.«

Aussie Mike fuhr sich mit den Händen durch das wirre lange Haar. »Was zum Teufel macht ihr hier?«

»Ich bin Joe, der Sohn des Commanders. Er hat mir aufgetragen, dass ich nach dir sehen soll.«

Bei der Erwähnung des Commanders richtete sich Aussie Mike kerzengerade auf und deutete die Treppe hinauf.

»Ahh jaaa«, antwortete er mit gedehntem australischem Akzent. »Ich hab euch immerhin reinkommen sehen, oder? Ich meine, ich wusste nicht genau, wer ihr seid, aber ich hab euch hier schon mal gesehen. Und da oben habe ich meine gute alte Flinte, falls jemand hier Ärger machen will.«

»Cool«, sagte Joe und hob die Hände. »Wir haben heute Abend eine kleine Versammlung im Haus meiner Eltern. Mein Dad hat gesagt, es sei okay, wenn wir uns hier ein paar Snacks und Limonaden holen.«

»Alles klar«, erwiderte Aussie Mike, drehte sich um und wankte wieder die Treppe zum Schlafsaal hinauf. »Dann lasse ich euch mal allein.«

Die vier Kids grinsten einander an, sobald Aussie Mike verschwunden war.

»Blödmann«, lachte Joe, zog den Sicherheitsausweis seines Vaters durch den Kartenleser an einer Tür, auf der Kein Zutritt stand, und führte seine Freunde in einen großen Lagerraum. An einem Ende ragten die silbernen Türen eines riesigen Kühl- und Gefrierschrankes auf, in dem die Bandits ihr Fleisch für die Grillpartys lagerten. Allerdings interessierten sich die Kinder mehr für die Bierpaletten auf dem Boden und die Schnaps- und Weinflaschen auf den Sperrholzregalen.

Dante schätzte die Biermenge ab. »Ungefähr zwanzig Kids, hast du gesagt. Wenn wir für jeden vier Bier rechnen, brauchen wir etwa hundert Dosen.«

»Mehr. Ich allein trinke wahrscheinlich schon zwölf oder fünfzehn«, behauptete Joe.

Lauren lachte auf. »Was denn? Bist du ein Profi-Dartspieler?«

Auch Dante musste lachen. »Das will ich sehen, wie du zehn Bier weghaust, Joe. Du kippst doch schon nach drei aus den Latschen!«

»Drei Radler«, betonte Anna, als Laurens Blick auf eine Reihe grüner Flaschen fiel.

»Rosa Champagner!«, strahlte sie. »Davon müssen wir was mitnehmen!«

»Nichts da!«, wehrte Joe ab. »Es sind nur sechs Flaschen da, und der ist teuer. Wir müssen alles schön mischen, ein paar Paletten Bier, ein paar Flaschen hiervon, ein paar davon. Hier steht so viel Alk rum, dass niemand was merken wird, wenn wir nicht zu viel von einer Sorte nehmen.«

Anna öffnete den Einkaufs-Trolley ihrer Großmutter und packte ihn mit Bierdosen, Wodka-, Gin- und Bourbon-Flaschen voll. Die Jungen befüllten ihre Koffer mit so viel Bier, wie sie hineinbekommen konnten, während Lauren zum Getränkekühlschrank ging und jede Menge Fruchtsäfte und Colaflaschen herausnahm, damit sie etwas zum Mischen hatten.

»Die Sauf- und Sexorgie kann losgehen!«, freute sich Joe, zog den Reißverschluss seines Koffers zu und zerrte daran, wobei er sich fast den Arm abriss. »Oh Mann, ist das schwer!«

Anna und Lauren waren angesichts ihrer Trolleys zu demselben Schluss gekommen.

»Das kriegen wir nie alles in den Bus«, stellte Dante fest.

»Ich könnte das Auto von meinem Dad klauen«, schlug Joe vor. »Es ist ein Automatik-Wagen, und ich durfte ihn schon ein paar Mal um unser Haus herumfahren, als er ihn neu bekommen hat.«

Lauren und Dante hatten zwar bei CHERUB Autofahren gelernt, aber ihnen war klar, dass sie ihre Tarnung gefährdeten, wenn sie es verraten würden, abgesehen davon, dass es viel zu auffällig und gefährlich war, als Kind am helllichten Tag ein Auto durch die Gegend zu steuern.

»Wie wäre es, wenn ich uns ein Taxi rufe?«, fragte Dante und nahm sein Handy aus der Jackentasche.

