V1

In einer Wolke aus Bosheit reparierte Amy zwei Tage später das Gas – es war die Zündflamme. Meine Wohnung wurde wieder bewohnbar, zumindest was die Temperatur anging. Als ich sie betrat, musste ich allerdings beinahe würgen. Ich schloss rasch den verlassenen Kühlschrank voller Gemüse, das sich bereits auflöste, und Eintöpfen, die mit blassen Schimmelkreisen überzogen waren. Tig sagte, ihre Interaktion mit Amy habe ihr alles darüber mitgeteilt, weshalb diese mir gegenüber so fies gewesen war.

Diese Frau ist Ray Cyst  – eine Rassistin. Das ist zumindest einer der Gründe dafür, dass sie dich so behandelt hat, erklärte Tig. Davon abgesehen, will sie wahrscheinlich einfach niemanden über sich wohnen haben, der jung und hübsch ist und Freundinnen hat, weil sie sich selbst dann hässlich vorkommt. In ihrer Idealvorstellung würde überhaupt niemand über ihr wohnen, bloß kann sie das nicht entscheiden, weil sie nicht die Vermieterin ist – noch nicht –, aber im besten Fall wärst du eine kleine hilflose Frau mit schneeweißen Löckchen, die Angst vor ihr hat.

Ich dachte über einen Umzug nach. Aber wann immer ich es tat, fühlte es sich an, als hätte ein Tempelelefant auf meiner Brust Platz genommen. Meine Ersparnisse zu haben, die Sicherheit, mich um meine Eltern zu kümmern, manchmal die Rechnung für meine Freund* innen übernehmen zu können – das erschien mir wichtig. Ich forschte nach, weshalb Peter angeboten hatte, meine Miete zu bezahlen, und machte dabei zwei Entdeckungen. Die eine war, dass Stacy, meine tatsächliche Vermieterin, die Frau eines örtlichen Multimillionärs war, ein Mann, der in einer Online-Zeitschrift als eine von Milwaukees einflussreichsten Persönlichkeiten bezeichnet wurde. Mit Stacy und dem Ehemann verband Peter eine Freundschaft, die er zu kultivieren schien – auf seinem Social-Media-Profil fand ich Bilder von ihren beiden Familien beim Skifahren in Vail, unter denen Peter kommentiert hatte: Nächstes Jahr müsst ihr mit uns nach Chile kommen!

Die andere Entdeckung war, als ich seine Firma nachschlug und feststellte, dass ich dort als Angestellte und nicht als Vertragsarbeiterin aufgeführt war, dass Peter sein Geschäft in Wisconsin angemeldet hatte, statt in seinem Heimatstaat, und, am bemerkenswertesten, dass er es auf meine Adresse in Milwaukee angemeldet hatte.

Das ist wahrscheinlich nichts total Ruchloses, sagte Amit, als ich ihn anrief, um ihm davon zu erzählen. Eher bloß ein bisschen ärgerlich, oder? Möglicherweise will er sich bei Stacy und ihrem Ehemann anbiedern, um bessere Verbindungen zu potenziellen Kunden in Wisconsin zu bekommen. Außerdem zahlt er weniger Steuern, wenn das Geschäft dort angemeldet ist. Geschäftsmänner bleiben halt Geschäftsmänner, nehme ich an. Tut mir leid, ich muss los. Hab heute ein Meeting nach dem anderen.

Stundenlang putzte ich die Wohnung. Ich hatte einen Plan. Ich hatte zu viel Zeit damit verbracht, mir wegen der Spannungen zwischen Thom und mir den Kopf zu zerbrechen – das Hin und Her, mich einmal selbst davon überzeugend, dass ich falschlag, und dann wieder, dass ich recht hatte; wie ein verunsichertes Metronom. In diesem Augenblick wurde mir eine Sache bewusst: Es war dumm von mir gewesen, nicht von Anfang an zu erkennen, dass wir auf derselben Seite stehen sollten. Dass wir gemeinsame Interessen hatten. Nichts anderes erschien mir besonders streitwürdig.

Hey, sagte er, als ich die Tür aufmachte, zwei Flaschen Schlitz in seiner rechten Hand.

Stell die in den Kühlschrank, trug ich ihm auf, die einnehmende Gastgeberin spielend. Ich mache uns richtige Drinks.

