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Die Arbeit ließ mich zurück wie ein ausgewrungener Mopp. Die Tage waren lang und brutal. Es fiel mir schwer, mich mit den Leuten in meinen Teams zu unterhalten, die alle viel älter waren als ich. Nur wenige von ihnen sprachen normales Englisch. Ich war dankbar für Thoms Dazustoßen, für die Scherze, die er mir textete, und für sein Angebot, mich abzuholen und nach Hause zu bringen.

Der IT -Techniker am benachbarten Arbeitsplatz redete unablässig, erzählte weitschweifig von seinen offenen Tickets und seiner Bowlingliga, von Workflowoptimierung und der klebrigen Taste auf seiner Tastatur. Jede Woche brachte ein Senior-Berater wie ein Weihnachtsmannlehrling Donut-Bällchen für die gesamte Etage mit. Das war Keith LaMarchese, rotwangig und jovial. Er lebte auf einer Privatinsel vor der Küste Floridas und führte sein eigenes Ein-Mann-Unternehmen. Er flog montags ein und dienstags wieder aus und wurde in besseren Hotels untergebracht als Peter. Im Pausenraum erwischte er mich dabei, wie ich die Armbanduhr an seinem pummeligen Handgelenk betrachtete, und sagte, mit nichts als Sonnenschein und Liebenswürdigkeit in seiner Spaßvogelstimme: Rolex gleich mehr Sex, damit die Ladys Bescheid wissen.

Ich war mir meines eigenen Melanins stets bewusst. Das sage ich ohne Selbstmitleid. Manche Leute betrachteten meine Haut, als würden sie darüber nachdenken, wie man sie am besten sauber schrubben könnte, ohne unhöflich zu sein. Thom, der Keith LaMarchese widerlich fand, legte nahe, dass ich mir das nur einbildete. Ich legte nahe, er solle sich verpissen.

Das englische Wort complexion stammt von dem altfranzösischen complession ab. Eine Kombination aus Körpersäften. Temperament, Charakter. Es macht Anleihen bei dem lateinischen complexus (umfassend, umschließend), als Partizip Perfekt complecti : umklammert, umarmt. Die spezifische heutige Bedeutung (Farbe oder Farbton der Gesichtshaut) entwickelte sich im 15 . Jahrhundert. Darauf war ich gestoßen, als ich am College eine Hausarbeit schrieb und mich in einem düsteren Winkel der Bibliothek durch Links im Oxford English Dictionary klickte. Als ich das Badezimmer betrat, war ich schockiert von der vergessenen Bräune meiner eigenen Gesichtszüge. Der Anblick ließ meinen Herzschlag in die Höhe schnellen.

Ich hatte keine Ahnung, was in vier oder fünf Jahren noch von den Dingen übrig bleiben würde, die ich über Geschichte und Wissenschaft und Literatur gelernt hatte. Wozu sollte ich irgendetwas wissen, »denken lernen«, wie meine amerikanischen Lehrer* innen es so gern formulierten, wenn es lediglich meine Geringschätzung für die geistig belanglosen Projektmanager* innen und stellvertretenden Abteilungsleiter* innen um mich herum steigerte? Ich hätte im Hauptfach lieber Microsoft Excel studieren sollen.

An den Tagen, an denen er mit mir zufrieden war, nannte Peter mich noch immer seinen Rockstar. Das hatte weniger mit Talent zu tun, als mit meiner Bereitschaft, als Erste zu kommen und als Letzte zu gehen, jede E-Mail innerhalb von fünf Minuten nach ihrem Empfang zu beantworten und wie ein beharrlicher Herzschlag immer wieder zu sagen: ja, ja, ja .