Anna kicherte und gab Dante einen Kuss. »Mein schlaues Kerlchen«, strahlte sie. »Das ist wesentlich ungefährlicher, als den sechzigtausend-Pfund-Mercedes des Commanders zu klauen.«

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Die Biker-Schlacht bei Stoke Gifford war grauenvoll gewesen, aber die Polizei hatte weder den Mumm noch das Personal, einen Konvoi von hundert Outlaw-Bikern zu stoppen. Also fuhr die leicht verminderte Gang der Bandits unbehelligt in Richtung Rebel Tea Party weiter.

In Swindon führte Vomit einen ungeplanten Zwischenstopp an einem Tesco-Parkplatz ein paar Kilometer von der Autobahn entfernt an. Die Biker standen an der Tankstelle, während die Frauen aus den Bussen in den Supermarkt stürmten und die Regale mit Sandwiches, Schottischen Eiern und Obsttorten plünderten.

James stellte fest, dass er bei diesem improvisierten Parkplatz-Picknick im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Dirty Dave erzählte einer Gruppe von Bikern, ihren Frauen und ein paar Kindern, was passiert war.

»Ich dachte schon, dieser spitze Hammer kracht mir gleich in den Schädel«, berichtete Dirty Dave, »aber dieser taffe kleine Bastard kommt einfach her und haut den Typen um. Und dann haben wir noch ein paar weitere von diesen weichärschigen Vengeful-Mädels plattgemacht, was, Champ?«

Dave legte seinen Arm um James′ Schultern und drückte ihn so fest, dass seine Apfeltasche aus ihrer Folienverpackung glitt und auf den Asphalt platschte. James konnte sich zwar nicht daran erinnern, dass Dirty Dave viel gekämpft hätte, wollte aber nicht auf Details herumreiten.

»Aus dem Jungen hier wird mal ein erstklassiger Bandit«, prophezeite Dirty Dave. »Darauf würde ich meinen Schwanz verwetten.«

»Kein großer Einsatz«, rief eine der Frauen.

Die anderen lachten, während James überrascht feststellte, dass ihn der Commander mit ernstem Gesicht aus dem Kreis der Biker herauswinkte.

»Was ist los?«, fragte er nervös.

Der Commander lächelte. »Klingt, als hättest du da vorhin echten Einsatz gezeigt. Aber wir wollen nicht, dass du eingebuchtet wirst. Hast du noch die Kette und den Hammer?«

James nahm die Fahrradkette aus seiner Tasche. »Der Hammer ist unter meinem Sitz.«

»Du bist also clever und taff«, nickte der Commander. »Lass nie eine Waffe am Tatort zurück. Darauf sind überall Fingerabdrücke und DNA-Spuren. Gib mir die Kette und den Hammer.«

»Warum?«, wollte James wissen.

»Der Werkstattlaster wird einen kleinen Umweg machen. Der Freund eines Freundes hat einen Schrottplatz hier in der Nähe. Er wird das ganze belastende Material verbrennen oder einschmelzen.«

»Okay«, sagte James. »Ich gehe den Hammer holen.«

»Deine Handschuhe brauchst du jetzt zwar noch, aber wenn wir zur Party kommen, wirf sie ins Feuer, denn es ist vielleicht Blut darauf. Es gibt dort jede Menge Stände, an denen sie alle möglichen Sachen für Biker verkaufen. Wenn du knapp bei Kasse bist, kann ich dir aushelfen.«

»Danke«, erwiderte James.

Der Commander war durch und durch böse, aber eines musste ihm James lassen – als Leader seiner Gang hatte er es einfach drauf. Während die anderen Biker Sprüche klopften und Fleischpasteten verdrückten, arbeitete er wie eine Maschine, überlegte, wie die Polizei wohl vorging, spürte Beweismittel auf, vernichtete sie und rief seine Rechtsberater in Salcombe an.

»Und was am wichtigsten ist, Junge«, fuhr der Commander fort und wedelte mit einem Finger vor James′ Nase herum, »wenn dich die Bullen schnappen, dann halt den Mund und warte auf unseren Anwalt. Sie können niemals beweisen, dass du nicht aus Notwehr gehandelt hast, es sei denn, du sagst was Dummes.«

»Aber es war ja auch Notwehr«, entgegnete James.

Der Commander grinste schief. »Nun, dieses eine Mal werde ich dir das noch verzeihen.«