Mit donnerndem Auspuff raste James die unbeleuchteten Landstraßen entlang, seine einzige Lichtquelle der Scheinwerfer seines Motorrads. Ein paar Mal erschrak er selbst, doch als er nach einem dreißig Kilometer langen Umweg zu Hause ankam und die Kawasaki über die Einfahrt rollte, war er verschwitzt und begeistert zugleich.
Er parkte sein Bike in der Doppelgarage neben dem Range Rover und spürte einen Hauch von Wehmut aufsteigen. Das Motorrad stand in direkter Verbindung mit seiner geheimen Identität, daher würde man ihm nie erlauben, es zu behalten, selbst wenn er anbot, es von seinen eigenen Ersparnissen zu kaufen. Und da James erst sechzehn war, würde es noch eine Weile dauern, bis er wieder einmal ein Motorrad fahren durfte, besonders ein so starkes wie die ER-5.
James zog die Handschuhe aus, die er sich auf der Rebel Tea Party gekauft hatte, und setzte den genialen Karbonfaser-Helm ab, den ihm Dirty Dave drei Tage zuvor geschenkt hatte. Knarrend ging das elektrische Garagentor zu, während James auf dem Weg zur Haustür in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel suchte. Ein süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase und er musste lächeln. Eines würde er mit Sicherheit nicht vermissen – den Crêpe-Geruch in seinen Klamotten.
Plötzlich schrak er zusammen. »Bist du das, James?«, hörte er Dante fragen.
James blickte sich suchend um, bis er Dante in dem engen Gang zwischen Garage und Haus an der Wand kauern sah. Im Schein der Lichter aus den oberen Zimmern konnte James erkennen, wie niedergeschlagen er war.
»Alles in Ordnung?«, fragte James, als er die kleine Armbrustpistole in Dantes Schoß entdeckte. »Wo hast du denn das her?«
»Aus dem Haus des Commanders«, erwiderte Dante. »Du hast mal jemanden getötet, oder?«
»Bei meinem zweiten Einsatz«, nickte James. »Ich habe ihm die Pistole weggenommen. Es hieß er oder ich.«
Erst jetzt dämmerte James der Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass Dante den Commander hasste und dass er in dessen Haus gewesen war und nun eine Armbrustpistole mit tödlichen Metallbolzen im Schoß hatte.
»Dante, was um Himmels willen hast du getan?«, stieß er hervor.
»Er war allein zu Haus«, erklärte Dante. »Ich bin eingebrochen und hab den Commander auf seinem Bett liegen sehen. Ich habe ihn ins Visier genommen und wollte abdrücken, aber… ich weiß auch nicht… ich konnte es nicht.«
James stieß erleichtert die Luft aus, aber ihm fehlten die Worte. Er wusste, dass der Grundsatz von CHERUB, nicht einfach loszugehen und Leute zu ermorden, völlig richtig war, aber er wusste auch, dass er anders denken würde, wenn der Commander seine Familie umgebracht hätte.
»Ich hatte alles geplant«, erzählte Dante weiter. »Ich hab die Schuhe angezogen, die ich auf Joes Party anhatte, damit mich meine Fußabdrücke nicht verraten können. Ich hab die Waffe des Commanders genommen, um sie dortzulassen, damit man keine Spur zu mir zurückverfolgen kann. Zara und Chloe hätten wahrscheinlich was vermutet, aber ohne einen Augenzeugen hätte man nie etwas beweisen können.«
»Aber trotzdem ist es wahrscheinlich besser so«, erwiderte James leise. »Ich mache mir immer noch Gedanken um den Kerl, den ich erschossen habe. So was geht einem nicht aus dem Kopf.«
Dante stand auf. Er schien erschöpft und unzufrieden.
»Ich bin ein Schwächling«, sagte er abfällig. »Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann sitzt mein Dad jetzt da oben und schlägt die Hände vors Gesicht, weil er feststellen muss, dass ich der größte Feigling der Welt bin.«
Als er sich abwandte, fiel ihm ein zusammengerolltes Foto aus dem Ärmel. James hob es auf. »Brauchst du das nicht mehr?«
»Schmeiß es weg«, verlangte Dante missmutig und ging in den Garten.
James rollte das Foto auseinander und betrachtete das Bild von der Grillparty. Er erkannte den Commander in der Mitte und Joe, der stolz vor ihm stand. Dante wirkte mit den kurzen roten Haaren ganz anders, aber das junge Mädchen am Bildrand sah ihm erstaunlich ähnlich.
»Weißt du was, Dante«, sagte er, als er ihm hinters Haus folgte, »der Grund dafür, dass du nicht abdrücken konntest, ist nicht der, dass du ein Feigling bist. Jemanden in den Kopf zu schießen, ist nichts, worauf man stolz sein kann, oder?«
Sie hatten leise gesprochen, damit Lauren und Chloe sie drinnen nicht hören konnten, aber jetzt rastete Dante aus. »Lass mich bitte einfach in Ruhe!«, schrie er James an.
»Du konntest den Commander nicht umbringen, weil du ein besserer Mensch bist als er«, fuhr James unbeirrt fort. Er hielt Dante das Foto hin. »Sieh dir deine Mutter und deine Schwester auf diesem Bild an. Glaubst du, sie wollen, dass du dich selbst mit Rachegedanken quälst? Oder glaubst du, sie wollen, dass du dein Leben weiterlebst?«
James fragte sich, ob seine Argumentation nicht zu schwammig war, aber Dante blieb stehen und riss ihm das Bild aus der Hand.
»Gib das her«, verlangte er mit einem schiefen Lächeln. »Es ist schon komisch, Lizzie anzusehen und sich vorzustellen, dass sie jetzt einundzwanzig wäre. Ich erinnere mich nur an sie als meine herrschsüchtige große Schwester, aber auf diesem Bild sehe ich zum ersten Mal, dass sie total sexy war. Und sie war auch wirklich lustig.«
James nickte. »Weißt du, was das Seltsamste daran ist, ein Cherub zu sein? Wir machen all diese unglaublichen Sachen, und im Vergleich zu anderen Kindern führen wir ein wahnsinnig aufregendes Leben, aber ich schätze, dass die meisten von uns gerne in ihr altes langweiliges Leben zurückkehren würden, wenn sie könnten.«
»Auf der Stelle«, stimmte Dante zu. »Wenigstens wird der Commander einen Schock kriegen, wenn er das nächste Mal in sein Arbeitszimmer geht.«
»Das fehlende Bild«, bestätigte James.
»Nicht nur das«, grinste Dante. »Ich hab seinem Hitlerbild einen Bolzen zwischen die Augen geschossen und mit meinem Jagdmesser Dante Scott ist ein Vengeful Bastard in seinen Schreibtisch geritzt.«
James lächelte. Und dann wurde sein Grinsen noch breiter, als er begriff, was das bedeutete. »Wenn er glaubt, dass du zu den Vengefuls gehörst und weiß, dass du mit einer Armbrust durch sein Haus geschlichen bist …«
»Vielleicht bin ich zu feige, ihm das Hirn wegzupusten«, sagte Dante grimmig, »aber wenigstens hab ich ihm was zum Nachdenken gegeben.«