L1

Eines Samstags schrieb Isabel mir, sie hätte mich schon ewig nicht mehr gesehen und ob ich sie und Thom ins Allium begleiten wolle.

Isabel hatte Geschmack. Das unterschied sie von Thom. Das Allium war wie Europa in Milwaukee – innen klein und dunkel, jedes Detail sorgfältig ausgewählt, die Zutaten gut, ohne amerikanischen Exzess in den Portionen. Wir drei hockten auf gewärmten Sitzen, pfiffigen Bänken mit Kissen darauf über Lüftungsgittern. Wir bestellten teure Cocktails, die weiße Pizza, irgendetwas mit Pilzen und irgendetwas mit Würstchen und machten es uns bequem.

Was mich aufregte, war das Gespräch über Vermieter* innen.

Thom hatte über Engels gefaselt und war mit jedem weiteren belgischen Bier lauter geworden. Nun fing er davon an, dass er nicht viel von Obama hielt. Stellt euch Obamas Handeln mal bei einem weißen Typen vor, niemand wäre von ihm beeindruckt, spottete er, und Isabel nickte ernsthaft und folgsam.

Ich hatte den Eindruck, dass die meisten Menschen, einmal abgesehen von schicken Leuten mit Collegeabschluss, Obama weitaus mehr lieben würden, wenn er weiß wäre, und gerade, weil er es nicht war, erwartete man von ihm, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen. Aber im Grunde verfolgte ich die Politik kaum.

Irgendwie kamen wir von diesem Thema auf Amy. Ich war froh über die Gelegenheit, meinem Ärger Luft zu machen, aber Thom ließ es nicht zu. Vermieter sind der Abschaum der Erde, sagte er wieder und wieder. Wir müssten ihr Vermögen beschlagnahmen, sagte er, und an die Menschen verteilen. Für Wohnraum, sagte er, sollte man nur bezahlen, um ihn irgendwann zu besitzen, und er sollte nicht dafür da sein, dass reiche Menschen aus der Prekarität anderer Menschen eine Investition machten.

Ja, na gut, aber Amy ist Hausverwalterin , erklärte ich erneut durch zusammengebissene Zähne.

Hausverwalter sind Bullen. Die Polizei der herrschenden Klasse. Vermieter sind Teil der herrschenden Klasse.

Ich hatte den Eindruck, mein guter Freund Thomas verwandelte sich, während er im lähmenden Neonlicht der Konferenzzimmer unseres Kunden arbeitete, langsam in eine Form von zotteligem Radikalen. Was wahrscheinlich nicht weiter tragisch war, nur konnte ich ihm kaum noch folgen. Für mich waren Vermieter wie Ladenbesitzer. Sie verkauften etwas, was die Leute haben wollten. Und sosehr Amy auch ein Dämon aus der Hölle war, vermieteten selbst meine Eltern eine bescheidene Wohnung, die meine Mutter in einer nahe gelegenen Stadt geerbt hatte, und diese stellte aufgrund der Arbeitslosigkeit meines Vaters ihre Haupteinnahmequelle dar. Sie hatten es getan, weil das Geld hilfreich war, weil die Alternative gewesen wäre, die Immobilie leer stehen und verfallen oder – als er noch am Leben war – meinen feuchten Widerling von einem Onkel dort wohnen zu lassen, was am Ende auf dasselbe hinausgelaufen wäre.

Ich versuchte eine vorsichtige und vernünftige Version davon wiederzugeben.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich meine Eltern vor ihm erwähnte. Einst hatte Thom mich in irgendeiner College-Bar mit einem Baum in der Mitte träge und fröhlich gefragt, wo sie seien und was sie täten. Ich sagte, sie seien nach Indien zurückgekehrt, um sich um meine Großeltern zu kümmern. Dass mein Vater in den Staaten Buchhaltungs- und Geschäftskram gemacht habe, aber keine neue Stelle habe finden können. Meine Mutter sei Krankenschwester und arbeite in dem kleinen Krankenhaus in unserer Heimatstadt. Mein Gesichtsausdruck musste düster und besorgt gewirkt haben, denn als ich aufblickte, sah ich, dass Thom ihn aufmerksam beobachtete. Wie ein völliger Verrat wurden meine Augen feucht von Tränen.

