Der Sonntagsbraten der Vorsitzenden Zara Asker war gerade fertig, aber anstatt ihn mit ihrer Familie zusammen genießen zu können, musste sie zum Royal-Air-Force-Flugfeld am CHERUB-Campus fahren und einen kleinen Jet nach Exeter nehmen.
Chloe holte sie im Terminal ab und fuhr mit ihr zu einem Hotel in der Nähe, in dem sie einen Konferenzraum gemietet hatte. Als eine der jüngsten Einsatzleiterinnen von CHERUB war Chloe in Gegenwart ihrer Chefin ein wenig nervös.
»Ross Johnson schafft es nicht«, erklärte sie, während sie über den sonnigen Parkplatz in die schlichte Hotellobby gingen.
Zara war nicht gerade bester Laune. »Wenn ich es vom Campus hierherschaffe, im siebten Monat schwanger, warum kann er dann nicht aus London herkommen?«
»Er ist in Cambridge«, erklärte Chloe. »Seit den Unruhen bei der Rebel Tea Party sitzt ihm die Presse im Nacken.«
»Und wer ist dann hier?«
»Ross′ Stellvertreterin, Inspector Tracy Jollie.«
»Und sie ist berechtigt, über die CHERUB-Operation informiert zu werden?«, wollte Zara wissen.
»Wir haben die Genehmigung für drei Leute«, antwortete Chloe. »Ross Johnson, der bereits vorher von CHERUB wusste, Neil Gauche und Tracy Jollie. Der Rest von Ross′ Team weiß nur von dem falschen Waffendeal, aber nichts von der CHERUB-Operation.«
Nickend verließ Zara die Lobby und ging einen langen Gang mit geschlossenen Türen entlang, hinter denen die Speisesäle lagen.
»Das war das einzige Hotel, das ich so kurzfristig in der Nähe des Flughafens finden konnte«, entschuldigte sich Chloe.
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Zara, als sie Chloes Nervosität bemerkte. »Was ist mit den drei Kindern? Wie haben sie die Nachricht von der Polizeirazzia aufgenommen?«
»Lauren und James haben genügend Einsätze hinter sich, um zu wissen, dass auch mal etwas schiefgehen kann. Um Dante mache ich mir mehr Sorgen. Er ist persönlich zu stark in diese Mission involviert und will unbedingt, dass der Commander hinter Gitter kommt.«
Der Konferenzraum bot einen Blick über die Landebahn des kleinen Flughafens von Exeter und verfügte ansonsten über die Standardausstattung: einen langen Tisch, einen Overhead-Projektor, ein Flip-Chart sowie ein paar Getränke und Kekse.
Die Anwesenden warteten seit vierzig Minuten auf Zara. Neil und McEwen hatten immer noch nicht geschlafen und hielten sich wach, indem sie sich den Inhalt der Nescafé-Tütchen direkt auf die Zunge streuten. Lauren hatte den Kopf auf die Tischplatte sinken lassen, während James und Dante die kleinen Milchpäckchen aufeinandertürmten.
Als Zara hereinkam, reichte sie Tracy schnell die Hand und setzte sich ans Kopfende des Tisches.
»Okay«, begann sie und rückte sich den Stuhl zurecht. »Was wissen wir über diesen Polizeieinsatz? Wie und warum ist es dazu gekommen?«
»Ich habe mit dem Polizeichef von Devon gesprochen, der die Razzia heute Mittag angeordnet hat«, erklärte Inspector Tracy Jollie. »Gestern haben Neil und McEwen vier Männer beobachtet, die Waffen aus dem Trawler Brixton Riots ausgeladen haben. Bei einem davon handelte es sich um einen jungen Mann namens Julian Hargreaves. Unser Team gab seine Überwachung auf, nachdem er gegangen war.«
»Warum?«, unterbrach Zara.
»Personal«, erklärte McEwen. »Es waren nur ich, Neil und Chloe. Wir haben beschlossen, den Waffen zu folgen.«
»Soweit ich weiß, hat sich Julian von seinem Freund Nigel getrennt und ist nach Hause in die Marina-View-Appartements gefahren«, fuhr Tracy fort. »Zu Hause hat Julian dann angefangen, darüber nachzugrübeln, in was er da hineingeraten ist, und hat sich gefragt, wofür die Waffen, die er geschmuggelt hat, eigentlich benutzt werden sollen.«
James hatte die Geschichte schon einmal gehört und schnaubte verächtlich. »Julian ist keiner, der wegen seines Gewissens schlaflose Nächte hätte. Es ist viel wahrscheinlicher, dass er jede Menge Dope geraucht hat und total durch den Wind war und dann Panik bekommen hat, dass man ihn schnappen könnte.«
»Schon möglich«, nickte Tracy. »Aber das spielt keine Rolle mehr. Wichtig ist, dass Julian sich entschlossen hat, mit seinem Vater zu sprechen und ihm zu beichten, was er getan hatte. Jonty Hargreaves ist Richter, Spezialgebiet Strafrecht. Also versuchte er, was jeder Vater mit juristischer Ausbildung versuchen würde, nämlich die bestmögliche Lösung für seinen Sohn zu finden. Der ehrenwerte Jonty Hargreaves ließ Julian ein Geständnis schreiben und unterzeichnen, in dem Julian erklärte, dass er von Paul Woodhead in die Schmuggelgeschichte hineingezogen worden sei, um seinen Freund Nigel vor Prügeln zu bewahren. Dann rief Jonty seinen alten Freund, den Polizeichef von Devon, an, und sie machten einen Deal.«
»Woher wusste Julian eigentlich, wo die Waffen gelagert wurden?«, fragte Lauren.
