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Die Sonne ging bereits unter, als Chloe den Range Rover in einer Seitenstraße ein paar hundert Meter vor der Küste von Kingswear parkte. Sie ging eine steile Straße hinunter und klopfte an die hintere Tür eines Lieferwagens, der den Schriftzug einer Sanitärfirma trug.

Die Tür schwang auf und sie sprang auf die Ladefläche zu McEwen, Neil Gauche und einer Reihe von Monitoren und Überwachungsgeräten.

»Eure Majestät«, begrüßte McEwen sie ironisch. »Welchem Umstand verdanken wir die Ehre?«

»James ist in Cambridge, Lauren und Dante machen Party im Haus des Commanders und es kommt nichts im Fernsehen«, lächelte Chloe. »Also dachte ich, ich komme vorbei und sehe mal, ob ihr vielleicht Hilfe braucht.«

»Cool«, fand Neil.

»Und? Wie sieht′s aus?«, wollte Chloe wissen.

»Johnny Riggs ist etwa eine halbe Stunde, nachdem ich die Kameras und Mikrofone auf dem Boot angebracht habe, aufgekreuzt und an Bord der Brixton Riots gegangen. Ein Tankerschiff hat angelegt, und dann hat er eine Weile auf Deck aufgeräumt. Paul Woodhead kam kurz nach acht mit Julian und Nigel. Wir haben gehört, wie Nigel gefragt hat, wie lange es dauern würde. Riggs sagte, er hoffe, dass bis elf alles geschafft sei.«

»Was ist mit der Ausrüstung?«

»Sieh selbst«, lud McEwen sie ein und wies auf einen Monitor, auf dem ein klares Bild vom Achterdeck des Bootes zu sehen war. »Wir haben auch Kameras am Dock angebracht, und Neil hat Abhörgeräte und GPS-Tracker sowohl an Riggs′ Auto als auch am Lieferwagen von Woodhead montiert.«

»Ein Lieferwagen«, wiederholte Chloe. »Dann laden sie die Ware wohl da hinein.«

»Anzunehmen«, bestätigte McEwen. »Die Küstenwache wird das Boot über Radar verfolgen, nur für den Fall, dass sie versuchen, die Ladung irgendwo anders abzuwerfen. Aber meine größte Sorge ist, dass unsere Ausrüstung sich nicht für den Einsatz auf See eignet.«

Chloe nickte. »Aber der Chip wird die Videoaufnahmen vom Deck speichern, selbst wenn das Funksignal ausfällt.«

»Ja, aber was ist mit dem Wetter?«, gab McEwen zu bedenken. »Das Meer, Salzwasser und so weiter?«

»Jetzt ist das Meer jedenfalls ruhig«, bemerkte Neil und zog einen Stuhl vor die Monitore. »Wir werden hier wohl ein paar Stunden verbringen, Chloe. Setz dich doch.«

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Um Viertel nach acht hatten sich im Haus des Commanders etwa zwanzig Kids versammelt, hauptsächlich Schüler aus Joes Klasse, aber auch ein paar aus den Klassen darunter und darüber. Die Teenager waren über das Alter der typischen Übernachtungs- und Geburtstagspartys hinaus, allerdings waren sie auch noch keine »erwachsenen« Partys gewöhnt, auf denen es unbegrenzt Alkohol gab sowie die Chance, das andere Geschlecht anzugraben.

Daher verlief die Party ein wenig gezwungen. Die Jungen standen um einen Poolbillard-Tisch und ein Dartboard im hinteren Salon herum und tranken Dosenbier. Eine etwas kleinere Gruppe von Mädchen bevölkerte die Küche, mixte Cocktails nach einem Rezeptbuch von Joes Mutter oder rekelte sich im angrenzenden Wintergarten auf den Stühlen, und sie alle unterhielten sich über das Leben, die Liebe und insbesondere die Lügen, die sie ihren Eltern aufgetischt hatten, um ohne Misstrauen zu erwecken zu dieser Party zu gehen.

Nach zwei Bier war Dante leicht angetrunken und stieß im Gang des ersten Stocks mit Anna zusammen, als er von der Toilette kam.

»Ist das langweilig«, beschwerte sich Anna, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Dante einen Kuss. »Die da unten sind alle so hirnlos.«

Annas Atem schmeckte nach Alkohol, was Dante nicht weiter störte, als sie ihn gegen die Wand drängte und ihre Hände auf seinen Hintern legte, während sie knutschten.