Das war mittlerweile Jahre her. Wir hatten damals auf unsere Getränke gewartet. Als sie kamen – große Pint-Gläser mit Säulen aus aneinandergewachsenen Eiswürfeln, die noch immer vom energischen Umrühren kreisten –, legte Thom Bargeld für uns beide auf den Tresen, klopfte mir auf die Schulter und kehrte dann zurück zu seinen Jungs. Ließ mich allein.

Wenn deine Eltern Vermieter sind, dann sind deine Eltern Teil der herrschenden Klasse, wiederholte Thom nun, mit dem Eifer eines Pfingstkirchlers oder eines Mannes in safrangelbem Umhang mit öligen Zöpfen, der »Har Har Mahadeva« ruft.

Genauso wie Peter, fuhr er fort. Scheiße, Peter ist wahrscheinlich gleichzeitig Vermieter und Chef. Ich kenne diese Typen. Sammeln Gehaltsschecks ein, geben Gehaltsschecks raus.

In Isabels Gesicht flackerte kurz Unbehagen auf. Ihre Mutter war Ressortleiterin bei irgendeiner Firma in Minnesota. Sie erhob leise Einwände. Thom beharrte auf seinem Standpunkt.

Wenn die Revolution kommt, sagte er am Ende seines Monologs, werden all die Bullen und Vermieterinnen, all die Chefs und Kapitalisten gerade ihren Geschäften nachgehen. Sie werden telefonieren, in der Badewanne sitzen, auf einem Weingut irgendeinen teuren Tropfen schlürfen, in ihrem verdammten Heimkino eine gute Serie schauen. Ihnen wird gar nicht bewusst sein, wie groß das Pulverfass geworden ist. Sie werden keine Ahnung haben, bis der erste Ziegelstein durch das erste Fenster geworfen wird.

Und in diesem Augenblick, fügte er hinzu, wobei er die Stimme von großer Lautstärke zu einem Flüstern senkte, wird sich alles verändern.

Thom war verblasst. Seine Augen waren rot. So sprach er sonst nicht, so effekthascherisch Reden schwingend. Tief in meinem Inneren spürte ich, dass er intellektuell an diese Dinge glaubte oder gerade anfing, an sie zu glauben, dass aber die Wut nicht dem entstammte, was er beschrieb; sie entstieg der Erwartung eines Lebens, das viel besser war als sein jetziges.

Das Gesicht meiner Mutter tauchte verschwommen vor meinem inneren Auge auf. Genau wie die Augen meines Vaters: Groß und intelligent, zeigten sie sowohl Lachen als auch Furcht. Wie verängstigt sie geblickt hatten, als es an die Tür klopfte. Wie geschlagen meine Eltern klangen, wenn sie mich einmal in der Woche fragten, wie es mir gehe, bei einem verrauschten Reliance-Anruf über Ozeane hinweg. Das Prozedere einer Geldüberweisung, die ständige geistige Umrechnung von Dollars in Rupien. In einem Geschichtsseminar, das ich besucht hatte, in einem von Neonlicht durchfluteten Raum, der uns auf das Licht in unseren Bürozellen vorbereitete, hatte uns eine ergrauende Frau in einem Kimono-Mantel mit einer seltsamen Kleinmädchenstimme einen Vortrag über die chinesische Landreformbewegung gehalten. Während ich ihr lauschte, hatte ich an meinen Vater denken müssen, an das Klopfen an der Tür und das Blinklicht draußen. Mein Geist schwebte in eine Ecke des Raumes wie ein Ballon, den ein Kind losgelassen hat. Dort hatte er gewippt, mit einer Heliumleere, bis das Läuten der Pausenglocke ihn durchstach und das Ende der Vorlesung verkündete.

Ich war bereit zu glauben, dass Keith LaMarchese – Rolex gleich mehr Sex, damit die Ladys Bescheid wissen – ein seinen Verpflichtungen nachkommendes Mitglied der sogenannten herrschenden Klasse war. Aber auf einer zellulären Ebene war mir bewusst, dass mein Vater es nicht war. Und genauso wenig, so furchtbar sie auch sein mochte, war es Amy.