Wir redeten über Tig, Isabel, die Aussicht auf seine irgendwann bevorstehende Ehe, dass ihm die Idee gefiel, auf altmodische Weise in einer Gemeinschaft zusammenzuleben, in einem großen Familienhaus. Wir trafen Vorhersagen bezüglich der Ehe für alle. Thom rechnete mit zehn Jahren. Ich machte mich darüber lustig. Ein solcher Umschwung, bei dem die Leute beschlossen, eine ganze uralte Institution könne sich einfach so verändern, der würde, sagte ich, mindestens ein halbes Jahrhundert brauchen. Nach unserer zweiten Runde – ich hatte Limettensaft über einen doppelten Gin gegossen und das Ganze mit Kokosnusscreme und Walnussbitter durchgeschüttelt – entschied ich, ich könne nun gefahrlos die Arbeit ansprechen. Wir öffneten unsere Biere.

Lass mich ganz von vorn beginnen, sagte ich und erzählte Thom alles. Von dem ersten Angebot an, das ich von Peter bekommen hatte.

Du solltest mit ihm um mehr verhandeln, sagte ich. Die Miete hier beträgt fünfhundert, also, ja, die könntest du auch mit einrechnen.

Tut mir leid, wie ich mich verhalten habe, fügte ich hinzu. Ich wusste nicht so genau, was legal ist und was nicht. Aber bitte sei vorsichtig, wenn du mit Peter darüber redest. Es ist wirklich verdammt stressig, als Immigrantin ohne Aufenthaltserlaubnis zu arbeiten, weißt du? Es fühlt sich an, als könnte jeden Augenblick der Boden unter einem zusammenbrechen …

Ja, Dude, sagte Thom schließlich, nach langem Schweigen. Das versteh ich echt. Ich bin nicht immer der Beste, das geb ich zu. Also, wenn es darum geht, mir vorzustellen, wie es in deinem Kopf aussieht.

Wenn ich sehr betrunken bin, ist es am wahrscheinlichsten, dass ich vergesse, die Trennung zwischen dem, was ich erzähle, und dem, was ich nicht erzählen will, aufrechtzuerhalten, dass ich vergesse zu lügen. Nachdem wir eine kleine Flasche Jim Beam nahezu geleert hatten, erzählte ich Thom, auch wenn ich es zuvor nicht geplant hatte, von meinem Vater. Was auf dem College geschehen war. Von der Busfahrt hinaus aus Madison. Von den Vorlesungsklickern.

Er hörte mir still zu. Hörte mir wirklich zu. Am Ende meines Monologs stand er von meinem Steppsofa auf und kam zu mir herüber.

Er hob einen Arm, Whiskey in seinem Atem. Ich zuckte zusammen.

Er zog mich an sich, hielt mich fest. Es tut mir so leid, mein Dude, sagte er. Ich wünschte, ich hätte es gewusst. Das ist verrückt.

In meinem Inneren spürte ich einen heißen Schwall, der Tränen signalisierte, aber meine Augen blieben trocken.

In meinem Standspiegel mit dem Goldrand konnte ich uns beide sehen. Zwei Freund* innen in dicken Pullis und salzverkrusteten Stiefeln. Zwei Freund* innen, die sich aneinanderbanden und für etwas entschieden, das mir ungemein rar vorkam: zu vertrauen und zu vergeben.

Tig und ich wurden wieder nahezu unzertrennlich. Wir gingen am Fluss mit seiner Oberfläche aus Frappuccino-Eis spazieren, während unsere Wangen pink anliefen und aufsprangen, und lachten dabei über die Dinge, die wir lustig fanden. Tig hatte erneut kaum noch Geld für die Miete übrig, nachdem sie ihrer Schwester etwas für die Reparatur ihres Wagens gegeben hatte. Sie fuhr mich, um Geschenke für meine Reise zu meiner Familie zu besorgen. Sie hatten um Kleenex und Lotion gebeten, Hellmann’s-Mayonnaise und Johnnie Walker. Godiva-Schokolade und Gummiunterlagen.

Als ich vor drei Jahren für meine Zahn-OP nach Hause geflogen war, hatte mein Onkel fröhlich Kölnischwasser angefordert. Als ich am Kosmetiktresen von JCP enney vorbeikam, erinnerte ich mich an meine ausdruckslose Weigerung und spürte ein asthmatisches Verengen meiner Lungen. Am Rand meines Blickfelds versprühte Tig einen Aerosol-Nimbus aus einer dunklen Glasflasche. Schritt durch die Duftwolke wie eine Kaiserin. Ich lachte über sie, und meine Nasenlöcher füllten sich mit Holz und Moschus. Die Faust in meiner Brust lockerte sich.