Zwei Mädchen kamen vorbei und kicherten: »Oh Anna!«, bevor sie zusammen im Bad verschwanden.

»Lesben«, spottete Dante.

Anna nahm seine Hand und zog daran. »Komm, wir suchen uns ein ruhigeres Plätzchen.«

»Wenn du ein bisschen beschwipst bist, bist du gleich viel mutiger«, grinste Dante, während sie den Gang entlanggingen.

Die erste Zimmertür, die sie öffneten, war die von Martin. Sein Zimmer war etwa so groß wie das von Joe, nur hatte er weniger bombastischen Hightech-Kram, und an der Wand hing eine große Weltkarte, auf der mit Stecknadeln alle Orte markiert waren, die er gerne besuchen wollte.

Joes Zimmer ließen sie aus und mussten lachen, als sie plötzlich im Elternschlafzimmer standen und Marlenes Riesenslip sowie die ausgeleierten Unterhosen des Commanders auf dem Boden liegen sahen.

Zurück auf dem Gang hörten sie, wie die beiden Mädchen wieder aus dem Bad kamen. Um ungestört zu bleiben, schlüpften Dante und Anna schnell durch die Doppeltür am Ende des Flurs.

»Wow«, machte Anna, als sie durch den langen Raum auf ein Erkerfenster mit schweren Samtvorhängen blickte. Das dahinterliegende Land fiel steil ab, und die Aussicht über die weiten Felder unter dem orangefarbenen Himmel war einfach fantastisch.

Es war das Arbeitszimmer des Commanders und erinnerte Dante an das Hauptquartier eines deutschen Offiziers, wie er es aus den Spielfilmen über den Zweiten Weltkrieg kannte. Über dem Kamin hing ein Hitlerbild, und eine Schaufensterpuppe trug eine vollständige Gestapo-Uniform.

»Joes Vater hat echt einen an der Waffel«, stellte Anna fest, als sie sich umsah. »Er hat sogar Gewehre.«

Dante wusste, dass der Commander einen Waffenschein hatte, und sein Waffenschrank war ordnungsgemäß mit einer bruchsicheren Scheibe und einem schweren Schloss ausgestattet. Unter dem Schrank jedoch befanden sich offene Regale mit einer Reihe von Armbrüsten, teure Spezialanfertigungen mit optischer Zielvorrichtung bis hin zu billigen, aber kräftigen Armbrustpistolen.

»Jeder Psycho braucht so was«, grinste Dante, nahm eine bedrohlich wirkende Armbrust und zielte damit auf Anna.

»Lass das!«, protestierte sie und hob die Arme vors Gesicht.

»Da ist doch gar kein Bolzen drin«, grinste Dante und legte die Armbrust wieder weg. »Dummi!«

Anna stemmte eine Hand in die Hüfte und setzte einen beleidigten Blick auf. »Ich bin kein Dummi!«, sagte sie, während ihre Körpersprache etwas ganz anderes auszudrücken schien, was Dante sehr entgegenkam.

Anna und Dante landeten wild knutschend auf einem Ledersessel. Doch plötzlich erstarrte Dante. Sein Blick fiel auf ein Bild an der Wand über einem Aktenschrank.

Im Haus des Commanders hingen Dutzende von Bandits-Fotos herum, und auf einigen war auch Dantes Vater Scotty zu sehen. Doch dieses Foto war anders, weil Dantes gesamte Familie darauf war. Als der Commander ihr Haus abgefackelt hatte, war alles bis auf ein paar Babyfotos verbrannt, daher blickte er jetzt in Gesichter, die er seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Er erinnerte sich an den Tag, an dem das Foto aufgenommen worden war. Es war auf einer Grillparty der Bandits gewesen. Scotty stand stolz neben jenem Mann, der im Jahr darauf sein Mörder werden sollte, umgeben von allen anderen Bandits. Die Frauen standen am Rand des gerahmten Bildes, und die Kinder knieten oder standen vor ihren Vätern.

Holly war noch ganz winzig, ihr kahles Köpfchen lehnte im Arm ihrer Mutter. Dante stand neben seinem besten Freund Joe. Dantes älterer Bruder Jordan blies die Backen auf, um das Bild zu ruinieren, und seine Schwester Lizzie kniete daneben und zog das Gesicht, das sie immer gezogen hatte, wenn sie irgendetwas nicht wollte.

Diesen Ausdruck hatte Dante unzählige Male gesehen, und doch hatte er ihn vergessen. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, seine Familie verraten zu haben, weil es so vieles gab, das er vergessen hatte.