Ich glaube, ich habe dich noch nie gefragt, sagte ich, und meine Stimme klang für mich selbst erstickt und gespenstisch, was deine Mutter und dein Vater eigentlich tun, also, was sie arbeiten.

Thom wirkte zum ersten Mal unbehaglich. Er zuckte mit den Achseln. Sie arbeiten im Gesundheitswesen, erwiderte er.

Meine Mom arbeitet auch im Gesundheitswesen. Es gibt viele verschiedene Arten, im Gesundheitswesen zu arbeiten. Was genau tun sie?

Thom kaute heftig auf seinem Würstchen herum. Isabel sagte: Lasst uns das Thema wechseln, Leute, es ist Samstagabend –

Arbeiten sie bei einer Versicherung oder irgendetwas Ruchloses in der Art, was dir peinlich ist?, wollte ich wissen.

Scheiße, nein. Dann würde ich kein Wort mehr mit ihnen reden. Sie sind bloß einfach Ärzte.

Kardiologie und Allgemeinmedizin, fügte Isabel hilfsbereit hinzu.

Arzt und Ärztin, dachte ich. Mit einem amerikanischen Ärzt* innengehalt. Lebten in einem Vorort Milwaukees, während ihr Sohn wenige Meilen entfernt von einem maoistischen Aufstand träumte.

Meine weißen Freund* innen mit ihren weißen Gesichtern und ihren weißen Leben. Ihr Blick in meine Augen. Wie sie mir in ihrem politischen Raster einen Platz zuwiesen.

Ich konnte keine Sekunde länger im Allium bleiben und dieses Gespräch fortführen, sonst würde ich irgendjemandem einen Teller voller kleiner deutscher Würstchen auf dem Kopf zerschlagen.

Ich muss jemanden anrufen, dauert einen Moment. Hier ist Bargeld, falls sie schon mit der Rechnung kommen, sagte ich und zählte die Scheine ab. Meine Stimme war leer und nüchtern. Meine Finger zitterten vor Wut.

Mit ans Ohr gepresstem Telefon verließ ich das Restaurant. Isabel lachte bereits über irgendetwas und lehnte sich an die Schulter ihres Freundes. Thoms Blick folgte mir, bis ich um die Ecke war. Vielleicht stimmte es nach wie vor, dass wir uns tief in unserem Inneren ähnelten, dass wir die dunklen Umrisse voneinander verstanden.

Ich machte mich auf den Weg, und meine Stiefel rutschten auf dem schlecht gestreuten Gehweg. Ich schrieb ihm irgendetwas Oberflächliches.

Es war eine Art Test: Würde er bemerken, wie aufgebracht ich war? Und wenn ja, würde er mich anrufen oder kommen, um nach seiner guten Freundin zu schauen?

Wir würden es sehen, wir würden es sehen.

Wenn ich lange genug Richtung Westen lief, würde ich bis zu meiner Wohnung in der Vine Street gelangen. Eine gerade Linie, sagte ich zu mir selbst. Versuchte Ruhe in mir zu erzeugen. Ich konnte nach Hause gehen. Ich konnte allein sein.

Das, woran ich mich aus dieser Vorlesung über China unter Mao noch erinnerte, war, wie der größte Teil meiner Schulbildung, diffus geworden, ohne ganz zu verschwinden. Es hatte Versuche gegeben, durch Steuern und Umverteilung eine wachsende Gleichheit herzustellen, aber Mao glaubte daran, dass Kleinbäuer* innen, die sich direkt an der Machtübernahme beteiligten, der Revolution viel tiefer emotional verbunden wären. Lehrer* innen, Grundstücksbesitzer* innen, Intellektuelle: Sie wurden erschossen, zerstückelt, bei lebendigem Leib begraben. Die vormaligen Landbesitzer* innen zersetzten sich unter der Erde und düngten den Boden. Die Landreform erschuf tatsächlich mehr Gleichheit. Auf eine dramatische Weise. Und dann erzeugte sie im Laufe der nächsten Jahrzehnte eine massenhafte Hungersnot. An Ursache und Wirkung davon erinnerte ich mich nicht mehr.