»Woodhead muss es auf dem Boot erzählt haben«, vermutete McEwen.
»Jonty und Julian sind ganz früh heute Morgen zur Polizei gegangen«, nahm Tracy ihren Bericht wieder auf. »Julian hat sein schriftliches Geständnis einem Inspector übergeben, der vom Polizeichef extra dafür ausgesucht worden war. Julian hat sich eines schweren Verbrechens für schuldig erklärt, aber seinem Vater ist natürlich klar, dass sein Sohn erst siebzehn ist, keine Vorstrafen hat und dass sein Geständnis zur Beschlagnahmung einer großen Waffenlieferung und zur Verhaftung von Riggs und Woodhead führt.«
Zara nickte. Sie wusste sogar noch besser als die meisten Anwälte, wie die Gesetze bei Jugendlichen griffen, und führte die Geschichte selbst zu Ende. »Wenn Julian also vor Gericht geht und sich wegen minderer Verstöße für schuldig erklärt, werden ihm die Richter das Geständnis anrechnen. Und da er mit siebzehn noch minderjährig ist, wird sein Vorstrafenregister nur bis zu seinem achtzehnten Geburtstag geführt werden.«
»So ist es im Großen und Ganzen«, seufzte Neil. »Aber Richter Hargreaves′ Pläne, Julian vor dem Knast zu schützen, haben alle unsere Chancen ruiniert, die Waffen zu verfolgen und Beweise zu finden, dass der Commander und die anderen ranghohen Bandits etwas mit dem Schmuggel zu tun haben. Und als Krönung kommt noch dazu, dass wir eine Anzahlung von dreihunderttausend gemacht haben, die wir wahrscheinlich nie wiedersehen. Das ist echt extrem peinlich.«
Krachend flog ein Stuhl nach hinten. Dante war aufgesprungen und schlug mit den Handflächen auf den Tisch.
»Dieser Scheißkerl!«, tobte er. »Der Commander muss das größte Glücksschwein der Welt sein! Nie kann man ihm etwas nachweisen! Gebt mir ein Gewehr, dann halte ich es ihm vor die Nase und verteile sein Gehirn auf seiner Haustür!«
Chloe erhob sich und ging zu ihm hinüber.
»Beruhige dich, Junge«, versuchte sie ihn zu besänftigen. »Alle hier wollen den Commander hinter Schloss und Riegel sehen, aber wir wussten von Anfang an, dass diese Mission nur ein Versuch war.«
»Ach, hör doch auf damit!«, verlangte Dante wütend. »Für euch alle ist der Commander nur eine Zielperson. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man und wenn man verliert, macht man mit dem nächsten Job weiter. Aber ich habe gesehen, wie er eine Pistole genommen und meine Familie umgebracht hat!«
»Dante!«, rief Zara streng und stand auf. »Ich weiß, dass dir das alles sehr zu schaffen macht. Aber selbst CHERUB steht nicht vollkommen über dem Gesetz. Es mag Länder geben, in denen die Regierung losgeht und alle umbringt, die ihr nicht in den Kram passen, aber ich bin froh, dass ich nicht in so einem Land leben muss!«
»Tut mir leid«, sagte Dante, trat von Chloe zurück und hob seinen Stuhl auf. »Das war unprofessionell. Es kotzt mich nur einfach an, dass der Commander immer noch mit allem durchkommt.«
»Das kann ich gut verstehen«, nickte Zara. »Wie lief es denn mit der CHERUB-Operation, bevor das passiert ist?«
Lauren berichtete als Erste. »Dante und ich sind nicht sonderlich gut vorangekommen. Wir haben über Nigels Schwester Anna den Tipp gekriegt, dass er in den Waffenschmuggel verwickelt ist, aber das war, ehrlich gesagt, nur ein Glückstreffer. Unser Hauptziel ist Joe Donnington, vorausgesetzt, er wüsste, was sein Vater vorhat. Das ist aber nicht der Fall. Er findet es peinlich, einen Vater zu haben, der sich anzieht wie Adolf Hitler, und distanziert sich von ihm.«
»Joe ist ein guter Kerl«, warf Dante ein. »Er war früher mein bester Freund, und wenn meine Eltern noch leben würden, wäre er es wahrscheinlich immer noch. Aber er weiß nicht mehr über den Waffenschmuggel oder den Drogenhandel der Bandits als ich.«
»Das ist enttäuschend«, sagte Zara. »Und was ist mit dir, James?«
James setzte sich gerade hin und räusperte sich. »Es lief eigentlich ziemlich lahm. Am Freitag hätte ich noch gesagt, dass ich nicht näher an der Organisation der Bandits dran bin als an unserem ersten Tag. Aber die Tour zur Rebel Tea Party hat alles verändert. Dirty Dave liebt mich, die anderen Bandits beginnen, mich als echten Gewinn anzusehen, und wenn ich den Sommer über bleibe, habe ich gute Chancen auf eine Mitgliedschaft im Monster Bunch.«
»Das ist alles so frustrierend«, seufzte Chloe. »Gerade als James den Durchbruch geschafft hat, auf den wir gehofft hatten, fliegt uns die ganze Operation um die Ohren.«
»Ich soll mich am Montag mit Dave treffen«, erzählte James. »Er will mir ein Angebot machen, wie ich zu Geld kommen kann.«
»Hast du eine Ahnung, um was es geht?«, fragte Tracy.