Zwei Arbeitsplätze weiter schickte Thom mir ein Foto, das er heimlich von mir gemacht hatte. Wie ich mit grimmigem Gesichtsausdruck, beinahe schielend, auf das leuchtende Rechteck vor mir starrte.

der süße cortisol-glanz des erwachsenenlebens, stand in der grünen (?) Blase unter dem Bild.

wenn du das ins internet stellst, bringe ich dich um, schrieb ich zurück.

komm her bruh, schrieb er, ich hab übermäßig viel rum in meinem schreibtisch.

Wir gossen die blasse, gewürzte Flüssigkeit in unsere Trinkflaschen und stießen mit ihnen an, ehe wir uns zurück an unsere Tabellen setzten. Er brachte mich nach Hause, und der Wagen fuhr leichte Schlangenlinien.

Ich unternahm Abendspaziergänge, meldete mich für einen Portugiesischkurs an, zu dem ich viermal ging, ehe ich es wieder aufgab. Ich begann in einem Notizbuch mit gelbem Lederumschlag Tagebuch zu führen, schrieb auf, was ich gegessen hatte, und beschrieb die kleinen Ereignisse jeden Tages. Die Arbeit schien es nicht wert zu sein, detailliert festgehalten zu werden. Mithilfe von YouTube lernte ich, wie ich mir die Bikinizone wachsen konnte. Ich topfte eine Vier-Dollar-Basilikumpflanze aus dem Baumarkt in eine Cento-Dose um, in der sich zuvor gehackte Tomaten befunden hatten, wo sie sogleich durch Überwässerung starb.

Ich meldete mich bei einer Online-Dating-Website an.

Diese waren damals noch recht neu, diese Benutzeroberflächen in hellen Farben und mit klarer Schrift, die signalisieren sollten, dass ihnen jegliches Verbotene fehlte. Dennoch war das Niederschreiben, das Auspacken meiner Wünsche, meiner mehr oder weniger profanen Vorlieben, für mich unvermeidlich mit Scham verbunden.

In Wahrheit war ich so einsam. Thom verbrachte seine Abende damit, mit seiner Freundin zu skypen, die in unserer Collegestadt zurückgeblieben war, oder große Mengen Bier im Y-Not II zu trinken. Wenn ich mit ihm mithalten wollte, würde ich bald nicht mehr in meine Bleistiftröcke und meine vorgeschriebene Strumpfhose passen, und wo kämen wir dann hin? Ich erstellte ein Profil und spürte eine matte Aufregung. Einen vagen Schmerz.

Weltreisende, schrieb ich und dachte an den regennassen orangefarbenen Fußweg zum Haus meiner Eltern in Übersee. An die zwei Nächte, die ich bei einem Zwischenstopp in Frankfurt verbracht hatte.

Stundenlang scrollte ich durch die verfügbare Auswahl, verschickte Nachrichten, bewertete Gesichter und Körper, versuchte aus einzelnen Textzeilen Persönlichkeiten abzuleiten, und dann.

Ich sah die Frau aus dem Baumarkt. Den zu ihr gehörenden Namen.

Marina, 27 .

Ich berührte den Bildschirm meines Laptops. Das Display kräuselte sich unter dem Druck.

Ein langes, zartes Gesicht. Grabsteinweiße Zähne. Irgendetwas Faszinierendes in ihrem Blick aus den blassgrün wirkenden Augen: Meerwasser, in dem Sand aufgewirbelt wird.

Sie war Tanzlehrerin und Choreografin. Sie las gern. Ihre Lieblingsbücher waren Weißer Oleander , das ich als Teenagerin gelesen hatte und liebte, und die gesammelten Gedichte von Rumi. Sie hatte nicht angegeben, auf welches College sie gegangen war. Unter »Suche nach« stand auf ihrem Profil: Casual Fun, Dating, eine Beziehung.

Der Bildschirm vor mir leuchtete in Blau-, Pink- und blassesten Grautönen. Ich war ungeduldig, wie leicht elektrisch aufgeladen, und ein wenig beschämt. Konzentriert biss ich mir auf die Lippe und klickte auf das Nachrichten-Symbol. Begann zu schreiben.