Am deutlichsten hatte ich noch meine eigene Reaktion auf diese Vorlesung vor Augen, die Angst und das Unbehagen, die mir offenbarten, wo meine Loyalität lag und wie ich glaubte, dass Veränderungen vonstattengehen sollten: zivilisiert, inspirierend, mit Reden, ohne Blut. Womöglich mit einem Minimum an Fairness gegenüber jenen Menschen, die die grausame Maschinerie, die nun niedergeschlagen wurde, nicht erschaffen hatten, sondern bloß versuchten, für sich selbst zu sorgen und zu leben, die Waggons ihres Lebens auf den Gleisen zu fahren, die vor ihnen ausgelegt waren.

Die Nachtluft war so kalt. Ich blickte auf mein Telefon. Nichts von Thom.

Ich rief Amit an. Die Mailbox ging ran, aber er schrieb mir beinahe unmittelbar zurück: Alles in Ordnung?

Amit

Sicher?

Amit

Auf der Arbeit, noch so bis neun. Wir schauen uns Leute an, die sich als Entwickler* innen beworben haben, und spielen mit ihnen Tischfußball

Amit

Was ist los? Ist was mit deinen Eltern passiert?

Amit

O mist, dann komm nie nach san francisco. Was waren das denn für große theorien? Immigrationszeug? Die leute in wisco können echt ignorant sein

Amit

Du störst mich nicht, S. Tust du nie. Vielleicht können wir uns persönlich ausführlicher darüber unterhalten. Ich komme am 21 . Dez am MKE an. Würde dich gern sehen.

Amit

Ich wage mal einen Schuss ins Blaue. Wenn du den Leuten nichts über deine Familie erzählst, kannst du es ihnen nicht total verübeln, wenn sie es vermasseln und deine Gefühle verletzen

Ich hatte das Gefühl, eine der Lush-Badekugeln wäre mir im Hals stecken geblieben. Ich schob das Telefon zurück in meine Jackentasche und setzte die Kapuze auf. Mein Atem schwebte weiß in der dunklen Luft, umwehte mich beim Laufen.

Die Kälte nagte an mir. Ich hielt meinen Körper ganz steif und sagte zu mir: ein Schritt, dann noch einer, dann noch einer. Immer noch nichts von Thom. Ich sah auf meinem Telefon nach, wie viel ein Taxi kosten würden. Auf dem Weg von der Arbeit hatte ich aus dem Bus die Hauptzentrale von Yellow Cab gesehen.

Aber dann müsste ich warten, und ich war mir sicher, dass ich mich in einen Eiszapfen verwandeln würde, sobald ich aufhörte, mich zu bewegen. Ein Schritt, dann noch einer.

Nachdem ich eine halbe Stunde durch verlassene Straßen gelaufen war, erhielt ich einen Anruf von Tig.

Hello ’ello! Was geht bei dir?

Ihre leise klare Stimme, ganz fröhlich und gut gelaunt.

Ich, äh, ich laufe gerade, sagte ich mit belegter Stimme.

Oh! Irgendwohin Bestimmtes? Komme gerade von einem albernen Date auf der East Side und wollte wissen, ob du Lust hast, dich mit mir zu treffen.

Ich war gerade auf der East Side. In diesem Laden namens Allium. Ich, äh, bin jetzt fast zu Hause.

Waaas, Allium? Ich war nur zwei Straßen weiter.

O mein Gott.

Ja. Ist das nicht verrückt … Hey was ist los? Hey. Hey. Babe. Geht es dir gut? Wieso weinst du?

Ich schnäuzte mich schließlich in meinen Schal und antwortete Tig etwas wie: Mir geht’s gut. Wirklich, alles in Ordnung, Tig. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass du so nah bist. Ich hätte mich gern mit dir getroffen.

Warte mal, Süße, erwiderte Tig. Schick mir deinen Standort. Ich komme zu dir.

Benommen von dem Wein, den sie mitgebracht hatte, und von meinem eigenen Lachen, dem Lachen einer Person, die gerade erst aufgemuntert worden ist, erklärte ich Tig, sie könne bei mir übernachten. Ich machte ihr das Bett auf meinem Steppsofa, putzte mir die Zähne und legte mich schlafen.

