37

James verbrachte die Nacht in einem bequemen King-Size-Bett und konnte darin sogar noch vor acht Uhr ein Frühstück einnehmen, bevor ihn ein Campus-Fahrer abholte, um ihn mit seinem Bike nach Salcombe zurückzubringen. Am Sonntagmorgen waren die Straßen leer und ein Lieferwagen, der auf eine Organisation registriert war, die gar nicht existierte, konnte keinen Strafzettel bekommen – daher schafften sie die gut fünfhundert Kilometer in weniger als fünf Stunden.

Radio Cambridge meldete, dass es bei dem gewalttätigen Aufruhr auf der Rebel Tea Party mehrere Verletzte infolge von Messerstechereien gegeben hatte, vier Menschen hatten schwere Verbrennungen davongetragen und es gab einen Toten. Selbst die überregionalen Nachrichtensender berichteten von den Ereignissen.

Da James nicht vor aller Augen in einem Lieferwagen nach Hause gebracht werden konnte, hielten sie gut zwanzig Kilometer vor Salcombe an. Es war ein wunderschöner Tag, als James sein Bike über die Laderampe hinunterrollte, nur die leichten Kopfschmerzen und das zerbrochene Visier erinnerten ihn noch an das vorangegangene Chaos. Er fühlte sich wie in einem Werbespot, als er über die leeren Straßen durch die schöne Landschaft nach Hause brauste.

James fuhr schnell, denn die lange Fahrt am Tag zuvor hatte sein Vertrauen in seine Fahrkünste gestärkt, und als er nun in die gepflasterte Auffahrt einbog, wäre er am liebsten umgedreht und noch einmal losgefahren. Er durchwühlte seinen Rucksack nach dem Hausschlüssel, konnte ihn aber nicht finden, also klingelte er.

Es war Lauren, die ihm öffnete, barfuß und in James′ Green-Day-T-Shirt.

»Wo hast du denn wieder deinen Schlüssel, du Oberschussel?« , begrüßte sie ihn mürrisch.

»Ich hatte mich schon gefragt, wohin wohl dieses T-Shirt verschwunden ist«, gab James zurück. »Mann, du siehst echt fertig aus.«

»Joes Party«, erklärte Lauren tonlos und hob dann ihren Gipsarm.

»Mit wem hast du dich denn geprügelt?«, grinste James.

»Waaahnsinnig witzig«, fand Lauren und schlurfte in die Küche. James folgte ihr. Sie nahm zwei Kopfschmerztabletten aus einer Schachtel und löste sie in einem Glas Wasser auf, als Dante aus dem Garten hereinkam. Er duftete nach frischem Gras und auf seiner nackten Brust glänzten Schweißperlen.

»Wie praktisch!«, beschwerte er sich. »Lauren kann mit ihrem gebrochenen Handgelenk den Rasenmäher nicht schieben und du tauchst natürlich erst auf, wenn ich ihn gerade wieder in die Garage gebracht habe.«

James war auf seiner kleinen Motorradtour ins Schwitzen gekommen und leerte den Becher, den er randvoll mit Leitungswasser gefüllt hatte, in einem Zug. »Du hast mir immer noch nicht verraten, wie das passiert ist«, sagte er an Lauren gewandt.

»Lass dir das von Dante erzählen.« Lauren wedelte abwehrend mit der gesunden Hand. »Ich leg mich noch mal ein bisschen hin. Sag Chloe, dass ich nichts essen mag, falls sie etwas zu Mittag macht.«

»Nicht mal leckere rote Beete und ein Sandwich mit roher Leber?«, zog James sie auf.

