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Joe öffnete der Polizistin die Tür, während ihr Kollege zum Tor zurückging, um mit ein paar der Jugendlichen zu sprechen, die draußen auf ein Taxi warteten. Die Polizistin erkannte, dass Joe ziemlich durcheinander war.

»Darf ich reinkommen?«, fragte sie freundlich. »Wir haben einen Anruf von einem Mädchen im Haus erhalten, das wohl besorgt war wegen dem, was hier vor sich geht.«

Die Polizei war kein seltener Gast im Haus des Commanders, aber er ließ nie etwas Belastendes herumliegen und Joe hatte die Anweisung, immer höflich zu sein und sie auf ihre Bitte hin sogar das Haus durchsuchen zu lassen.

»Es ist nicht viel passiert«, erklärte Joe, während er die Polizistin an Erdnussschalen und zerdrückten Getränkedosen vorbei in die Küche führte. »Es hat ein wenig Streit gegeben und dabei sind ein paar Fensterscheiben zu Bruch gegangen.«

Die Polizistin nickte und grüßte die Mädchen, die an den Schränken lehnten. »Ist bei euch alles in Ordnung?«

Die Mädchen sahen verlegen drein und Joe fragte sich, welche von ihnen wohl die Polizei gerufen hatte.

»Nun«, seufzte die Beamtin, »vielleicht tröstet es euch, dass ich schon Partys gesehen habe, bei denen die Schweinerei viel größer war als hier. Aber es sollte euch trotzdem eine Warnung sein. Wenn ihr eine Party ohne Erwachsene feiert, solltet ihr wirklich nur Leute einladen, die ihr kennt und denen ihr vertraut. Noch besser ist es natürlich, wenn ihr so etwas gar nicht macht.«

Diese freundliche Belehrung erinnerte Lauren an die Grundschule, als der Kontaktbeamte bei ihnen gewesen war, um ihnen Sicherheit im Straßenverkehr beizubringen. Der Kollege, der gerade hereinkam, war nicht ganz so freundlich.

»Da draußen steht ein Junge mit einer gebrochenen Nase«, sagte er streng. »Ich habe einen Krankenwagen gerufen und ihn gebeten, zu warten. Ich nehme nicht an, dass einer von euch gesehen hat, wie das passiert ist?«

Dante versteckte sich hinter Anna, da er vermutete, dass es sich um den Jungen handelte, dem er das Schiebefenster auf den Kopf geknallt hatte.

Die Beamtin zog Joe auf den Gang und sagte leise: »Ich glaube, ich kenne deine Mutter, oder?«

»Schon möglich«, antwortete Joe. »Sie ist in der Nachbarschaftsgruppe.«

»Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn sie heimkommt«, lächelte die Polizistin. »Ich glaube, es ist am besten, wenn ich jetzt alle bitte, nach Hause zu gehen, nicht wahr?«

Joe war es peinlich, dass sie ihn so bemutterte, aber gleichzeitig war er froh, dass ihm jemand einen Teil der Verantwortung abnahm.

»Hört mal alle her«, rief die Polizistin und klatschte in die Hände. »Ich glaube, es ist Zeit für euch, nach Hause zu gehen. Also, ruft eure Eltern an oder seht zu, wie ihr sonst heimkommt. Und während ihr auf eure Abholung wartet, könnt ihr eurem Freund Joe vielleicht ein wenig helfen, die Unordnung hier zu beseitigen.«

Einige Kinder wohnten so nah, dass sie zu Fuß laufen konnten und auf der Stelle verschwanden, aber etwa ein Dutzend musste darauf warten, abgeholt zu werden, und sie alle packten bei den Aufräumarbeiten mit an. Lauren lud Teller und Gläser in die Spülmaschine, Dante saugte und putzte, während Anna den Küchenboden wischte.

Um halb elf waren die beiden Cops und alle Kinder außer Lauren, Anna und Dante gegangen. Das Haus war wieder halbwegs in Ordnung, aber Joe würde dennoch Ärger bekommen, denn einige Dinge ließen sich nicht so leicht wieder herrichten: kaputte Fensterscheiben, der zerrissene Filz auf dem Pooltisch, und auf die Tapete im oberen Bad hatte jemand mit Filzstift einen riesigen Penis gemalt.