Ich wurde davon geweckt, dass Tig hinter mir unter die Bettdecke kroch. Ihre Beine waren unrasiert, die Haare darauf bildeten einen gekräuselten Flaum.

Will nur schlafen, sagte sie. In deinem Wohnzimmer ist es eiskalt.

Oh, tut mir leid. Natürlich. Hast du genügend Platz?

Ja, alles klar.

Sie legte einen Arm um mich. Es fühlte sich sehr schön an. Ich meine, sein Gewicht. Tigs unglaublich weiche Haut.

In dem dunklen Zimmer, das Geräusch zweier atmender Menschen. Gelegentliches Knarren aus der Wohnung darunter. Im Mondschein klopften die Silhouetten der Bäume den Morsecode eines Gespensts an die Wand.

Tig, sagte ich, plötzlich mehr wach als schlafend. Tig.

Mmmm.

Bist du zu schläfrig zum Sprechen?

Mmm. Nja. Nein. Mm. Nein, ich kann reden, sagte sie. Ihr Atem so süß wie reife Früchte.

Ich weiß nicht, weshalb wir diese Worte flüsterten. Ich atmete tief durch und rückte dann damit heraus.

Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut, dir keine wichtige Sache über mich erzählt zu haben, als du danach gefragt hast. Ich möchte gern wissen, was du mir erzählen wolltest.

Okay?

Zwischen uns entstand ein Schweigen, das zu gleichen Teilen beruhigend wie angriffslustig war. Ich machte mich zum Reden bereit. Sah mich nicht dazu in der Lage. Über meinen Onkel zu sprechen und was er mir angetan hatte, darüber, wie meine Familie hierhergekommen war und wie sie wieder gehen musste, es erschien mir zu viel, als sollte ich auf einen Befehl hin meine eigenen Organe aushusten und sie blutig und schleimig auf einem Tisch ausbreiten.

Aber Tig wartete, und ich wusste, dass ein langes Schweigen ihr nichts ausmachte.

Ich konnte ihr zumindest einen Teil davon erzählen. Die Geschichte meiner Familie.

Ich kam mit meinen Eltern in die Vereinigten Staaten, als ich vierzehn Jahre alt war, sagte ich zu der Wand und in die Dunkelheit, meine Stimme so flach wie Papier. Wir zogen nach Aurora und blieben größtenteils unter uns. Außer ein paar Lehrerinnen schenkte mir in der Schule kaum jemand viel Aufmerksamkeit, aber ich dachte immer: Kein Problem, ihr amerikanischen Teenager* innen seid durchgeknallt, außerdem war meine Familie damals meine ganze Welt. Mein Vater hatte ein Visum, um für einen Elektronikkonzern zu arbeiten. Die Firma behandelte ihn beschissen, also, sie bezahlten ihn schlecht und wollten ihn schikanieren. Sie behandelten die wenigsten ihrer eingewanderten Angestellten gut. Das brauchen sie nicht, wenn sie deine Papiere kontrollieren. Mein Vater wollte sich das nicht gefallen lassen, sagte ich. Er ist nicht wie die meisten Menschen. Er … lässt sich nicht so leicht einschüchtern.

Ich legte eine Atempause ein. Tig rieb mir ganz sanft den Rücken. Ich starrte in die tiefe Dunkelheit und dachte darüber nach, wie ich die große Turbulenz eines Lebens in eine Geschichte verwandeln sollte. Fragte mich, wie viel davon ich laut aussprechen wollte.

Mein Vater hatte bei seinem alten Arbeitgeber gekündigt. Hatte mit einem Freund sein eigenes Geschäft gegründet und erfolgreich die Erneuerung seines Visums beantragt. Das war mir wie ein absolutes Wunder vorgekommen. Papa, der Unternehmer, wie die Firmengründer im Time Magazine . Wir zogen aus einer kleinen Wohnung in ein Haus mit zwei Schlafzimmern und Teppichen in Taupe. Wir gingen in eine Outlet-Mall in Illinois, wo ich mir in einem dunklen, nach Vanille riechenden Laden ein Poloshirt kaufte, auf dem Abercrombie & Fitch stand.