Lauren sah ihn finster an. »Ich sag dir was: Wenn ich kotzen muss, dann ziele ich auf dich!«

»Du hättest sie sehen sollen«, raunte Dante ihm zu, als Lauren sich die Treppe hinauf ins Bett schleppte. »Sie hat ungefähr ein halbes Dutzend Flaschen Weinschorle getrunken. Sie war total am Ende. Unten an der Straße wollte sie dann hinter einer Hecke pinkeln und ist dabei in einen Graben gefallen.«

James lachte auf. »Mach keinen Scheiß! Normalerweise betrinkt sie sich doch nie. Sie sagt immer, dass sie den Geschmack von Alkohol nicht mag.«

»Ich dachte schon, sie würde Ärger mit Chloe bekommen«, sagte Dante. »Aber der Schmerz in der Hand hat sie zum Glück halbwegs nüchtern gemacht, bis Chloe sie ins Krankenhaus gebracht hat.«

James fand das alles höchst amüsant. »Na, dann habe ich ja wieder was, womit ich sie aufziehen kann. Ist Chloe da?«

»Sitzt auf der Veranda und liest die Sunday Times, während ich mir in der Affenhitze die Seele aus dem Leib arbeiten darf«, beschwerte sich Dante. »Ich springe schnell unter die Dusche.«

James ging in den Garten, wo Chloe mit einer riesigen Sonnenbrille auf einem Liegestuhl lag. Sie las den Lifestyle-Teil der Zeitung und James fand, dass sie in den Shorts und dem limonengrünen Bikini-Top wirklich sexy aussah. Er hatte ihr bereits am Abend zuvor telefonisch alles erzählt, was rund um die Tea Party vorgefallen war – abzüglich der Zeit, die er mit Reina in ihrem VW-Bus verbracht hatte.

»Na, gut nach Hause gekommen?«, fragte Chloe.

»Völlig problemlos«, nickte James. »Und das Hotel war herrlich, ich habe gut geschlafen.«

»Vor einer Stunde hat jemand für dich angerufen. Dirty Dave.«

James grinste. »Er betreibt jetzt so eine Art Heldenkult mit mir, weil ich ihm gestern an der Raststätte den Arsch gerettet habe. Ich sage dir, wenn ich das richtig ausnutze, könnte ich ziemlich dicht an die Bandits herankommen.«

»Genau deshalb bist du ja hier«, lächelte Chloe und tastete nach einer Tube Sonnencreme, die etwas außerhalb ihrer Reichweite stand. »Würdest du mir die bitte mal geben?«

»Bloß keine Überanstrengung, was?«, grinste James und kickte die Tube zu ihr hinüber. »Hast du seine Nummer?«

»Auf dem Block neben dem Telefon«, nickte Chloe und drückte auf die Sonnencreme-Tube, die ein furzendes Geräusch von sich gab. James ging ins Wohnzimmer, nahm das Telefon und rief Dave auf seinem Handy an.

»Bist du gut nach Hause gekommen?«, fragte Dave.

»Gerade eben«, erwiderte James. »Tut mir leid, dass ich abgehauen bin, aber da drin wurde es mir echt zu heiß. Meine Mum wird mir noch in den Hintern treten: der Helm ist hin, die Kawasaki braucht einen neuen Blinker und mein Zelt, der Schlafsack und alles andere wurde eingeäschert.«

»Niemand macht dir einen Vorwurf«, beruhigte ihn Dave. »Marlene, die Frau des Commanders, saß im Bus. Sie sagt, du seiest ein verdammter Held, weil du den Bitch Slapper mit der Fahrradkette erledigt hast.«

»Und wo bist du?«

»In einem Hotel in der Nähe von Cambridge«, erklärte Dave. »Hier sind etwa fünfzig von uns. Wir sind kurz nach dir und dem Bus abgehauen. Der Commander ist stinksauer auf Sealclubber. Der Ruf der Bandits ist im Eimer.«

»Sie hätten nicht so einfach aus dem Camp abziehen dürfen«, stimmte James zu. »Wir haben dagestanden wie die Muppets. Was ist mit deinem Bike?«

»Ich gehöre zu den Glücklichen«, antwortete Dave. »Der Commander hat seines verloren. Und Teeth hatte seine neue Sportster kaum einen Monat, und jetzt ist sie nur noch verkohlter Schrott. Das gibt Krieg. Innerhalb der Bandits und außerhalb.«

James war klar, was das bedeutete. In den Hintergrundberichten, die er für die Mission gelesen hatte, war von den Kriegen zwischen den verschiedenen Bikergangs in Kanada, den USA, Holland, Australien und Skandinavien die Rede gewesen: Schießereien, Bombenanschläge, Dutzende von Toten. Großbritannien war das einzige Land mit einer großen Bikergemeinde, in dem es noch keinen schwerwiegenden Revierkampf gegeben hatte. Doch durch die Ereignisse der Rebel Tea Party würde sich das wahrscheinlich ändern.