James schüttelte den Kopf.
»Aber er sagte, dass er nicht am Telefon darüber reden wolle, daher wird es wohl etwas Illegales sein.«
Zara nickte und verschränkte die Finger. »Nun«, sagte sie und holte tief Luft, »das wird jetzt niemandem gefallen, aber ich glaube, CHERUB wird sich von dieser Mission zurückziehen müssen.«
»Das darf nicht wahr sein!«, stöhnte Dante.
»Reiß mir nicht den Kopf ab«, sagte Zara. »Jede CHERUB-Mission wird von unserem Ethik-Komitee genehmigt. Eure Einsatzunterlagen haben euch erlaubt, die Bandits zu unterlaufen und mit der NPBTF zusammenzuarbeiten, um der Sondereinheit zu helfen, eine Verbindung zwischen dem Waffenschmuggel und dem Commander und anderen Bandits herzustellen. Diese Mission war in dem Moment beendet, als die Waffen von der Polizei in Devon beschlagnahmt wurden.«
»Ich hätte bei der Tea Party gestern Abend erstochen werden können oder Schlimmeres«, protestierte James. »Ich gehe ja gerne Risiken ein, aber was soll das, wenn einem dann der Boden unter den Füßen weggezogen wird? Besonders vor diesem Treffen morgen!«
»Ich weiß«, nickte Zara. »Ich glaube auch, wir sollten die Bandits nicht ganz aus den Augen verlieren, besonders da die drei Verhaftungen sicher nicht das Ende ihres Waffenhandels sind. Ich will damit nur sagen, dass die Mission, für die ihr hierhergeschickt worden seid, damit vorbei ist. Ihr Kinder könnt euren Freunden erzählen, dass eure Eltern sich versöhnt haben und dass ihr probeweise zu eurem Vater nach London zurückkehrt. Chloe kann mit Ross Johnson weiterarbeiten. Vielleicht können sie eine neue Mission planen, die den Vorteil ausnutzt, dass James eine Verbindung zu den Bandits aufgebaut hat. Wir werden das Haus in Salcombe auf jeden Fall behalten, und da die Sommerferien anstehen, ist es völlig in Ordnung, wenn ihr alle für ein paar Wochen nach London zurückkehrt.«
»Was ist mit meinem Treffen mit Dirty Dave morgen?« , fragte James. »Da könnte ich doch hingehen und mir wenigstens anhören, was er zu sagen hat.«
»Einverstanden«, antwortete Zara.
»Und wer von uns kommt zurück?«, wollte Dante wissen. »Wir alle oder nur Chloe und James?«
Zara zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich nur Chloe und James, aber das hängt natürlich von der neuen Mission und ihren Zielen ab.«
»Wenn es eine gibt«, warf James ein.
»Wenn James dabei ist, die Bandits zu infiltrieren, könnte das ein großer Durchbruch sein. Besonders bei einem drohenden Bikerkrieg«, zeigte Tracy sich begeistert.
Zara stand auf. »Hat sonst noch jemand etwas hinzuzufügen?«
Niemand sagte etwas. Dante stöhnte nur laut auf, um deutlich zu machen, wie genervt er war. Zara schüttelte Tracy und Neil zum Abschied die Hand.
»Ich bringe die Kids nach Salcombe zurück«, erklärte Chloe.
Zara deutete auf McEwen. »Du bleibst hier«, verlangte sie streng. »Der Polizeichef ist nicht gerade erfreut darüber, dass einer seiner Sergeants einen gebrochenen Wangenknochen hat, und ich auch nicht.«
McEwen zuckte mit den Achseln und sah drein wie ein kleiner Junge, den man beim Keksestehlen erwischt hatte. »Muss wohl am Stress gelegen haben«, sagte er, »und am extremen Schlafentzug.«
»Tatsächlich?«, gab Zara unbeeindruckt zurück. »Nun, dann wird es dich ja freuen zu hören, dass du dich sechs Monate lang von Stress und Schlafmangel erholen kannst, wenn du im Keller des Hauptgebäudes arbeitest. Da warten noch ungefähr fünftausend Kisten Archivmaterial darauf, neu katalogisiert und digitalisiert zu werden.«