Papas Freund brachte zwei weitere Teilhaber mit, kleinere Investoren, aus denen drei zusätzliche Partner wurden. Meinen Vater schien das Arrangement immer stärker zu beunruhigen. Zu viele Köche, sagte er häufig zu Mummy und ignorierte mich, wenn ich ihn fragte, was er damit meinte. Erst später verstand ich einen großen Teil dessen, was geschehen war.

Ursprünglich hatte die Firma elektronische Geräte an Schulen und Universitäten verkauft, aber die neuen Partner hatten größere Pläne. Nun wollten sie auf Humanressourcen umstellen, was für sie bedeutete, ins Geschäft mit Visa-Anträgen einzusteigen. Offiziell hieß es, sie vernetzten Immigranten, die herkommen wollten, mit Arbeitsplätzen. Mein Vater wurde aus diesem Teil des Geschäfts herausgehalten, erklärte meine Mutter mir wieder und wieder, ihm wurde gesagt, er solle sich auf die Vorlesungsklicker und Taschenrechner konzentrieren.

Ich konnte Tig nicht alles erzählen – die Festnahmen, die Anklagepunkte, die Briefkastenfirmen, die die Unterlagen für ein H-1 B-Arbeitsvisum nach dem anderen einreichten und dafür das Geld von strebsamen Männern aus Haryana und UP und Punjab einsammelten. Die Partner meines Vaters behaupteten, er hätte von Anfang an gewusst, dass die Visa frisiert waren, er hätte sich um die Finanzen gekümmert, hätte die Firma gegründet, und all dies wäre sein Plan gewesen. Ich befand mich mitten in meinem ersten Semester an der Uni in Madison. Meine Eltern waren fest entschlossen, mich zu beschützen. Ihre größte Investition. Sie erzählten mir nur ganz wenig. Ich besuchte meinen Vater lediglich zweimal im Gefängnis. Eine Busfahrt, gefolgt von einer langen Autofahrt. Mehr erlaubte meine Mutter nicht. Konzentriere dich aufs Studium, Mol, sagte sie. Dafür haben wir dich hierhergebracht.

Die Begriffe aus dem Gerichtsverfahren, Visabetrug , Pay to Play , die Namen der Männer, denen sie die falschen Papiere gegeben hatten, all dies löste in mir eine allumfassende Scham aus, die kein Licht mehr durchdringen ließ. Ich weiß noch, wie ich am College einen Vorlesungsklicker in der Hand hielt und dabei das Gefühl hatte, in das geschmolzene Zentrum der Erde zu stürzen. Was ist los?, hatte Amit mich damals gefragt, worauf ich nur den Kopf schüttelte. Ich konnte es ihm erst nach vielen Monaten sagen.

Also berichtete ich Tig lediglich: Es gab Ärger mit den Partnern. Soll heißen, nicht alles, was sie taten, war legal. Mein Dad wurde wegen eines Teils davon beschuldigt. Und nach einer Weile beschloss er, dass er es leid war, dagegen anzukämpfen und die Anwaltskosten zu zahlen. Irgendwann hatten sie ihn gebrochen. Er bekannte sich schuldig, obwohl er es nicht war, tat, was er konnte, um eine kürzere Haftstrafe zu bekommen, saß eineinhalb Jahre ab und wurde dann abgeschoben. Oder schob sich selbst ab. Im Kern wäre er wahrscheinlich abgeschoben worden, aber vielleicht auch nicht, wenn er es angefochten, sich einen besseren Anwalt gesucht hätte. Aber er kämpfte nicht dagegen an.

Er hatte nicht, meine Eltern hatten nicht für mich gekämpft. Waren nicht für mich geblieben oder hatten versucht, mich mitzunehmen. Das sprach ich nicht laut aus.

Wie alt warst du da?, fragte Tig. Ihre Stimme war zum ersten Mal unsicher, schwankend.

Siebzehn, sagte ich.

Es fühlte sich an wie ein respektables Alter, um so etwas zu erleben. Ich war alt genug gewesen, um weiterzuleben, zu studieren und bestimmte Teile meiner selbst in eine Kiste zu packen und hoch oben auf einem Regal zu verstauen.

Tig schlang die Arme um mich und zog mich näher an ihren Körper heran.