»Du weißt, ich bin loyal«, erklärte James. »Hast du mich nur angerufen, um zu erfahren, wie′s mir geht, oder gibt es sonst noch etwas?«

»Ich hätte da einen Vorschlag«, bestätigte Dave. »Ein Job, bei dem du eine Menge mehr Geld machen kannst als beim Crêpewenden, aber das müssen wir unter vier Augen besprechen. Ich bin wahrscheinlich erst heute Abend wieder in Salcombe. Können wir uns morgen irgendwann in der Marina-Heights-Anlage treffen?«

»Ich habe zwar Schule«, erwiderte James, »aber gegen vier Uhr kann ich da sein.«

e9783641120047_i0037.jpg

McEwen und Neil hatten die Nacht im BMW verbracht und den Schuppen abwechselnd im Auge behalten, um sicherzugehen, dass die Waffen nicht unbemerkt fortgeschafft wurden. Als sie bis ein Uhr mittags immer noch nicht abgelöst worden waren, rief Neil seinen Boss Ross Johnson an.

»Ich verstehe Ihre Situation, Sir«, sagte Neil ins Handy, »aber wir sind seit siebenundzwanzig Stunden ununterbrochen im Einsatz. Wir müssen dringend abgelöst werden. Wenn jetzt jemand kommt und die Waffen holt, sind wir nicht mehr in der Lage, ihm zu folgen. Wir sind hier draußen am Ende der Welt, und ich habe seit gestern Nachmittag kaum etwas gegessen.«

Mit dem Handy in der Hand gab Neil die Erklärungen seines Bosses an McEwen weiter. »Ross sagt, er hätte Probleme, weil es kein Überstundenbudget gibt und er sechs seiner besten Leute losschicken musste, damit sie einen Aufruhr bei der Rebel Tea Party untersuchen. Aber unsere Ablösung ist angekommen, checkt gerade noch ins Hotel ein.«

McEwen schnappte nach Luft und riss dem verblüfften Neil das Handy weg. »Hier ist McEwen«, brüllte er zu Neils Entsetzen. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie breitärschiger Schreibtischhengst! Ich habe nichts gegessen, ich habe nicht geschlafen und ich konnte nicht aufs Klo. Ich sitze in einem brütend heißen Auto und Sie sagen mir, dass unsere Ablösung erst noch in ihr Hotel eincheckt? Was machen die Typen denn sonst noch so, bevor sie sich hier blicken lassen? Sich einen Cheeseburger genehmigen? Ein paar Löcher am Strandgolfplatz spielen?«

Als Chief Inspector war es Ross Johnson nicht gewöhnt, dass er so angeredet wurde, schon gar nicht von einem Zweiundzwanzigjährigen.

»Jetzt hören Sie mal gut zu, junger Mann«, donnerte er los. Weiter kam er jedoch nicht.

»Ach, hören Sie bloß auf mit junger Mann, Sie Ziegenhirte«, unterbrach McEwen ihn grob, während Neil vor Verlegenheit auf seinem Sitz immer kleiner wurde. »Wenn Sie mit CHERUB zusammenarbeiten, machen Sie, was wir sagen! Und ich sage, Ihre Leute sollen gefälligst alles stehen und liegen lassen, hierherkommen und mich auf der Stelle ablösen… Wer checkt denn in ein Hotel ein, wenn das Überwachungsteam seit achtzehn Stunden nichts mehr gegessen hat?«

McEwen warf Neil das Handy so heftig zu, dass es von seinem Schoß abprallte, gegen die Tür flog und der Akku herausfiel.

»Geht es dir jetzt wenigstens besser?«, wollte Neil wissen.