Taco Tuesdays wurden wieder aufgenommen, diesmal gemeinsam mit Diana. Diana brachte mir bei, eine Kaugummiblase zu machen, während wir im BelAir darauf warteten, einen Platz zu bekommen. Sie sagte die seltsamsten Dinge und verzog dabei keine Miene. Meine gesamte Familie schlief nackt in einem Bett, alle sechs, erzählte sie mir in einem weichen, verträumten Tonfall. Das ist meine liebste Kindheitserinnerung, fügte sie hinzu.

Aus kleinen Anspielungen, die sie fallen ließen und die ich ignorierte, hörte ich heraus, dass Tig und Diana ebenfalls daran interessiert sein mochten, nackt in einem Bett zu schlafen, und zwar gemeinsam mit mir. In mir sträubte sich etwas bei der Vorstellung. Ich wusste nicht, wie ich meine Liebe zu Tig, die leuchtende Anerkennung und Dankbarkeit, die ich für sie empfand, mit dem ehrlichen Schleim des Verlangens in Einklang bringen sollte. Ich hatte Angst, diese beiden Frauen könnten etwas Hässliches in mir zum Vorschein holen. Als ihre Freundin war ich mein besseres Ich: trocken und lachend, kratzbürstig, aber freundlich, während ich versuchte, die Welt wie eine Orange zu schälen und Stück für Stück zu essen. Dabei wollte ich es belassen.

Also winkte ich ihnen stattdessen nach selbst gekochten Abendessen und Malabenden bei Diana zum Abschied, um mich mit Frauen von den Apps zu treffen. Pulp Fiction schrieb mir eine Textnachricht, ihr Auto sei im Schnee stecken geblieben. Ich lief dreißig Minuten, half ihr, es auszugraben, und ging dann mit ihr ins Bett. Drückte ihr Gesicht in das Kissen mit dem Target-Muster, ließ sie gerade lange genug zappeln. Wann immer eine Erinnerung an Marina aufkam, schob ich sie zurück in das dunkle, zerstampfte Eis meiner am tiefsten vergrabenen Gedanken.

Manchmal schrieb sie mir. Bin gerade am Wicked Hop vorbeigekommen und musste an dich denken, stand in einer Nachricht, dazu mit gequälter Förmlichkeit: Hoffe, es geht dir gut!

Ein anderes Mal: gelangweilt beim weinabend mit den tanzmädels. treffen wir uns auf der toilette?

Ich beantwortete diese Nachrichten in einem sorgfältig kalibrierten Flirttonfall. Übermittelte Zuneigung. Versprach jedoch nichts.

Glaubst du, du hast es mit Marina absichtlich versaut?, fragte Thom mich im Pausenraum, während wir zusahen, wie unser Essen sich langsam in der Mikrowelle drehte. Weil du dich nicht vor deinen Eltern outen willst?

Ich starrte ihn finster an. Ich hatte nicht um diese Zwei-Paisa-Psychoanalyse gebeten. Bei der Arbeit waren wir nun unterschiedlichen Projekten zugeteilt, Thom war bei Susan und dem Inbox-Changemanagement verblieben, während ich versetzt worden war, um eine Reihe von Trainingsmodulen und Workflows zu erstellen, und nur gelegentlich in das Projekt Inbox-Wechsel zurückgerufen wurde. Das bedeutete, dass wir uns viel seltener sahen. Dennoch wartete er meistens im Parkhaus auf mich, wenn ich lange arbeitete, und fuhr uns dann beide nach Hause. Er hatte mit Peter eine Gehaltserhöhung von fünf Dollar ausgehandelt, ohne mich zu erwähnen. Er wollte genug Geld für eine Anzahlung auf ein Haus in drei Jahren sparen, was seiner Aussage nach etwa der Zeitpunkt war, zu dem er Isabel heiraten wollte.

Bei diesem Gedanken bekam ich Bauchschmerzen. Ich stellte es mir vor: wie meine Freund* innen – eine nach dem anderen – ausscherten, um sich ernsthaft zu verlieben, Häuser mit drei Schlafzimmern in entfernten Vororten zu kaufen und zu beschäftigt zum Telefonieren zu sein. Während ich, entweder allein oder in einer erstickenden Ehe mit einem dafür bezahlten Ehemann, in der Dunkelheit von einem Bett zum anderen kriechen würde wie eine Kakerlake.

So tiefgründig ist es nicht, war alles, was ich zu Thom sagte, wobei ich ihn unter dem Kinn tätschelte, wie Tig es vielleicht getan hätte, ehe ich davonlief.