»Alles halb so schlimm«, fand Lauren. Sie saß auf einem Barhocker in der Küche und trank eine weitere Weinschorle. Im Hintergrund brummte die Spülmaschine.

Als Joe von draußen zurückkam – er hatte einen Müllsack mit Leergut weggebracht –, war er schon fast wieder der Alte und wollte ihr einen Kuss geben. Doch als Lauren sich zu ihm vorbeugte, verlor sie das Gleichgewicht und schlug hart auf dem Boden auf. Dante lief erschrocken zu ihr hinüber, doch Lauren hielt sich nur die Seiten und lachte schallend.

Joe half ihr auf, während Dante die Flasche mit der Weinschorle betrachtete.

»Wie viele davon hattest du eigentlich?«, wollte er wissen.

»Ich liebe deine kleinen Speckbacken«, grinste Lauren, kniff Joe in die Wange und stolperte erneut. Sie war ziemlich schwer und Dante musste sie um die Taille fassen, damit sie Joe nicht umstieß. Dann packten die beiden Jungen sie gemeinsam unter den Armen und schleiften sie in den Wintergarten, wo sie sie aufs Sofa fallen ließen.

»Diese Dinger sind einfach köstlich«, lallte Lauren. »Jemand soll ins Clubhaus gehen und noch ein paar von diesen Schorlen holen!«

Anna stellte sich hinter die beiden Jungen. »Vielleicht sollte ich ihr einen schwarzen Kaffee machen?«

»Um die wieder nüchtern zu kriegen, brauchst du die halbe Kaffeeernte von Brasilien«, seufzte Dante.

»Hast du eure Mutter angerufen?«, fragte Joe.

Dante wusste, dass Chloe bei der Überwachung half. »Sie hat ein Date und außerdem kriegt sie einen Anfall, wenn sie Lauren in diesem Zustand sieht«, antwortete er daher.

Und das war nicht mal gelogen. CHERUB-Agenten durften aus Gründen der Tarnung bei entsprechenden gesellschaftlichen Anlässen in Maßen trinken und rauchen, aber wenn man sich betrank wie Lauren, konnte man leicht Fehler machen und seine Cover-Story verraten. Wenn Chloe das herausfand, würde Lauren ernsthaften Ärger bekommen.

»Ich bringe sie nach Hause«, seufzte Dante. »Hoffentlich wird sie durch den Spaziergang wieder etwas nüchterner.«

»Ich bin ja gar nicht betrunken«, behauptete Lauren und stellte sich kerzengerade und mit steifen Armen hin wie ein Soldat, der gerade losmarschieren soll.

Joe sah Anna an. »Und was ist mit dir?«

»Ich habe meine Mutter angelogen und ihr erzählt, dass ich bei Tracy übernachte«, erklärte Anna. »Aber sie wurde von ihrem Dad schon vor Ewigkeiten abgeholt.«

»Du kannst gerne hierbleiben«, bot ihr Joe an.

»Aber keine Sauereien!«, schnaubte Lauren und hob die Faust. »Das ist meiner! Lass die Finger von ihm!«

»Komm schon, Schwesterchen«, ächzte Dante, nahm Lauren am Arm und zog sie mit sich. »Wir bringen dich nach Hause.«

»Wir haben auch eine Schubkarre«, grinste Joe, »wenn du willst, kannst du sie da reinsetzen.«

Anna lachte laut auf, während Lauren den Gang entlangtorkelte, sich an den Wänden festhielt und behauptete, dass es ihr ausgezeichnet ginge und sie gar keine Hilfe brauche – bis sie über die Fußmatte stolperte und bäuchlings auf der Veranda landete.

»Oha«, kicherte Lauren. Dante half ihr auf. »Wer hat denn das dumme Ding da hingelegt?«

»Wir treffen uns morgen!«, rief Dante Joe zu, legte sich Laurens Arm um die Schulter und ging die Einfahrt entlang. »Oder vielleicht auch erst Montag in der Schule!«

»Nicht, wenn ich dich zuerst treffe!«, antwortete Joe, hielt beide Daumen hoch und schloss die Tür.

Im Haus war Laurens Zustand noch recht lustig gewesen, aber als sie auf die Straße kamen und sich auf den Heimweg machten, begann Dante ihr Stolpern und Kichern ziemlich auf die Nerven zu gehen. Als sie an der relativ viel befahrenen Straße auf einem Grünstreifen standen, nahm er ihre Hand und riss sie am Arm, damit sie ihn ansah.