»Nichts für ungut«, antwortete McEwen, »aber ich habe schon häufig mit der Polizei gearbeitet, und die meisten von denen sind einfach Idioten.«

Neil seufzte. »Ross ist kein schlechter Kerl. Wir haben nur nicht das Budget und die Leute, die wir wirklich bräuchten.«

McEwen stieg aus, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, während Neil sein Handy wieder zusammenbastelte. Im Stehen hatte McEwen einen besseren Überblick – und traute seinen Augen kaum.

»Fernglas!«, brüllte er ins Auto hinein.

Das Fernglas bestätigte ihm, dass bei den Bäumen auf der anderen Seite der Scheune ein Polizeiauto parkte und zwei bewaffnete Beamte Stellung hinter einer Hecke bezogen hatten.

»Was machen die denn da?«, schrie McEwen verzweifelt. »Die lassen noch unsere ganze Operation platzen!«

McEwen schnappte sich seinen Sicherheitsausweis aus der Jacke, die er über den Rücksitz geworfen hatte, und rannte über das Feld. Als er vor der Scheune ankam, näherten sich ihm sechs uniformierte Beamte, und ein Megafon plärrte.

»Hier spricht die Polizei! Bleiben Sie stehen und nehmen Sie die Hände hoch!«

»Verpisst euch!«, schrie McEwen und stürmte weiter auf einen Sergeanten zu.

Aus der Hecke wurde ein Warnschuss abgefeuert, der fünf Meter hinter McEwen im Gras einschlug. Sie befanden sich zwar auf freiem Feld, aber selbst wenn die Anwohner die Polizei nicht hatten ankommen sehen, so war der Schuss mit Sicherheit in der halben Nachbarschaft zu hören.

»Keine Bewegung!«, tönte es aus dem Megafon. »Auf die Knie und die Hände auf den Kopf!«

Fluchend ließ sich McEwen auf die Knie fallen und die Cops umstellten ihn. Der leitende Beamte war ein untersetzter Sergeant in voller Kampfmontur. Er schickte vier Leute zur Scheune, dann zückte er seinen Schlagstock und baute sich vor McEwen auf.

»Glauben Sie, Sie brauchen all das, um eine Holzscheune zu stürmen?«, erkundigte sich McEwen sarkastisch und wedelte mit seinem Ausweis. »Ich bin vom Geheimdienst. Diese Scheune steht unter Beobachtung, und Sie haben soeben unsere Operation ruiniert.«

Der Sergeant griff nach McEwens Ausweis und studierte ihn misstrauisch. Er war nicht der erste Polizist, der einen Sicherheitsausweis nicht erkannte, wenn er einen sah.

»Wo hast du den denn her, Bürschchen? Im Pub gekauft oder selbst laminiert?«

Der Sergeant lachte, während seine Kollegen die Tür der Scheune mit einem Rammbock einschlugen.

»Wenn meine Leute das hören, sitzen Sie ganz tief in der Scheiße!«, schrie McEwen.

»Legen Sie ihm Handschellen an und stecken Sie ihn in den Wagen«, befahl er einer weiblichen Kollegin und marschierte zur Scheune davon. Doch jetzt war auch Neil Gauche angekommen und schwenkte seine leicht identifizierbare metallene Polizeimarke.

»Er gehört zu mir. Sergeant Neil Gauche, NPBTF. Was ist hier los?«

Aus der Scheune schoss ein Polizist hervor. »Wir haben die Waffen, Sarge! Der ganze Lieferwagen ist voll davon!«

Der Sergeant sah Neil kopfschüttelnd an. »Ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie vorhaben. Ich weiß nur, dass das hier vom Chief Constable von Devon angeordnet wurde. Wenn Sie also wissen wollen, warum wir hier sind, sollten Sie ihn fragen.«

Neil wies auf McEwen. »Er gehört zu mir«, wiederholte er, »können Sie ihn bitte loslassen?«

»Schon gut«, antwortete der Sergeant und gab McEwen seinen Ausweis zurück. »Geheimdienst, ja? Sie sehen aber nicht gerade aus wie James Bond. Und auch nicht sonderlich intelligent.«

Der Sergeant lachte über seinen eigenen Witz, verstummte aber abrupt, als ihn McEwen an seiner Kampfweste packte und ihm einen Kopfstoß verpasste.