»Alles in Ordnung, John?«, fragte Anna. »Hab ich etwas falsch gemacht?«

Langsam dämmerte es Dante, dass er John war. Schnell wischte er sich die Träne fort, die sich in seinem Augenwinkel bildete.

»Es ist nur das Bier«, erwiderte er hastig. »Du drückst mir wohl auf die Blase, ich muss schon wieder pinkeln.«

Anna sprang von seinem Schoß auf und Dante rannte durch den Gang ins Schlafzimmer des Commanders, wo er sich im angrenzenden Bad einschloss und mit den Tränen kämpfte.

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James hatte die vergangene Stunde bei den Bandits verbracht, noch mehr warmes Bier getrunken und half nun dabei, Feuerholz und Zeitungsbündel aus einem der Busse zu laden, um in der Mitte des Camps ein riesiges Lagerfeuer zu entfachen. Es diente weniger dazu, sie zu wärmen, als vielmehr den Outlaw Hill in der Dunkelheit erstrahlen zu lassen und dabei in freundschaftlicher Rivalität die Feuer der anderen Clubs zu übertreffen.

Die weniger freundschaftlichen Rivalitäten schufen allerdings eine ziemlich bedrohliche Atmosphäre, und während James Holz und Zeitungen schleppte, versuchte er, die Gerüchte zu interpretieren.

Am leichtesten waren jene zu verstehen, denen zufolge die Vengeful Bastards planten, sich an den Bandits für ihre Niederlage an der Raststätte zu rächen. Es waren zwar nicht genügend von ihnen da, um die Bandits angreifen zu können, aber sie hatten Verbündete, und es ging das Gerücht um, dass mehrere Gangs planten, im Laufe der Nacht das feindliche Camp zu überfallen.

Außerdem hatte sich herumgesprochen, dass der Londoner Bandit, der im Fleischzelt niedergestochen worden war, seine ernsthafte Verwundung dem Mitglied einer Gang namens Satan′s Prodigy verdankte. Der Londoner Club und einige Bandits aus Nordengland betrachteten diese Gang als Feind, während die South-Devon- und Cardiff-Bandits interessanterweise Geschäfte mit Satan′s Prodigy machten und die ganze Angelegenheit am liebsten unter den Tisch gekehrt hätten.

Der gesamte Outlaw Hill erschien James als ein kompliziertes Geflecht ständig wechselnder Allianzen, und so war der einzige Schluss, zu dem er kam, als das Feuer endlich brannte, dass wohl eine lange Nacht voller Gewalt bevorstand. Die Flammen loderten hoch, und James lief angetrunken auf sein Zelt zu. Zum ersten Mal, seit sie das Fleischzelt vor vier Stunden verlassen hatten, traf er Will, Minted und Shampoo Jr. wieder.

»Wohin bist du denn verschwunden?«, fragte Shampoo Jr., als sich James vor seinem Zelt ins Gras setzte und seine Turnschuhe auszog.

»Nirgendwo«, behauptete James und verzog das Gesicht, als ihm der Geruch seiner Füße in die Nase stieg. Seine Hände waren von der Druckerschwärze dunkel gefärbt, und die Wirkung seines Deos hatte bereits vor Bristol unter der Motorradkluft versagt. »Ich stinke wie ein Schwein.«

»Das ist noch gar nichts«, grinste Minted. »Da hättest du letztes Jahr im Regen hier sein sollen. Der ganze Outlaw Hill war ein einziges Matschfeld. Wir waren von Kopf bis Fuß verdreckt und mussten die Bikes durch den Schlamm schieben.«

»Ich versuche immer noch, dem kleinen Abenteuer unseres Kumpels hier auf die Spur zu kommen«, sagte Will. »Wir haben dich mit einem Mädchen aus dem Fleischzelt kommen sehen, und sie hatte dein T-Shirt an.«

James zuckte mit den Achseln. »Ja, ich musste mit ihr zu ihrem Bus gehen, damit sie sich ein Top holen und mir mein Ramones-T-Shirt zurückgeben konnte.«

»Und das ist alles?«, fragte Will misstrauisch. »Warum hat das so lange gedauert?«

»Ich musste mir die hier kaufen«, erklärte James und öffnete seinen Zelteingang, um seine neu erstandenen Motorradhandschuhe zu präsentieren. »Die anderen waren völlig im Eimer, weil ich diesen Kerl mit der Fahrradkette bearbeitet habe, und der Commander hat mir geraten, sie zu verbrennen.«

»Echt?«, hakte Shampoo Jr. nach. »Und warum hast du dann Lippenstift auf der Backe?«

»Habe ich das?«, fragte James und rieb sich mit dem saubersten Teil seiner Hand übers Gesicht.