Mein Baby. Das tut mir so leid. Das tut mir so leid.

Ach, ist schon in Ordnung, sagte ich dümmlich.

Es tut mir leid, dass ich unserer Freundschaft ein Ultimatum gesetzt habe, sagte Tig. Ich hätte dich nicht zwingen sollen, es mir zu erzählen, wie als Gegenleistung.

Ich wollte es dir erzählen, entgegnete ich. Ich wusste nicht, ob das stimmte, aber ich sagte es. Und auf einmal sehnte ich mich dringend danach zu schlafen.

Was ich dir an dem Abend erzählen wollte, als du mich fragtest, ob ich ein Aufbaustudium mache – was sich für mich angefühlt hat wie: Warum bist du immer noch im Bachelorstudium? –, das war …

Sie verstummte, und ich ergriff ihre Hand.

Ich weiß nicht, ob dir schon aufgefallen ist, dass ich nie über meinen Vater rede, setzte sie erneut an.

Ich fand es extrem schmerzhaft zu hören, was sie als Nächstes sagte, und ich muss voller Scham gestehen, dass meine Gedanken abschweiften und ich versuchte, lediglich aufmerksam genug zu sein, um das Gespräch hinter mich zu bekommen.

In jener Nacht fiel mir das Schlafen schwer. Ich fühlte mich zugleich entblößt und mit Informationen belastet. Kurz vor vier Uhr morgens stand ich auf. Ich kletterte vorsichtig um Tig herum, die mit über dem Kopf ausgestreckten Armen schlief wie ein großes süßes Baby. Ich hatte einen Kater von dem dunklen billigen Wein. Aus dem Nichts tauchte eine Erinnerung auf, an einen wiederkehrenden Albtraum, den ich als kleines Kind hatte. In dem Traum fiel die Erde auseinander. Der Planet zerbrach, spaltete sich in Asteroiden auf. Die ganze Welt ging unter. In dem Traum rannte ich mit in meiner Panik dumpf auf dem Boden aufschlagenden Sandalen und suchte überall nach meinen Eltern. In dem Augenblick, in dem ich sie gefunden hatte, wurde ich ins Weltall katapultiert, trieb allein davon, und die Menschen, die ich liebte, waren für mich verloren.

Ich kochte mir einen Tee, schaltete eine Lampe an und versuchte zu lesen. Meine hübsche kleine Wohnung legte sich um mich wie eine Umarmung. Der Spiegel mit Goldrand. Das Steppsofa. Ein Juteteppich mit langen Quasten. Auf meinem Beistelltisch das grüne Schimmern einer Flasche Tanqueray, eine Vase mit vertrockneten Blumen. Aus Segeltuchstoff aus dem Baumarkt hatte ich blasse Vorhänge genäht. Wenn ich all dies im gedämpften Lampenschein betrachtete, war es möglich, mir vorzustellen, dass die Vergangenheit unwichtig war, dass sie reglos hinter mir lag.

Ein Gegenargument dazu: Tigs Stimme in meinem Kopf, die die gedruckten Sätze vor mir übertönte.

Ich war also die Person, die meinen Dad fand, nachdem er sich umgebracht hatte, sagte diese Stimme.

Ein Satz wie eine Pistole. Er machte mich taub.

Er hatte Zeug im ganzen Gesicht, und ich habe es weggewischt. Weißt du, mir geht’s gut, Babe, mach dir bitte keine Sorgen. Ich war ein Kind, und Kinder sind ungeheuer resilient. Als ich in Florida war, habe ich an einem Programm teilgenommen und war vier Monate lang in Therapie, bei einer Schwarzen Taíno-Frau, das hat alles verändert. Ich habe ein großartiges Leben, voller Abenteuer und Freundinnen wie dir. Mach dir keinen Kopf – mir geht’s gut, alles in Ordnung, mein Leben ist wirklich wahnsinnig gut.

Mein Dad war der liebenswürdigste Mann, hatte sie gesagt. Er und meine Mom passten nicht zueinander, aber sie gingen stets respektvoll miteinander um, und er liebte mich. Rion wollte, dass ich aufs College gehe und Ärztin oder Wissenschaftlerin oder Forscherin werde. Als ich klein war, bin ich auf beschissene Schulen gegangen, und als er dann starb und ich auf die Rufus King kam, war es bereits zu spät. Damals redete man noch nicht so über Lernschwächen wie heute.