»Ich weiß nicht, ob Chloe zu Hause ist«, warnte er sie. »Aber wenn sie dich so sieht, wird sie dich von einigen Missionen suspendieren. Also hör auf, Blödsinn zu machen.«

Lauren streckte ihm nur die Zunge heraus.

Dante drückte ihren Arm noch fester und sagte streng: »Ich meine es ernst, Lauren! Das ist echt wichtig!«

»Du tust mir weh!«, jammerte sie und versuchte, sich loszureißen.

Dante war besorgt, denn auch wenn Lauren ziemlich hinüber war, war sie immer noch gut in Karate. Dennoch hielt er ihren Arm weiterhin fest, damit sie ihn nicht ignorieren konnte.

»Du führst dich idiotisch auf!«, schimpfte er. »Soll ich dich hier allein stehen lassen? Das tue ich nämlich gleich!«

In diesem Augenblick raste ein großer Toyota-Jeep vorbei und ließ Laurens Haare wehen.

»Wenn du mich nicht loslässt«, begann Lauren trotzig, doch dann änderte sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck. »Weißt du was? Wenn du wütend bist, sind deine Augen echt sexy!«

Bevor Dante reagieren konnte, hatte sie ihm schon die Arme um den Hals gelegt und küsste ihn. Lauren war hübsch, daher erwiderte er automatisch ihren Kuss und zog sie an sich, doch nach ein paar Sekunden kam er zur Besinnung und stieß sie weg.

»Lass das«, verlangte er. »Wir haben beide zu viel getrunken. Und stell dir mal vor, wenn uns jemand sieht! Wir sollen schließlich Geschwister sein!«

Lauren stapfte allein weiter. Sie war ein wenig wackelig auf den Beinen, aber Dante blieb in ihrer Nähe und achtete darauf, dass sie nicht stürzte oder vor ein Auto lief. Plötzlich drehte sie sich mit ernstem Gesicht um und wedelte mit einem Finger. »Ich glaube, du bist einer von den netten Jungs, Dante«, nuschelte sie. »Die meisten hätten das ausgenutzt. Wenn du so wärst wie mein Bruder, würde ich jetzt ohne Top dastehen.«

»Pass auf die Autos auf«, warnte Dante, als ein Ford hupend an ihnen vorbeiraste.

Er stieß sie sanft wieder an den Straßenrand zurück, aber wenigstens ging sie jetzt zügig, und sie kamen viel schneller voran, wenn er nicht ihren Arm um seine Schulter legen musste.

Das letzte Drittel des Weges verlief auf einer wesentlich ruhigeren Straße mit einem richtigen Gehweg, der sich zwischen Luxusvillen den Hügel hinauf bis zu ihrem eigenen Haus wand. Dante war erleichtert, den dichten Verkehr hinter sich gelassen zu haben, doch jetzt machte er sich Sorgen, dass Chloe vorbeikommen könnte oder dass Lauren Lärm machte und die Nachbarn störte.

Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass sie am Anfang ihrer Straße durch eine Hecke kletterte.

»Was machst du denn da?«, wollte er wissen.

»Ich platze gleich«, verkündete Lauren. »Komme gleich wieder.«

Dante schüttelte den Kopf. »Wir sind nur noch dreihundert Meter von zu Hause weg. Du musst nicht hinter eine Hecke gehen.«

Doch die betrunkene Lauren war fest entschlossen und kroch durch die Zweige. Als sie sich auf der anderen Seite aufrichtete, hörte Dante, wie ihr Turnschuh ausglitt, dann einen Aufschrei und eine Art Reißen.

»Lauren? Alles in Ordnung?«, rief Dante und folgte ihr durch die Hecke.

Auf der anderen Seite sah er, dass Lauren über ein kniehohes Geländer gefallen und einen fünfundvierzig Grad steilen Betonabhang hinuntergerutscht war und jetzt zwei Meter unter ihm in einem Graben lag, der das Regenwasser daran hindern sollte, über die Straße zu treten.

»Alles in Ordnung?«, wiederholte er besorgt. Er sprang über das Geländer und kletterte vorsichtig den Abhang hinunter. Wenigstens war der Graben nach den heißen letzten Tagen trocken.