»Nein, hast du nicht!« Shampoo Jr. lachte dröhnend. »Aber du hast dich eben verraten!«

»Wir sind dir gefolgt«, erklärte Will. »Und wir haben ein paar Minuten gewartet, ob du wieder rauskommst, deshalb wissen wir, dass da mehr war als nur ein T-Shirt-Tausch.«

»Ich weiß gar nicht, warum du so bescheiden bist«, lachte Minted. »Wenn ich im Fleischzelt einen Treffer landen würde, würde ich es von allen Dächern schreien.«

»Na gut, ich hab sie gepoppt«, gab James zögernd zu und leerte seine Bierdose. »Ich bin eben einfach umwerfend. Ist keine große Sache, die Mädels werfen sich mir ständig an den Hals.«

»Angeber!«, grinste Will und klatschte James ab. »Gut gemacht, Kumpel.«

In diesem Moment erklang ein lauter Knall vom Rand des Bandits-Camps. Die Jungen fuhren herum.

»Oh Scheiße!«, rief Will entsetzt, als er über ein paar Zelte hinweg zwei brennende Harleys sah, die mit Benzin übergossen worden waren. »Ich glaube, hier bricht gleich der Dritte Weltkrieg aus.«

Einige Bandits rannten los, um ihre Harleys vor den Flammen zu retten, während die beiden Londoner, denen die brennenden Bikes gehörten, zum Werkstattlaster liefen, um Feuerlöscher zu holen.

»Das sind die beiden, deren Kumpel im Fleischzelt abgestochen wurde«, erklärte Minted. »Das müssen Satan′s Prodigy gewesen sein.«

»Total verrückt«, meinte Will, als der schnellere der beiden beleibten Bandits sein Bike erreichte und es mit weißem Carbondioxidpulver einsprühte. »Die Bandits sind Satan′s Prodigy haushoch überlegen.«

»Aber sie haben sich wohl mit den Vengefuls verbündet«, erklärte Minted.

James lächelte. »Es sei denn, das Ganze hat jemand angezettelt, der will, dass wir einen Krieg mit Satan′s Prodigy anfangen.«

»Schon möglich«, gab Will zu. »Es gibt hier ein paar ganz schlaue Kerle.«

Während die beiden Biker verzweifelt gegen das Feuer ankämpften, sprengte die Hitze einen der Reifen. Die Biker sprangen erschrocken zurück und purzelten übereinander. Es war wie im Slapstick, doch keiner lachte.

»Die beiden Bikes sind hin«, stellte Will fest. »Selbst wenn sie das Feuer löschen können, bevor das Benzin hochgeht, ist alles von der Hitze verbogen.«

Jetzt kamen noch mehr Bandits mit Feuerlöschern angerannt, und schließlich gelang es ihnen, die Flammen zu ersticken. Anschließend hielten die Präsidenten der sieben Bandit-Clubs eine dringende Konferenz am Lagerfeuer ab. Sie waren so zornig, dass James selbst aus dreißig Metern Entfernung noch jedes Wort verstehen konnte.

Sealclubber war der lauteste und verlangte, dass sich alle bewaffneten und Satan′s Prodigy augenblicklich angriffen. Der Commander ermahnte ihn, sich zu beruhigen und nichts zu unternehmen, bevor sie hundert Prozent sicher waren, wer hinter den Anschlägen stand.

»Was für ein Schwachsinn!«, schrie Sealclubber den Commander an. »Einer meiner Männer wurde niedergestochen, die Bikes zweier Vollmitglieder wurden abgefackelt und du sagst mir, ich soll mich zurückhalten? Ich sage, wir schlagen sofort zu und lassen Vengefuls und Satan′s Prodigy ein für alle Mal von dieser Erde verschwinden!«

Der Commander versuchte weiterhin, Sealclubber zu beruhigen, doch der wollte nichts mehr davon hören. Inzwischen hatten sich Dutzende aufgebrachter Vollmitglieder der Bandits versammelt, und der Commander erkannte, dass er wohl keine Mehrheit hinter sich bringen konnte. Die Präsidenten stimmten ab, und der Commander verlor mit fünf gegen zwei Stimmen.

»Pistolen, Messer, Totschläger«, rief Sealclubber der tobenden Menge zu. »Packt eure Sachen und zieht los. Die Bandits sind auf dem Kriegspfad!«