Was hatte sie damit gemeint? Das erste Bild war zu schmerzhaft gewesen, eine Elfjährige, die ein Zimmer betritt und ihren Vater findet. Ihm das tote Gesicht abwischt. Was für eine Substanz war darüber verteilt gewesen? War sie flüssig oder fest? Was geschah mit einem Körper, wenn er sein eigenes Leben auslöschte?

Alles, was nach diesem Geständnis kam, war für mich von dichtem Nebel umgeben, auch wenn ich wie auf Autopilot versucht hatte, die richtigen Dinge zu sagen. Die richtigen Dinge gesagt hatte.

Tig war fortgefahren: Ich hatte mich schon immer falsch gefühlt, nur auf unterschiedliche Weisen: Ich mochte Mädchen, ich konnte bestimmte Dinge in der Schule nicht. Damals verstand man Lernschwächen noch nicht so wie heute, hatte sie wiederholt, ehe sie mit leicht manisch klingender Stimme zu plappern begann, über ihre Arbeit bei Disney, den Besuch eines Community College, wie sie sich alle Bücher, wenn möglich, auf CD s oder MP 3 s besorgte, aber es war nicht genug.

Es war nicht genug, was bedeutete das?

Sie versuchte es weiter, versuchte aufs College zu gehen, versuchte den Vater zu ehren, der an ihre Intelligenz geglaubt hatte, der gesagt hatte: Als Schwarzes Mädchen musst du zweimal so schlau wirken, zweimal so hart arbeiten, der sich vorgestellt hatte, wie sie sogar noch mehr schaffte als einen gewöhnlichen Bachelor-Abschluss. Er hatte große Träume für sie gehabt. Auf eine Weise, wie es Tigs Mutter, eine blasse Frau mit leiser Stimme, die zwischen einer Reihe von Religionen wechselte und ihre Kinder mit einer ruhigen und stummen Passivität behandelte, nicht hatte.

Heute ist alles viel besser, hatte Tig geschlossen. Ich habe den Förderkram hinter mich gebracht, ehe ich vor zwei Jahren auf dem Alverno anfing. Trotzdem ist es manchmal immer noch schwierig, und ich ziehe Audio geschriebenen Texten auf jeden Fall vor, und ich brauche lang.

Wozu brauchte sie lang?

Und dann starrte mich aus dem, was ich in meinen eigenen Händen hielt, die Antwort an.

Alles ergab nun Sinn: dass Tig niemals Speisekarten las, dass auf dem Display von Tigs Telefon die größte Schriftgröße eingestellt war, die Art und Weise, wie Tig stumm die Wörter mit dem Mund formte, wenn sie Parkschilder las. Es machte mich fertig. Ich kannte Antigone nun, auf eine Weise, wie ich Thom oder Amit im Grunde niemals gekannt hatte.

Ich rieb mir die Augen, die sehr müde waren, auch wenn mein Geist es nicht war. Mein Tagebuch würde bis morgen warten müssen. Für den Augenblick würde ich mein Kapitel beenden. In dem Buch in meinen Händen ging es um Routinearbeiten und Bedeutung. Sehr zeitgemäß, hatte ich gedacht, als ich es im Antiquariat auf der Brady Street entdeckte. Die Autorin wartete vor Fabriken und Büros und führte Gespräche mit Arbeiter* innen.

An einer Stelle fragt sie eine Angestellte einer Fabrik für Fischkonserven, ob sie sich mit den anderen Frauen am Band angefreundet habe, ihnen nahestehe oder überhaupt mit ihnen spreche. Eigentlich nicht, antwortet die Frau. Der Freund der Frau wartet in der Nähe, um sie abzuholen.

Was machen Sie dann den ganzen Tag?

Ich tagträume.

Wovon tagträumen Sie?, hakt die Autorin nach.

Von Sex.

Das ist wahrscheinlich meine Schuld, entschuldigt sich der Freund stolz.

Nein, nicht deinetwegen, widerspricht die Frau. Es sind die Thunfische.