Im Mondlicht sah er, dass Lauren schmerzhaft das Gesicht verzog. »Ich bin ziemlich heftig auf meiner Hand gelandet«, stöhnte sie. »Ich weiß nicht, was passiert ist, aber es tut höllisch weh!«

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McEwen parkte in der sicheren Entfernung von fünfhundert Metern und beobachtete durchs Fernglas, wie Paul Woodhead den weißen Lieferwagen rückwärts in eine verfallene alte Scheune steuerte, etwa einen Kilometer von seinem eigenen Haus in Dartmouth entfernt. Er verhängte die Tür mit einem Vorhängeschloss, setzte sich einen Helm auf, zog eine Lederjacke über und fuhr mit einem kleinen Yamaha Crossrad wieder auf die Straße zurück.

»Was hältst du davon?«, fragte Neil über den Polizeifunk im Überwachungswagen.

»Ich bleibe hier und sehe mal nach, was wir hier haben«, erklärte McEwen. »Du folgst Woodheads Motorrad. Er fährt bestimmt nach Hause, aber wir sollten das trotzdem prüfen.«

»Verstanden«, antwortete Neil.

McEwen nahm sich eine Taschenlampe, eine Videokamera und Einbruchswerkzeug aus dem Handschuhfach, dann stieg er aus dem BMW und ging langsam zur Scheune. Um sicherzugehen, dass es weder Alarm noch Überwachungskameras gab, prüfte er das Gebäude von allen Seiten mit dem Fernglas. Als er näher kam, schaltete er die Taschenlampe ein und leuchtete über den Boden, um nach Stolperdrähten und Bewegungsmeldern Ausschau zu halten.

Doch die Scheune schien durch nichts anderes als das Vorhängeschloss gesichert zu sein, das keinen großen Widerstand leistete, sondern sich mit einem zugespitzten Schlüssel und einem kräftigen Schlag öffnen ließ. Die Holztür sprang geräuschvoll auf und McEwen erschrak, als sein Funkgerät plötzlich fiepte.

»Er ist zu Hause«, informierte ihn Neil. »Ich habe durchs Schlafzimmerfenster gesehen, wie er sich ausgezogen hat und ins Bad gegangen ist.«

»Dann kannst du auch hierherkommen«, sagte McEwen. »Ich bin schon drinnen.«

»Bis gleich«, verabschiedete sich Neil.

McEwen achtete auch weiterhin auf mögliche Sicherheitsvorkehrungen, während er um den Lieferwagen herumging. Dann streifte er durchsichtige Plastikhandschuhe über und nahm die kleine Videokamera aus der Tasche. Die hintere Tür des Lieferwagens war unverschlossen, und als er die Kamera über die Kisten schwenkte, schlug ihm Fischgeruch entgegen.

»Damit kann man einen hübschen kleinen Krieg anfangen«, stellte er ein paar Minuten später fest, als Neil eintraf. »Granaten, Sturmgewehre, Kugeln. Da drin ist sogar ein Granatwerfer.«

»George hat aber gar keinen Granatwerfer bestellt«, rief Neil überrascht.

McEwen zuckte mit den Achseln. »Vielleicht haben sie noch andere Kunden. Oder es ist für die private Waffenkammer des Commanders.«

»Und jetzt?«

»Im BMW sind ein paar Mini-GPS-Geräte«, sagte McEwen. »Damit können wir die einzelnen Kisten verfolgen, wenn die Waffen verladen werden. Allerdings sind diese kleinen Dinger wesentlich unzuverlässiger als die großen, die wir an den Autos angebracht haben.«

»Und dann können wir nur abwarten«, meinte Neil. »Die Frage ist nur, wie lange? Stunden? Tage? Wochen?«

»Ich denke mal, dass die Bandits ihr Geld so schnell wie möglich haben wollen«, vermutete McEwen, sah auf die Uhr und gähnte. »Eines weiß ich sicher: Ich bin seit heute Morgen im Dienst und hoffe, dass dein Boss uns bald jemanden schickt, der uns ablöst.«

»Es kommt jemand vom Hauptquartier in London«, antwortete Neil und schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber wir müssen unsere Augen leider noch ein paar Stunden offen halten.«